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Zeitschrift für philosophische Literatur 2.3 (2014), 1–9

Symposium zu: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013. 451 Seiten. [978-3-518-29587-8]

Die Normativität der immanenten Kritik

Von Oliver Krüger (Universität Hamburg)

Die Kritische Theorie beschäftigt sich seit jeher mit der Frage, wie die Maßstäbe einer Kritik generiert werden können. Dabei gibt es einen gewissen Vorbehalt gegenüber normativen Annahmen: Sobald Kritiken einen normativen Impetus aufweisen, sehen sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert, selbst Ideologie zu sein. Einige Kritikformen reagieren auf dieses Problem mit radikaler normativer Enthaltsamkeit – Kritik ist dann nicht‑normativ. Dieser Lösung haftet etwas Paradoxes an. Die Kritik sieht sich in der Variante der normativen Enthaltsamkeit mit dem Problem konfrontiert, dass sie „eine selbst nicht‑normative, aber normativ bedeutsame Kritikmethode“ (Leist 1986: 59) ist. In einem früheren Aufsatz hat Rahel Jaeggi diesen „Mythos der Ideologiekritik“ (Leist 1986: 59) bereits entkräftet, indem sie die Ideologiekritik als eine nicht‑normativistische, aber normative Methode beschreibt (vgl. Jaeggi 2009: 283f.). Die Kritik solle demnach auf „die Etablierung von externen normativen Maßstäben“ (Jaeggi 2009: 283f.) verzichten und stattdessen die Wirklichkeit mit immanenten Maßstäben kritisieren (vgl. Jaeggi 2009: 284). Damit weist Jaeggi nicht nur externe Kritiken zurück, sondern auch jene, die sich der normativen Enthaltsamkeit verschreiben. Letztlich entscheidet sie sich in dem Aufsatz für eine bestimmte Version immanenter Kritik (vgl. Jaeggi 2009: 285–­293). In Kritik von Lebensformen führt Jaeggi diese Form der Kritik weiter aus und spezifiziert ihre Methodologie. Die in dem Werk entfaltete Theorie, die sie selbst als „kritische Theorie der Kritik von Lebensformen“ (12) bezeichnet (nachfolgend abgekürzt als Kritik von Lebensformen), greift auf eine „starke Version immanenter Kritik“ (60) zurück, die nicht rekonstruktiv bleibt, sondern einen transformativen Charakter aufweist (vgl. 294). Mit dieser Version immanenter Kritik reagiert Jaeggi auf „das Problem der Ermittlung eines Maßstabs der Kritik“ (258). Die Kritikform der immanenten Kritik bildet somit einen wichtigen Grundbaustein – wenn nicht sogar den Kern – der Kritik von Lebensformen. Ich fokussiere mich in diesem Rezensionsartikel auf die methodologischen Kapitel aus Kritik von Lebensformen, um die Rechtfertigung der immanenten Kritik besser nachvollziehen zu können. Darüber hinaus prüfe ich, inwiefern die Kritik von Lebensformen die „normative Hypothek“ (302, Fn. 55) hinreichend abdeckt, die der Ansatz tragen muss. Meines Erachtens ist es fraglich, ob Jaeggis theoretischer Version der Kriti von Lebensformen normativ stark genug ist. Es gilt zu hinterfragen, ob Jaeggi das transformative Potential der immanenten Kritik voll ausschöpft.

