Vendrell Ferran, Íngrid: Die Vielfalt der Erkenntnis. Eine Analyse des kognitiven Werts der Literatur. Paderborn: mentis Verlag 2018. 337 Seiten. [ISBN 978-3-95743-116-5]

Rezensiert von Christiana Werner (Georg-August-Universität Göttingen)

Fiktionale Literatur gilt als ein besonders schätzenswertes Kulturgut. Warum erachten wir aber die Beschäftigung mit Literatur als wertvoll? Íngrid Vendrell Ferran argumentiert in ihrem vorliegenden Buch für den epistemischen Wert der Literatur. Ihre Hauptthese ist, dass wir nicht nur (fiktionale) Literatur lesen, um uns zu amüsieren oder uns abzulenken, sondern auch, um etwas zu lernen. Wie kann es aber sein, dass wir Wissen erlangen, indem wir etwas lesen, das bloß erfunden ist? Um diese zentrale Frage zu beantworten, klärt die Autorin nach einer Einleitung in Kapitel 2 zunächst die für ihr Thema grundlegenden terminologischen Fragen. Nachdem sie sich in Kapitel 3 mit skeptischen Einwänden gegen ihre positive These vom epistemischen Wert fiktionaler Literatur auseinandersetzt, behandelt sie in den Kapiteln 4 bis 8 verschiedene Weisen, wie fiktionale Literatur epistemisch wertvoll sein kann. Neben propositionalem Wissen, worunter sie wahre und gerechtfertigte (propositionale) Überzeugungen versteht, spricht sie sich auch für andere Formen des Wissens aus: Sie unterscheidet „subjektives perspektivisches Wissen“, „Wissen-wie-es-sich-anfühlt oder „Wissen-wie-es-wäre“, „empathisches Wissen“ und „‚intuitives moralisches Wissen‘ oder ‚Wertsichtigkeit‘“.

Im Kapitel „Wahrheit und propositionales Wissen in der Literatur“ setzt sich die Autorin eingehend mit der Frage auseinander, welche Rolle Wahrheit im Zusammenhang mit fiktionaler Literatur und ihrem vermeintlich epistemischen Wert spielt. Um für die These zu argumentieren, dass fiktionale Literatur propositionales Wissen über die (reale) Welt vermitteln kann, muss auf die Vorarbeiten des zweiten Kapitels zurückgegriffen werden, insbesondere auf die Klärung der Frage, wann ein Werk fiktional ist und was unter Fiktionalität zu verstehen ist. Eine Strategie, die hier verfolgt wird, basiert auf der kompositionalistischen These, dass fiktionale literarische Werke nicht nur aus fiktionalen, sondern auch aus nicht-fiktionalen Äußerungen bestehen können. Die nicht-fiktionalen Äußerungen können wie Zeugnisse betrachtet werden und daher Quelle von Wissen über die Welt sein, so die Idee. Wenn es zutrifft, dass in fiktionalen Werken auch nicht-fiktionale Äußerungen vorkommen, dann ist es eine wenig überraschende These, dass wir von diesen nicht-fiktionalen Äußerungen etwas lernen können, allerdings lernen wir dann genau genommen nicht von der Fiktion.

Eine kompositionalistische Theorie fiktionaler Werke sieht sich aber mindestens zwei Einwänden ausgesetzt: Erstens wird Fiktionalität nur als Eigenschaft von Äußerungen dargestellt. Was macht aber ein gesamtes Werk zu einem fiktionalen, wenn es sowohl fiktionale wie nicht-fiktionale Äußerungen enthalten kann? Einerseits sollen fiktionale Werke nicht-fiktionale Äußerungen enthalten können. Andererseits gibt es offensichtlich auch Texte, die als nicht-fiktionale Texte angesehen werden, aber fiktionale Äußerungen enthalten. Es kann daher nicht sein, dass das bloße Vorhandensein einer fiktionalen Äußerung ein Werk zu einem fiktionalen Werk macht. Es scheint aber auch nicht so zu sein, dass Fiktionalität quantitativ zu bestimmen wäre; zumindest entspricht das nicht unserer Praxis des Umgangs mit literarischen Werken, die durch einen Ansatz wie den von Vendrell Ferran eingefangen werden soll.