Lebensformen sind Problemlösungsinstanzen (vgl. 227). Das geht aus dem zweiten Teil des Buches hervor (vgl. 200–253). Wir reagieren mit Lebensformen auf gesellschaftliche Probleme. Dadurch sind sie „Antworten auf historisch-kulturell geprägte und normativ vordefinierte Herausforderungen“ (241). Lebensformen scheitern, wenn sie dieser Aufgabe nicht mehr nachkommen – sie werden dann ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht. Die Krise, in die Lebensformen dann geraten, ist also normativ (vgl. 257). Diese Bestimmung stellt Jaeggi im dritten Teil ihres Werkes (vgl. 257‑309) vor folgende Herausforderung: Es muss eine Form der Kritik gefunden werden, die dieses Krisenmoment von Lebensformen adäquat erfasst. Um eine geeignete Form der Kritik herauszuarbeiten, thematisiert Jaeggi mit der internen Kritik zunächst eine Form der Kritik, die diesem Anspruch nicht gerecht wird (vgl. 261‑276). Die Bezeichnung dieser Kritikform leitet sich aus der Quelle des Maßstabs der Kritik ab. Während externe Kritiker die Normen einer Gesellschaft nicht teilen und Normen „von außen“ an die Gesellschaft herantragen (vgl. 262f.), sucht ein intern vorgehender Kritiker die Maßstäbe seiner Kritik in der Gesellschaft selbst. Dabei wird nach Normen und Idealen gesucht, die in einer Gesellschaft zwar vorzufinden, aber nicht verwirklicht sind (vgl. 263). „Die interne Kritik strebt also die Restitution der Prinzipien, die das Leben einer Gemeinschaft ausmachen oder die Reaktivierung des ‚eigentlichen Sinns‘ ihrer Ideale an, selbst wenn das manchmal einschneidende Veränderungen mit sich bringen mag“ (265). Diese Form der Kritik stößt allerdings in drei Hinsichten an ihre Grenzen. Erstens erlaubt sie einen gewissen Interpretationsspielraum. Von daher kann es zu einem Konflikt um die unterschiedlichen Interpretationen kommen (vgl. 272). Die interne Kritik sieht sich zweitens mit den Einwänden konfrontiert, dem normativen Konventionalismus und dem strukturellen Konservatismus zu verfallen (vgl. 272–274). Drittens steht in pluralistischen Gesellschaften die Möglichkeit einer rein internen Perspektive infrage. „So ist die Unterscheidung zwischen einem ‚internen‘ und einem ‚externen‘ Standpunkt bezogen auf die Kritik der Gesellschaften, in denen wir leben, praktisch schwer zu ziehen“ (274). Die interne Kritik ist also insgesamt aufgrund ihrer „Tendenz zum Relativismus und Partikularismus“ (276) nicht geeignet, strukturelle Defizite in Lebensformen aufzudecken. Sie ist normativ zu schwach und ihr fehlt ein transformatives Potential, mit dessen Hilfe man den kontextuellen Rahmen verlassen kann.

Die immanente Kritik weist im Gegensatz dazu Kritikmaßstäbe auf, „die immanent und transzendent, kontextabhängig und kontexttranszendierend zugleich sind“ (195). Damit ist sie für eine Kritik von Lebensformen weitaus besser geeignet. Den methodologischen Anspruch der immanenten Kritik fasst Jaeggi wie folgt zusammen:

Immanente Kritik setzt, auf eine kurze Formel gebracht, bei den mit einer Lebensform gesetzten Ansprüchen und Bedingungen an, reagiert auf die in dieser auftauchenden Probleme und Krisen und gewinnt gerade daraus das transformative Potential, das über die in Frage stehenden Praktiken hinausreicht und auf deren Veränderung zielt. (258)

Mit der internen Kritik hat diese Kritikform gemeinsam, dass sie die Gesellschaft mit Maßstäben beurteilt, die in irgendeiner Weise schon in ihr enthalten sind (vgl. 277). Ein zentraler Unterschied zur internen Kritik liegt allerdings darin, dass die Kritikform der immanenten Kritik über bestehende Kontexte hinausweist – in diesem Sinne ist sie transformativ. Die immanente Kritik lässt sich demnach in einer besonderen Weise auf den zu kritisierenden Gegenstand ein. „Sie ist als Analyse Kritik (und nicht: eine bloße Beschreibung des Bestehenden) und als Kritik Analyse (und nicht: eine bloße Forderung an das Bestehende)“ (280). In diesem besonderen dialektischen Verhältnis liegt ein wichtiges Moment der immanenten Kritik. Dem strikten Dualismus von Innen- und Außenperspektive, der für die Einteilung in interne und externe Kritik ausschlaggeben ist, soll seine erkenntnisleitende Rolle entzogen werden. Die immanente Kritik setzt zwar bei der Suche nach den Maßstäben der Kritik innen an, aber transzendiert diese zugleich, weil sie „auf kritische Überwindung zielt“ (283). Die strikte Einteilung in Innen- und Außenperspektive wird dadurch hinfällig, weil die intern gewonnenen Maßstäbe aufgrund ihres transformativen Potentials zugleich über den zu kritisierenden Gegenstand hinausweisen. Dieses Transzendieren einer intern gewonnenen Norm bezeichnet Jaeggi als „starke Version immanenter Kritik“ (60, vgl. auch 283). Diesen Zusammenhang verdeutlich Jaeggi – nebenbei bemerkt – exemplarisch am Prozess der kritischen Selbstprüfung des Bewusstseins, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwirft (vgl. 281–283).

Vor dem Hintergrund solcher Ausführungen erscheint das generelle Vorgehen der immanenten Kritik noch äußerst vage. Es stellt sich nach wie vor folgende Frage: Wie sollte die immanente Kritik vorgehen, um das beschriebene transformative Potential zu generieren? Zur Beantwortung dieser Frage verweist Jaeggi zunächst auf drei paradigmatische Fälle, die immanente Kritik betreiben: Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, einige Motive der Marxschen Kapitalismuskritik und das psychoanalytische Gespräch (vgl. 284–286). Während die interne Kritik bloß faktische Widersprüche und Zusammenhänge zwischen dem Anspruch an eine Praxis und der Praxis selbst herausstellt, sind die Zusammenhänge und Widersprüche, die die immanente Kritik herausarbeitet, stets theoriegeleitet (vgl. 286). „Immanente Kritik braucht also […] eine ‚gute Theorie‘“ (300). Der Widerspruch, den die Marxsche Kapitalismuskritik zwischen der formalen Gleichheit und der sozialen Ungleichheit herstellt, kann beispielsweise nur unter Rückgriff auf die Arbeitswertlehre hergestellt werden. Auch wenn Jaeggi die Arbeitswertlehre in diesem Zusammenhang nicht explizit anspricht, verweist sie meines Erachtens implizit auf diese Theorie, wenn sie Marx’ Formel vom doppelt freien Arbeiter aufgreift (vgl. 285). Hier und in den anderen Beispielen muss nachgewiesen werden, dass die aufgedeckten Widersprüche nicht zufällig, sondern systematisch sind (vgl. 287). Der immanenten Kritik geht es somit um „die innere Widersprüchlichkeit der Realität und der diese konstituierenden Normen selbst“ (291). Dadurch rückt die „Krisenhaftigkeit eines bestimmten sozialen Arrangements“ (292) ins Zentrum der immanenten Kritik. Die von ihr diagnostizierten Widersprüche präsentieren sich als „eine Frage praktischer Verwerfungen und Krisen“ (292). Auf Grundlage des Nachweises solcher Krisen gewinnt die immanente Kritik ihren transformativen Charakter. Erst durch den Nachweis von systematischen Krisen kann auf eine „Transformation des Bestehenden“ (277) hingewiesen werden. Ein normatives Potential für Veränderung wird erst dann freigesetzt, wenn durch eine Krise ein normatives Defizit zum Vorschein kommt. Die immanente Kritik arbeitet im Hinblick auf solche Krisen heraus, was zur Überwindung dieser Krise notwendig ist. Damit ist sie „das Medium (oder besser: der Katalysator) eines sich durch die Kritik anreichernden Erfahrungs- und Lernprozesses“ (296). Alles in allem steht die immanente Kritik also vor folgenden zwei Herausforderungen: Erstens muss sie systematische Widersprüche und Zusammenhänge in der Gesellschaft (theoriegeleitet) herstellen, um dann in einem zweiten Schritt über sie hinauszuweisen. Einerseits verfährt die immanente Kritik also negativistisch, indem sie an der Krisenhaftigkeit bestimmte normative Defizite abliest, die es zu überwinden gilt. Andererseits verfährt sie zudem transformativ, indem sie auf die Überwindung dieser Defizite zielt (vgl. 302). Die immanente Kritik kann dadurch als „Ferment eines Transformationsprozesses“ (301) bezeichnet werden, das sich der Methode der „transformative[n] Immanenz“ (303) bedient. Hier erkennt man unschwer den eingangs zitierten Anspruch wieder, dass Kritik zwar normativ, aber nicht normativistisch sein solle. Die grundlegende Frage, wie die normativen Maßstäbe einer Kritik generiert werden können, ist aber noch nicht abschließend beantwortet: „Das Problem der normativen Bezugspunkte von immanenter Kritik scheint sich damit […] nur zu verschieben“ (305). Der generellen Methodologie der Kritik von Lebensformen müssen also noch einige Bemerkungen darüber folgen, wie man in Krisen ein transformatives Potential entdecken kann.