Ein zweites Problem entsteht im Zusammenhang mit der von der Autorin gegebenen Bestimmung von Fiktionalität (45ff). Denn wir müssen annehmen, (1) dass sich die Institution „Fiktion“ samt der sie bestimmenden Regeln von der Institution des Behauptens unterscheidet, (2) dass sich die Absicht, etwas fiktional zu erzählen, von der Absicht, etwas nicht-fiktional zu erzählen, unterscheidet und schließlich, (3) dass sich die Rezeptions- und Erwartungshaltung der Leserinnen fiktionaler Literatur von der nicht-fiktionaler Literatur unterscheidet. Neben der kompositionalistischen These nimmt Vendrell Ferran an, dass eine einzelne Äußerung sowohl fiktional als auch nicht-fiktional, d.h. behauptend, sein kann. Könnte es aber sein, dass sich die Charakterisierungen von fiktionaler und behauptender Rede jeweils ausschließen? Können wir als Leserinnen gleichzeitig in Bezug auf einen Satz eines Textes den Gehalt des Satzes hinnehmen, ohne an die Wahrheit dessen zu glauben, und gleichzeitig den Gehalt für wahrhalten, also glauben? Diese Frage stellt sich auf der Ebene der einzelnen Äußerung sowie auf der Ebene des gesamten Werks. Sind die Beschreibungen fiktionaler Äußerungen und behauptender Rede so, dass sie einander ausschließen, dann müssen entweder die Beschreibungen revidiert werden, oder es muss akzeptiert werden, dass mit einem Äußerungstoken nicht sowohl fiktional erzählt als auch behauptet werden kann. Wenn das aber möglich wäre, stellt sich die Frage, ob es tatsächlich zutrifft, dass nicht-fiktionale Äußerungen in einem fiktionalen Werk einen „behauptenden Charakter“ (76) haben. Um diese Frage beantworten zu können, ist es allerdings wichtig zu berücksichtigen, dass wir auch mit den vermeidlich beschreibenden Passagen in literarischen Werken anders umgehen als mit behauptender Rede, die in einem nicht-fiktionalen Kontext stattfindet. Dieser unterschiedliche Umgang mit Texten muss ganz besonders dann berücksichtigt werden, wenn eine institutionelle Theorie der Fiktion vertreten wird, die auch der Erwartungs- und Rezeptionshaltung großes Gewicht beimisst. Wenn wir von vermeintlich behauptenden Passagen Wissen erwerben können sollen, dann müssten diese Passagen eine zuverlässige Quelle sein und sollten dafür gehalten werden. Es sind aber gerade die strengen Spielregeln des Behauptens, die für Verlässlichkeit sorgen. Wenn die Regeln gelockert sind, dann sind Äußerungen, für die diese Regeln gelockert sind oder gar nicht gelten, nicht oder viel weniger zuverlässig. Außerdem erachten wir sie als Leserinnen auch als weniger zuverlässig. Das zeigt sich nicht nur an der ausbleibenden Kritik, falls Äußerungen in einem fiktionalen Text nicht der Wahrheit entsprechen. Auch unser Umgang und unsere Erwartungen an den fiktionalen Text unterscheiden sich von unserem Umgang mit faktualen Texten: Wir würden uns auf eine Geschichtsprüfung in der Schule nicht vorbereiten, indem wir einen historischen Roman lesen oder ähnliches. Das hat Auswirkungen auf die Frage, ob es tatsächlich Wissen ist, dass wir durch solche Aussagen erwerben. Es kann sein, dass eine Überzeugung, die auf der Grundlage solcher Äußerungen erworben wurde, wahr ist. Doch wenn Wissen als wahre und gerechtfertigte Meinung verstanden wird, dann müssen wir uns nicht nur fragen, ob die Meinung wahr, sondern auch, ob sie gerechtfertigt ist. Wenn die betreffenden Aussagen innerhalb des fiktionalen Textes aber aufgrund der gelockerten Regeln nicht zuverlässig sind, und wir als Leserinnen darum wissen, dann können wir uns nicht auf sie als Quelle berufen bzw. tun es nicht so, wie es bei einem faktualen Text möglich wäre. Es scheint daher auch nicht gerechtfertigt, eine Überzeugung aufgrund einer solchen Äußerung auszubilden. Die erworbene Überzeugung würde damit die zweite Bedingung für Wissen nicht erfüllen und Wissen wäre daher auf dieser Basis nicht zu erlangen.