Eine Kritik von Lebensformen benötigt ein normatives Kriterium, mit dessen Hilfe entschieden werden kann, wann eine Lebensform in die Krise gerät. Mit der „Rationalität von Lebensformen“ (13) soll diese methodologische Lücke geschlossen werden. Ob eine Lebensform als rational oder irrational zu bewerten ist, kann nur im Hinblick auf die „historische Dynamik des mit ihr gesetzten Transformationsprozesses“ (313) beurteilt werden. Die „Problemlösungsgeschichte“ (313) einer Lebensform wird damit zum zentralen Kriterium der Beurteilung ihrer Rationalität. Die Kritik von Lebensformen betrachtet also nicht den Erfolg bzw. Misserfolg einzelner Lebensformen, sondern die dahinter liegende Geschichte der Transformation von Lebensformen. Es geht also um den „Charakter des Prozesses“ (314) anstatt um den konkreten Inhalt bestimmter Lebensformen. Diese Abwendung vom Inhalt der Lebensformen bezeichnet Jaeggi als „Umstellung auf das Wie“ (314). Um Lebensformen kritisieren zu können, wird ihre „innere Dynamik“ (315) eingehender beleuchtet. Dabei gilt es nachzuweisen, ob es sich bei dieser Dynamik um einen Lernprozess handelt. Aus dem Scheitern einer Lebensform kann nur dort gelernt werden, „wo auftretende Probleme auf einem bestimmten normativen Niveau im Modus eines Anreicherungsprozesses reflexiv bewältigt werden können“ (316). Die Konzeption der Lernprozesse ist also eine normative Konzeption. Es geht nicht um die Rekonstruktion tatsächlicher Lernprozesse, sondern um die „normative Entwicklungslogik“ (318), die in der Geschichte von Lebensformen zwar angelegt, aber nicht notwendigerweise verwirklicht sein muss (vgl. 318f.). „Die Kritik von Lebensformen wird damit zu einer Art Metakritik historisch-sozialer Prozesse“ (315).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die normative Stoßrichtung der Kritik von Lebensformen besser verstehen. Sobald Lebensformen in eine Krise geraten, muss geprüft werden, wie sie auf diese Krise reagieren. Dabei gibt die Krise den besonderen normativen Rahmen vor, in dem sich die Problemlösung vollziehen muss. Von einer Problemlösung kann nur dann gesprochen werden, wenn eine Lebensform aus der Situation der Krise tatsächlich lernt. „Adäquate Problemlösungen sind […] Lösungen, die sich als Resultate eines gelingenden (wirklichen) Erfahrungs- und Lernprozesses verstehen lassen“ (337). Die Lösungsmöglichkeiten für bestehende Probleme ergeben sich aus den besonderen historischen Verhältnissen, in denen sich die Krise konstituiert. Hier offenbart sich das transformative Potential einer Lebensform. Die Lösung einer Krise wird daran gemessen, ob bei den Lebensformen ein Lernprozess einsetzt. Bleibt dieser Lernprozess aus oder ist die vorgeschlagene Lösung unangemessen, kann man der Lebensform eine Lernblockade diagnostizieren. Bei solchen Lernblockaden handelt es sich nicht um zufällig auftretende Defizite in Lernprozessen, sondern es geht um ihren systematischen Charakter. „Soziale Lernblockaden stellen sich also nicht als unvermutet auftretendes Hemmnis, sondern als systematisch induzierte Regressionen dar“ (427). Über den Nachweis von Lernblockaden können Lebensformen kritisiert werden. Die Lernprozesse, auf die dabei negativ Bezug genommen wird, stellen damit die normative Ressource der Kritik von Lebensformen dar. Mit Hilfe der Konzeption der Lernprozesse kann man entscheiden, ob ein Transformationsprozess rational oder irrational vonstattengeht.

Letztlich ist noch zu betonen, dass dem immanenten Nachweis von Lernblockaden keine teleologische Annahme über den notwendigen Verlauf von Lernprozessen unterliegt. „Es gibt also nicht […] nur einen Fortschritt oder nur eine mögliche Entwicklungsgeschichte des Fortschritts. Historisch aufweisen lassen sich verschiedene, teilweise sich überlappende, möglicherweise sogar sich widersprechende Fortschrittsbewegungen“ (450). Die Lernprozesse von Lebensformen sind als ein offener Prozess zu betrachten. Demnach gibt es „eine Variationsbreite denkbarer guter Lösungen“ (449) – der Vorgriff auf eine Problemlösung sollte also immer korrigierbar bleiben. Jaeggi bezeichnet diese Form des Umgangs mit Lernprozessen als „experimentellen Pluralismus von Lebensformen“ (451). Das „Metakriterium für die Kritik von Lebensformen“ (445) ist demnach „der Grad der Einsicht in die Gestaltbarkeit der eigenen Lebensverhältnisse und das Vermögen zu ihrer Gestaltung“ (445). Die normative Konzeption der Lernprozesse von Lebensformen muss insofern spezifiziert werden, als die unterschiedlichen Lernprozesse im Sinne eines „Trial-and-error-Verfahren[s]“ (437) immer wieder neu ausgelotet werden sollten. Dadurch präsentiert Jaeggi ihre Version der immanenten Kritik als ein Verfahren, mit dessen Hilfe in „das komplizierte Verhältnis von Gestaltungsmacht, Intransparenz und der oft schwer entwirrbaren Komplexität miteinander verketteter Praktiken und Einstellungen“ (446) eingegriffen werden kann.

Die Lernprozesse stellen also das normative Kriterium dar, das zur Kritik von Lebensformen herangezogen werden kann. Die immanente Kritik sucht systematisch nach Defiziten solcher Lernprozesse, um auf dieser Grundlage Lebensformen normativ und funktional kritisieren zu können. Dieser Vorschlag eines normativen Maßstabes immanenter Kritik geht weit über das hinaus, was andere Rechtfertigungen einer immanenten Kritik bisher präsentiert haben (vgl. Stahl 2013). Vor diesem Hintergrund erscheint Jaeggis Ansatz wegweisend, weil überhaupt eine Konzeption der Kritik entworfen wird, mit der man Lebensformen normativ kritisieren kann. Ungeachtet dieses Mutes muss aber hinterfragt werden, ob die Kritik von Lebensformen in der von Jaeggi vorgeschlagenen Fassung normativ stark genug ist, um Lebensformen effizient kritisieren zu können.

Jaeggi bezeichnet ihre Version immanenter Kritik als „starke Version immanenter Kritik“ (60). Stark ist die Kritik von Lebensformen insofern, als sie über bestehende Kontexte hinausweist – die Kritik der Lebensformen weist im Gegensatz zu anderen Versionen immanenter Kritik ein transformatives Potential auf. Trotz dieser komparativen Stärke ist Jaeggis Version immanenter Kritik jedoch insgesamt eine normativ schwache Form der Kritik. Mit der „Umstellung auf das Wie“ (34) und der damit einhergehenden Beschränkung auf die formale Struktur der Lebensformen bleiben inhaltliche Gesichtspunkte von Lebensformen bewusst unbeachtet. Der zentrale Beweggrund für diese normative Zurückhaltung ist die Gefahr des Normativismus. Es soll vermieden werden, externe normative Ansprüche an Lebensformen heranzutragen und dadurch Ideologie zu reproduzieren. Der von Jaeggi vertretene Ansatz präsentiert sich deswegen als ein „Anti‑Normativismus“ (319, Fn. 5). Aber ist der Preis dieses Anspruches eine Form der immanenten Kritik, die sich nur auf die formalen Strukturen der Entwicklung von Lebensformen fokussiert? Ist eine immanente Kritik denkbar, die normativ stärker ist als Jaeggis Ansatz, aber nicht der Gefahr des Normativismus verfällt? Ich denke nicht, dass jede inhaltliche Kritik von Lebensformen auf einen Normativismus zurückgreifen muss. Deswegen schlage ich zum Abschluss eine normativ stärkere Version der Kritik von Lebensformen vor. Im Gegensatz zu Jaeggi fokussiere ich mich dabei auf problematische Normen, die bestimmten Lebensformen immanent sind. Auf dieser Grundlage können Lebensformen inhaltlich kritisiert werden, ohne dass die Maßstäbe der der Kritik von außen an Lebensformen herangetragen werden.