Vendrell Ferran argumentiert aber, dass der epistemische Wert der Literatur nicht nur in der Vermittlung wahrer – sei es in Form expliziter oder implizit durch Interpretation gewonnener – Aussagen besteht. Ihr „Modell des propositionalistischen Spektrums“ beinhaltet die These, dass Wissen im Sinne von wahrer und gerechtfertigter Meinung durch fiktionale Literatur gewonnen werden kann. Viel häufiger vermittelt fiktionale Literatur aber „Hypothesen, deren Wahrheit dahin gestellt bleibt, allgemeine Ansichten, die sich um eine These herum artikulieren, oder Themen, die einfach zur Sprache kommen, ohne, dass eine bestimmte Position bezogen wird“ (151). Sie nimmt weiter zu Recht an, dass wir als Leserinnen auch dadurch einen Erkenntnisfortschritt erlangen können, dass wir diese nicht wahren Hypothesen, Ansichten usw. vermittelt bekommen. Vendrell Ferran trifft hier einen Nerv aktueller Debatten in der Erkenntnistheorie. Während diese über Jahrzehnte nahezu ausschließlich Wissen zum Gegenstand hatten, hat sich seit relativ kurzer Zeit ein Interesse an anderen Phänomenen herauskristallisiert, wie etwa vorrangig dem Verstehen. In der aktuellen Verstehensdebatte wird unter anderem diskutiert, ob Wissen notwendig für Verstehen ist oder ob nicht auch Überzeugungen, die zwar streng genommen falsch, aber doch in relevanter Weise nahe genug an der Wahrheit sind, zum Verstehen eines Gegenstands beitragen können (Elgin 2007, De Regt 2015, De Regt/Gijbers 2016). Der Literaturliste ihres Buches ist es anzusehen, dass Vendrell Ferran mit diesen Debatten vertraut ist und einige Bemerkungen dazu finden sich insbesondere zu Beginn der Arbeit. Die Verbindungen ihres Themas zu diesen Debatten detaillierter herauszuarbeiten und die Bedeutung ihrer Überlegungen darin zu positionieren, hätte den Wert ihrer Arbeit weiter gesteigert und der Leserin geholfen, die zentralen Fragen der Arbeit in einem größeren Forschungsumfeld zu positionieren.

Das fünfte Kapitel „Subjektive Perspektiven, Interpretation und Weltbezug“ soll zeigen, dass subjektive Perspektiven, die durch Literatur vermittelt werden, einen epistemischen Wert haben. Die Hauptthesen, für die in diesem Kapitel argumentiert wird, sind: (1) dass eine subjektive Perspektive von großer epistemischer Relevanz ist; (2) dass fiktionale Literatur solche Perspektiven gut vermittelt und schließlich (3) dass Leserinnen, indem sie (hauptsächlich durch interpretative Leistungen) subjektive Perspektiven auf bestimmte Sachverhalte erlangen, nicht nur etwas über die erfundene Geschichte lernen, sondern auch und vor allem über die Welt.

Obwohl diese Thesen durchaus Überzeugungskraft haben, möchte ich doch einige Schwierigkeiten benennen: Es wird nicht ganz klar, worin die subjektive Perspektive besteht, wie sie sich gewissermaßen analysieren lässt. Das ist deshalb relevant, weil Vendrell Ferran die optimistische Position vertritt, dass eine Perspektivübernahme möglich ist. Allerdings zitiert sie affirmativ Thomas Nagel, der eine deutlich weniger optimistische Position vertritt (157ff.) Thomas Nagel nimmt an, dass es bestimmte Aspekte der Perspektive gibt, die gerade nicht von einem anderen Wesen übernommen werden können. Bei dem Versuch, die Perspektive der Fledermaus zu übernehmen (Nagels Beispiel), bleiben also Leerstellen. Vielleicht schaffen wir es, uns einiges der Perspektive der Fledermaus klarzumachen, einiges werden wir uns aber nicht vergegenwärtigen können. Nun ist es unbestritten, dass viele literarische Werke als Versuch anzusehen sind, die Perspektive einer oder mehrerer Figuren zu vermitteln, oft mit dem Versuch verbunden zu vermitteln, wie es für die Figur oder die Figuren ist, in ihrer jeweiligen Situation zu sein. Die philosophisch interessante Frage ist, ob und wenn ja, warum fiktionale Literatur dies schaffen sollte. Einerseits können natürlich besonders detaillierte Beschreibungen helfen. Doch dies kann nicht der einzige Weg sein, wie eine Perspektive vermittelt wird, da es sich bei der subjektiven Perspektive laut Vendrell Ferran nicht um propositionales Wissen oder propositionale Überzeugungen handeln soll, die sich die Leserinnen aneignen. Literatur scheint aber das Vermögen zu haben, die Imagination der Leser anzustoßen. Wenn Leserinnen sich bestimmte Situationen vorstellen, dann könnte es sein, dass nicht nur der literarische Text, sondern die durch den Text ausgelöste Imagination eine Quelle von Erkenntnis ist. Doch gerade in Bezug auf die Fähigkeit, eine fremde Perspektive zu imaginieren, ist Nagel skeptisch. Es wird nach der Lektüre dieses Kapitels nicht ganz klar, warum die durch Literatur vermittelte Imagination sich nicht Nagels Skeptizismus ausgesetzt sieht.

Im siebten Kapitel „Imaginative Anteilnahme und empathische Erkenntnis“ beschäftigt sich Vendrell Ferran schließlich explizit mit Empathie. Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines eigenen Modells der imaginativen Anteilnahme an fiktiven Figuren beschäftigt sich Vendrell Ferran mit drei Theorien, die aus den Debatten um Soziale Kognition bekannt sind, nämlich die Theorie-Theorie, die Simulationstheorie und die Theorie der direkten sozialen Wahrnehmung. Ihr Vorhaben ist es, ein umfassendes Modell unseres Umgangs mit fiktiven Figuren zu entwickeln, das verschiedene Formen der Reaktion auf fiktive Figuren erklären soll, wie etwa empathische und sympathische Reaktionen oder auch Gefühlsansteckung und Perspektivübernahme.

In einem ersten Schritt werden die Theorie-Theorie und die Simulationstheorie als Theorien, die unseren imaginativen Umgang mit fiktiven Figuren erklären sollen, zurückgewiesen. Mit der Kritik an der Simulationstheorie werde ich mich im nun Folgenden eingehender beschäftigen: Der erste Einwand gegen die Simulationstheorie ist schon in ähnlicher Form gegen historische Theorien der Einfühlung vorgebracht worden: Gemäß der Simulationstheorie, so der Vorwurf, kann die simulierende Person nur simulieren, wie es für sie selbst wäre, in der Situation der anderen Person oder der fiktiven Figur zu sein. Ein Ergebnis der Simulation kann daher nur sein, dass wir erfahren, wie es für uns selbst wäre, in einer spezifischen Situation zu sein, nicht aber, wie es für die andere Person ist, in ihrer Situation zu sein. Wenn wir die Erkenntnis, wie es für uns in der Situation wäre, auf die andere Person/Figur übertragen, projizieren wir bloß unsere möglichen psychischen Zustände auf die anderen.

Tatsächlich ist es eine offene Frage, ob es möglich ist, zu simulieren, wie es für den anderen in seiner Situation ist. Peter Goldie geht beispielsweise davon aus, dass unsere Erfahrungen immer von einer nicht überschaubaren Menge an Einstellungen, früheren Erfahrungen usw. gefärbt werden und dass es aufgrund dieser Fülle nicht möglich ist, genau zu simulieren, wie es für den anderen in seiner Situation ist (Goldie 2011). Allerdings können wir doch bis zu einem gewissen Grad Information, die wir über den anderen haben, in die Simulation mit einfließen lassen. Selbst wenn es zutrifft, dass wir nie genau die Erfahrung des anderen „treffen“, scheint es doch möglich, relativ nahe an dessen Erfahrungsqualität zu gelangen. Der simulierenden Person müsste es gelingen, einerseits möglichst viele ihrer eigenen Einstellungen, Erfahrungen usw. aus der Simulation auszuklammern und andererseits möglichst viele Informationen über den anderen in die Simulation einfließen zu lassen. Würde dies gelingen, dann wäre es möglich, dass eine Simulation nahe an die Erfahrung des anderen käme und unter Umständen weit von dem entfernt wäre, was die simulierende Person simulieren müsste, würde sie sich selbst in dieser Situation simulieren. Es würde sich daher zumindest nicht um eine bloße Projektion handeln. Vendrell Ferran scheint in Kapitel 6 selbst für „Wissen, wie es ist“ relativ hohe Anforderungen zu stellen. Auf Schwierigkeiten, die sich aus den Überlegungen des sechsten Kapitels für das siebte Kapitel ergeben, komme ich weiter unten noch zu sprechen.

Vendrell Ferrans zweiter Kritikpunkt ist, dass die Simulationstheorie voraussetze, was sie eigentlich erklären will. Wir müssen nämlich, so ihre Kritik, „den anderen schon als einen andren und nicht als bloßes Ding wahrgenommen haben“ (252). Diese Kritik scheint mir allerdings nicht gerechtfertigt. Zwei Fragen gilt es in Bezug auf Theorien der sozialen Kognition auseinanderzuhalten: (1) wie und warum wir einen anderen Menschen als einen Gegenstand mit geistigen Zuständen erkennen; (2) ob und wenn ja, wie wir erkennen, in welchem spezifischen psychischen Zustand ein anderer Mensch in einer bestimmten Situation ist. Es scheint doch, dass beispielsweise die Simulationstheorie durchaus damit vereinbar wäre, dass wir aufgrund von offenkundigen Ähnlichkeiten zwischen uns selbst und dem anderen schließen, dass sie ein Wesen wie wir selbst, also ein Wesen mit psychischen Zuständen, ist. Eine solche Schlussfolgerung hilft uns noch nicht weiter in der Frage, in welchem Zustand das Gegenüber in einer spezifischen Situation ist. An dieser Stelle könnte dann die Simulation einsetzen. Da sich die Simulationstheorie als eine Theorie versteht, die die zweite der beiden oben genannten Fragen beantwortet, wäre eine solche Annahme im Rahmen der Simulationstheorie durchaus konsistent.

Schließlich kritisiert Vendrell Ferran, dass im Rahmen der Simulationstheorie angenommen wird, dass simulierte Zustände als Quasi-Zustände oder Zustände im Offline-Modus charakterisiert werden. Diese Bezeichnungen sind in der Tat insofern problematisch, als sie für sich genommen nicht viel erklären und auch keinen Hinweis auf die Natur dieser Zustände geben. Vendrell Ferran versteht die Charakterisierung simulierter Zustände als Offline-Zustände so, dass sie einem jeweils eigenen Typus angehören, der nichts oder wenig mit den nicht-simulierten Entsprechungen zu tun hat. Eine solche Charakterisierung, schreibt sie, steht vor der Schwierigkeit, zu erklären, warum wir durch das Erleben der simulierten Zustände etwas über die Realität lernen können, wenn sich die simulierten von den nicht-simulierten Zuständen in derart basaler Weise unterscheiden (253). Hier setzt sie allerdings schon etwas voraus, nämlich, dass wir durch die simulierten Zustände etwas lernen können, was sie erst später im Kapitel zeigen will. Ihr Gegner könnte die These vertreten, dass es eben nicht möglich ist, von diesen Zuständen zu lernen. Allerdings müssen Vertreter der Simulationstheorie bzw. der Theorie der Offline- oder Quasi-Zustände nicht so weit gehen. Es wird von vielen nämlich nicht angenommen, dass Quasi-Zustände überhaupt nichts mit den nicht-Offline Zuständen gemeinsam hätten. Kendall Walton beispielsweise nimmt an, dass Quasi-Emotionen die gleiche Phänomenologie haben können wie gewöhnliche Emotionen. Ihm zufolge unterscheiden sich Quasi-Emotionen einerseits durch eine fehlende motivationale Komponente und andererseits aufgrund ihrer kognitiven Basis (Walton 1978, 1990). Wenn Quasi-Emotionen die gleiche Phänomenologie haben können wie gewöhnliche Emotionen, dann kann vor diesem Hintergrund angenommen werden, dass es möglich ist zu erfahren, wie es ist, die betreffende Emotion zu haben. Dieses Wissen-wie-es-ist wird von Vendrell Ferran als empathisches Wissen verstanden. Es wäre interessant zu erfahren, warum aufgrund der Annahme der gleichen Phänomenologie nicht auch Simulationstheoretiker sagen können, dass empathisches Wissen in diesem Sinne durch die Simulation erworben werden kann.

Ein weiteres Problem ist, wie oben angemerkt, dass Vendrell Ferran im sechsten Kapitel akzeptiert, dass die Erfahrungen, die im Zusammenhang mit Literatur gemacht werden, sich von den Erfahrungen, die wir ohne Zutun unserer Imagination und außerhalb des Umgangs mit Literatur machen, voneinander unterscheiden. Sie akzeptiert sogar die von Gottfried Gabriel vertretene These, „dass wir nicht dank Literatur wissen können, wie es wirklich ist, in einer bestimmten Situation zu sein, weil wir keine unmittelbare Bekanntschaft mit der Situation haben“ (216). Es wird der Leserin nicht ganz klar, wie sich dieses Zugeständnis zu der Kritik an der Simulationstheorie verhält, dass diese angesichts der angenommenen Unterschiede zwischen simulierten und nicht-simulierten Zuständen nicht erklären könne, wie wir etwas durch die Simulation über die Realität lernen können. Vendrell Ferran spricht zwar nicht von Simulation, doch aber von Imagination und aufgrund ihrer Überlegungen im sechsten Kapitel scheint es, als würde sie selbst auch annehmen, dass es Unterschiede zwischen imaginierten und „tatsächlichen“ Zuständen gibt. Sie scheint in Kapitel 6 auch zu akzeptieren, dass aufgrund der Unterschiede zwischen imaginierten und nicht-imaginierten Zuständen mithilfe der Imagination kein Wissen-wie-es-ist gewonnen werden kann. Dass sie trotz der Einschränkungen bei diesem Terminus bleibt, wird damit erklärt, dass sich der Terminus in den einschlägigen Debatten etabliert hat (216). Sie steht also mit ihren Annahmen ebenfalls vor dem Problem, nicht erklären zu können, warum wir mithilfe der imaginierten Zustände etwas darüber erfahren können, wie es ist, tatsächlich in diesen Zuständen zu sein. Ihre kluge Lösung im sechsten Kapitel ist, zu akzeptieren, dass es nicht im strengen Sinne Wissen ist, das erlangt wird, dass das, was wir durch die Imagination erfahren, aber dennoch epistemisch wertvoll ist. Dies wäre aber ein Zug, der auch der Simulationstheoretikerin erlaubt sein müsste.

Im Kapitel „Ethische Erkenntnis und Wertsichtigkeit“ befasst sich die Autorin mit der Frage, ob und inwiefern fiktionale Literatur Erkenntnisse über moralische Werte vermitteln und das moralische Urteilsvermögen von Leserinnen durch die Lektüre gefördert werden kann. Literatur, so ihre These, „teilt ethische Ansichten mit, exemplifiziert und exploriert ethische Situationen, fördert ethische Fähigkeiten und sensibilisiert für ethische Werte“ (283). Die so genannte Sensibilisierungsthese, die die Autorin verteidigt, beinhaltet die Annahme, dass durch die Lektüre fiktionaler Literatur (1) die Urteilsfähigkeit geschult, (2) die Gefühle kultiviert und schließlich (3) die Wertesensibilität geschärft wird. Bezüglich moralischer Erkenntnis vertritt Vendrell Ferran die Position, dass wir zu ihr über verschiedene Wege gelangen können. Ein solcher Weg ist die „Schulung unserer Gefühle“ (288). Es wäre für die Leserin hilfreich gewesen, etwas genauer zu erfahren, wie genau das Verhältnis von emotionaler Reaktion zur Wahrnehmung moralisch relevanter Aspekte einer Situation einerseits und zur Urteilsfähigkeit andererseits zu verstehen ist. Auch vertritt die Autorin die These, dass neben den Gefühlen, die keinen Perspektivwechsel beinhalten, auch Prozesse wie Empathie durch die Lektüre fiktionaler Literatur gewissermaßen trainiert werden. Insbesondere zu der Frage, ob die Lektüre fiktionaler Literatur empathischer macht, gibt es eine ganze Reihe empirischer Arbeiten etwa von Raimond A. Mar und Richard Gerrig. Eine philosophisch fundierte Auseinandersetzung mit diesen empirischen Untersuchungen wäre in diesem Zusammenhang sehr interessant gewesen.

Vendrell Ferran bezieht eine „quasi-realistische“ Position der Werteigenschaften (290), wonach Werteigenschaften ähnlich wie reaktionsabhängige Eigenschaften verstanden werden. Sie nimmt mit der phänomenologischen Tradition an, dass wir über ein Sensorium verfügen, dass uns befähigt, Situationen moralisch einzuschätzen. An dieser Stelle wäre es zumindest für Leserinnen, die in der phänomenologischen Literatur weniger bewandert sind, hilfreich gewesen, etwas mehr über Wertsichtigkeit und ihre Beziehung sie zu den vorher behandelten Gefühlen zu erfahren. Autorinnen wie beispielsweise Paulina Sliwa und Alison Hills beschäftigen sich mit der Frage, ob und inwieweit moralisches Verstehen von moralischem Wissen zu unterscheiden ist. Es wäre interessant gewesen, die hier angestellten Überlegungen an diese Debatte anzuschließen.

Íngrid Vendrell Ferrans Arbeit ist ein Plädoyer für den epistemischen Wert fiktionaler Literatur, in dem Fragen behandelt werden, die nicht nur der Ästhetik, sondern auch anderen philosophischen Teildisziplinen wie der Erkenntnistheorie und der Philosophie des Geistes zugeordnet werden müssen. Wenn an einigen Stellen kritisch angemerkt wurde, dass bestimmte Debatten nicht berücksichtigt wurden oder eine kleinschrittigere Argumentation für die Leserinnen hilfreich gewesen wäre, dann muss diese Kritik unbedingt vor dem Hintergrund der Breite der vorliegenden Arbeit gesehen werden.

Literatur

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Nagel, Thomas. „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?“ In Analytische Philosophie des Geistes, hg. von Peter Bieri, 261-275. Bodenheim: Beltz, 1993.

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