Das vermehrte Auftreten von Ideologien ist meist ein Indikator dafür, dass sich eine Lebensform in der Krise befindet. Generell haben wir aber kein strukturelles, sondern vor allem ein inhaltliches Problem mit Ideologien. Die Definition des Begriffes „Ideologie“ spiegelt diesen Zusammenhang insofern wider, als die ideologische Beeinflussung als ein falscher Zustand klassifiziert wird: „Wer unter dem Einfluss einer Ideologie steht, ist nicht nur einem falschen Zustand ausgeliefert, sondern auch ‚im Griff‘ einer falschen Deutung dieses Zustands“ (Jaeggi 2009: 268). Solche falschen Deutungen falscher Zustände präsentieren sich nicht nur dort, wo nach Jaeggi Lernblockaden einsetzen, sondern auch und vor allem dort, wo bestimmte Normen auffindbar sind, wie zum Beispiel das Recht des Stärkeren, Männlichkeitsbilder, Schicksalsrhetoriken oder die Leistungsorientierung. Letztlich haben wir ein Problem mit solchen Normen, weil sie – sobald sie konstitutiv für eine Lebensform werden – das Leid der beteiligten Akteure verschleiern. Wer in seinen Lebensformen auf solche Normen zurückgreift, kann also (individuelle und gesellschaftliche) Probleme nicht mehr adäquat wahrnehmen. Ideologien sollten also nicht deswegen kritisiert werden, weil sie objektiv falsch sind, sondern weil sie den Blick auf bestimmte empirische Gegebenheiten verstellen. Hierfür muss eine Kritik der Lebensformen nicht erst so lange warten, bis eine Lebensform in die Krise gerät. Bereits der Nachweis, dass bestimmte Normen falsche Deutungen falscher Zustände hervorbringen, kann für eine Kritik von Lebensformen hinreichend sein. Die problematischen Normen bilden dann die negative Grundlage für inhaltliche Forderungen an Lebensformen – sie sind die negative Blaupause für die Kritik von Lebensformen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur die formale Struktur einer Lebensform kritisieren, sondern auch deren Inhalt. Aber auch diese inhaltlich stärkere Version der Kritik von Lebensformen muss empirisch nachweisen, dass die problematischen Normen mit der Verschleierung von Leid immanent zusammenhängen. Sie ist also insofern immer noch theoriegeleitet, als solche Normen in einen systematischen Zusammenhang mit empirischen Missständen gebracht werden müssen. Wir brauchen also nach wie vor eine gute Theorie, mit deren Hilfe wir einen systematischen Zusammenhang zwischen der empirischen Ermittlung von Leid und den problematischen Normen einer Lebensform herstellen können. Aus diesem Grund ist die inhaltliche Kritik von Lebensformen keine Kritikform, die von außen an einen Kontext herangetragen wird, sondern die problematischen Normen werden mittels der Methode der immanenten Kritik ermittelt. Dadurch ist dieser Vorschlag zwar normativ stärker als Jaeggis Version der Kritik von Lebensformen, aber nicht normativistisch.

Dieser methodologische Vorschlag zeigt, dass das transformative Potential der Kritik von Lebensformen mit Jaeggis Version immanenter Kritik noch nicht voll ausgeschöpft ist. Es sind normativ stärkere Versionen der Kritik von Lebensformen denkbar, die die inhaltliche Seite von Lebensformen berücksichtigen, ohne dem Normativismus zu verfallen. Ein solcher Vorschlag kann aber nur eine Ergänzung zu Jaeggis wegweisender Studie darstellen. Eine inhaltlich substantielle Version der Kritik von Lebensformen ist nach wie vor auf ein Kriterium angewiesen, nach dem entschieden werden kann, wann sich Lebensformen defizitär entwickeln. Jaeggi liefert mit den Lernprozessen ein solches Kriterium. Sobald eine Lernblockade vorliegt, kommt die Lebensform ihrer Aufgabe als Problemlösungsinstanz nicht mehr nach. Hierin liegt meines Erachtens die Stärke des hier diskutierten Ansatzes: Jaeggi liefert mit den Lernprozessen ein normatives Kriterium, mit dem man strukturelle Entwicklungen von Lebensformen kritisieren kann. Dass Jaeggis Kritik von Lebensformen überhaupt eine normative Ressource der Kritik bereitstellt, muss dem Ansatz hoch angerechnet werden. Dennoch ist hervorzuheben, dass eine Kritik von Lebensformen sich nicht auf die Betrachtung der Strukturen von Lebensformen beschränken muss. Gerade die inhaltlichen Diskurse um Lebensformen, die uns tagtäglich begegnen, offenbaren, dass es eine Vielzahl problematischer Normen gibt, die einer inhaltlichen Kritik unterzogen werden sollten. Dabei sollten die methodologischen Pfade der immanenten Kritik allerdings nicht verlassen werden.

Literatur

Jaeggi, Rahel. „Was ist Ideologiekritik?“ In Was ist Kritik?, hg. von Rahel Jaeggi und Thilo Wesche, 266–95. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.

Leist, Anton. „Schwierigkeiten mit der Ideologiekritik.“ In Ethik und Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie, hg. von Emil Angehrn und Georg Lohmann, 58‑79. Königstein: Athenäum, 1986.

Stahl, Titus. Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken. Frankfurt am Main: Campus, 2013.

© 2014 Zeitschrift für philosophische Literatur, ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE