Kohpeiß, Henrike: Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität. Frankfurt/New York: Campus 2023. 406 Seiten. [978-3-593-51710-0]

Rezensiert von Florian Geisler (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

Warum bleiben viele Bürger*innen der Europäischen Union weitgehend gleichgültig, wenn größere Menschenmengen auf den mediterranen Migrationsrouten sterben? Kann der lapidare Hinweis darauf, dass die Herkunftsländer als sicher und die Routen für illegal erklärt waren, wirklich das weitgehende Desinteresse an dem vielfältigen Leiden entlang der Außengrenzen des Westens erklären? Oder verbirgt sich hinter der verbreiteten Gleichgültigkeit nicht vielleicht vielmehr eine fundamentale Fehlkonstruktion moderner, bürgerlicher Subjektivität? Henrike Kohpeiß analysiert in ihrem Buch Bürgerliche Kälte, wie das unübersichtliche Nebeneinander von militarisierten Grenzen einerseits und parteiübergreifender Willkommenskultur andererseits abläuft und welche stabilisierenden Funktionen es für den emotionalen Haushalt der medialen Landschaft bereitstellt. Kohpeiß nimmt dieses Phänomen zum Anlass, um in drei Abschnitten verschiedene Probleme des heutigen Subjektbegriffs aufzuzeigen.

Der erste Abschnitt stellt eine Relektüre des aufklärungskritischen Essays „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ (1944) von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie weiterer Arbeiten aus deren erweiterten Diskussionszusammenhang dar. Kohpeiß arbeitet heraus, wie diese beiden Autoren trotz ihres zunächst radikal vernunftkritischen Gestus dann doch für eine konventionelle, auf bildungsbürgerliche Werte wie Transparenz, Selbstkontrolle und Autonomie abstellende politische und sozialpädagogische Praxis einstehen (191). Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der Gefühlswelt der politischen und medialen Landschaft der EU in Bezug auf die oft tödlich ausgehenden Maßnahmen zum Schutz ihrer Grenzen. Kohpeiß argumentiert hier, dass sowohl die Illusion eines vernünftigen bürgerlichen Subjekts – das angesichts des Leids seine vermeintliche Rationalität bewahrt und sich davon institutionell vermittelte Handlungsfähigkeit erhofft – als auch die aktivistisch orientierten Empörungswellen – die an den bürgerlichen Institutionen vorbei handlungsfähig werden wollen – in ihrem Zusammenspiel die gesellschaftliche Gefühlswelt insgesamt stabilisieren und für politische Kontinuität sorgen. Adorno und Horkheimer haben, so Kohpeiß, trotz all ihrer Kritik diesen selektiven und begrenzten, letztlich stabilisierenden Charakter des vernünftigen bürgerlichen Subjektbegriffs unterschätzt. In einem dritten Abschnitt diskutiert Kohpeiß deshalb mit Blick auf konkrete historische Beispiele alternative Auffassungen von Subjektivität aus Diskussionszusammenhängen, die sich der europäischen Tradition scheinbar ganz oder teilweise entziehen.

I. Vom Einschnitt in der Erfahrung zur Selbstüberschätzung des Subjekts

Mit ihrer Untersuchung der vorherrschenden politischen Denkweise im europäischen Durchschnitt knüpft Kohpeiß direkt an Stichworte aus dem Bestand der Kritischen Theorie Frankfurter Prägung an. Die hatte festgestellt, dass der spezifisch europäische Modus der Moderne, das identifizierende und rationalisierende Denken, nicht automatisch in eine bessere Zukunft führt, sondern auch großes Unheil anrichten kann. Wo nur noch betriebs- oder volkswirtschaftlich gedacht und vermeintlich wissenschaftlich rationalisiert wird, entsteht nicht etwa ein Reich aus Freiheit und Überfluss, sondern eine ganz neue Form von Unmündigkeit. „Die Aufklärung“, schreibt Kohpeiß – mit einem Blick auf Friedrich Nietzsche und im Versuch, damit sowohl an die Kritische als auch an die genealogische Theorietradition anzuknüpfen –, „verschob die Urteilshoheit über Gut und Böse in das Feld autonomer Personen“ aus den gebildeten bürgerlichen Schichten, die „ihr eigenes Vermögen, moralisch zu urteilen und frei zu leben, völlig überschätzten“ (176). Diese Selbstüberschätzung sieht Kohpeiß auch noch in der Sedimentierungsthese von Jürgen Habermas aus der zweiten Generation der Kritischen Theorie nachwirken, der in der Einübung von Selbstkritik die Wurzel progressiver Debattenkultur erblickt (161).

Diese Überhöhung des Subjekts hat nach Kohpeiß zwei Quellen. Eine Quelle liegt in dem sozialen Einschnitt, der mit der Entstehung des Subjekts einhergeht; die andere Quelle ist die Erfahrung seines Scheiterns. Zuerst der soziale Einschnitt: Dieser liegt in der „von Horkheimer und Adorno nicht bearbeiteten Differenz“ am Boden der „Bürgerliche[n] Erfahrung“ (66). Odysseus kann seine ästhetischen Erfahrungen grundlegend nicht machen, ohne dass seine Ruderer auf sie verzichten müssten. Odysseus glaubt, sich selbst unter Kontrolle zu haben, doch in Wahrheit sind es seine Gefährten, die der Erfahrung entsagen müssen. Odysseus ist konstitutiv auf das „Proletariat der Odyssee“ (64) angewiesen, das selbst wiederum von der subjektivierenden sinnlichen Erfahrung ausgenommen bleiben muss. Obwohl passiv, abhängig und wortwörtlich gefesselt, hat Odysseus dennoch eine subjektivierende Erfahrung gemacht, die ihn von seinen Gefährten abheben soll. In dieser seltsamen Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit, Entkopplung und Überheblichkeit liegt die eine Quelle der Selbstüberschätzung eines Subjekts, das sich von Eindrücken nicht hinreißen lassen will.

Eine zweite Quelle liegt in der kränkenden Erfahrung des Subjekts, auch trotz seiner künstlichen Überhöhung immer noch an den Herausforderungen zu scheitern. Denn die als autonom und sozial handlungsfähig imaginierten bürgerlichen Subjekte erweisen sich als ungeeignet, die gesellschaftliche Gesamtentwicklung tatsächlich bewusst und rational zu steuern. Sowohl demokratisch als auch marktförmig vermittelte Institutionen, die von einem Subjekt aus denken, können bereits ihre theoretische Kohärenz nur mit Schwierigkeiten begründen – man denke etwa an die Schwierigkeiten in der Begründung von Rechtssystemen, ihrem eigenen Anspruch an Neutralität und Gewaltlosigkeit gerecht zu werden. Kohpeiß nimmt diese Hinweise auf das Scheitern ernst und greift vor allem das Thema der Rechtsgewalt später im Band wieder auf, wenn auch in verkürzter Weise, die übereilt von den Begründungsschwierigkeiten auf eine prinzipielle Unabschließbarkeit des Rechts schließt (151).

Aber nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch ist die Entstehung der Lebensweise des bürgerlichen Subjekts mit der Abscheidung eines konstitutiv ausgeschlossenen, kolonialen Raums verbunden. Und auch im Innenraum verdankt sich die bürgerliche Ordnung der Abschaffung alter sozialer Steuerungssysteme, etwa der Zerschlagung der Allmende. Gesellschaft, Markt und Politik, gedacht als Integrationsprinzipien freier rationaler Individuen, entwickeln teils eine irrationale Eigendynamik, die sich Steuerungsversuchen entzieht und damit die gerade neu gewonnene Autonomie der Subjekte ganz grundlegend untergräbt. Der politischen Kultur des modernen Subjekts fällt es schwer, dieses Scheitern einzugestehen, weil damit ihr eigener Führungsanspruch in Frage gestellt wird. Der scheiternde Versuch, der Natur mit einer instrumentellen Rationalität zu begegnen, die auf ihre souveräne Beherrschung fokussiert – anstatt auf ein gleichrangiges Zusammenleben mit ihr – kann nur schwer kommuniziert werden, weil er unmittelbar an der Trennung von Subjekt und Objekt nagt, die doch gerade erst so mühevoll erkämpft war.

Aus Kohpeiß’ Sicht liegt in dieser „verleugneten Naturverhaftung“ (55) des modernen Menschen die zweite Quelle der Selbstüberschätzung des Subjekts. Denn der Mensch vollzieht die entscheidende Trennung in Wahrheit gar nicht zwischen sich selbst und der Natur, sondern setzt den schmerzhaften Schnitt vielmehr in seiner eigenen Mitte an. Um dem Ideal des vernunftgeleiteten Subjekts zu entsprechen, muss er seine eigenen Erfahrungen bändigen: „Die Erfahrung nicht zu machen, entspricht einer Verminderung des Lebens im Namen seiner Verlängerung“ (59). Auch Odysseus muss der Erfahrung entsagen: Um als Held zu gelten, darf er sich der Verlockung nicht hingeben. Um souverän zu sein, muss er sich nicht nur von der Natur ablösen; er muss vielmehr einen Teil seiner eigenen Erfahrung schmerzhaft abschneiden, darf diesen Verlust aber nicht innerlich zulassen: „Der Entronnene muss erkalten, um den Horror seiner Erfahrung zu einer Erzählung formen zu können“ (77).

Das Subjekt hat also deshalb Schwierigkeiten, sein Scheitern zuzugeben, weil die schmerzhafte alltägliche Selbstdisziplinierung, die nötig ist, um überhaupt als Subjekt anerkannt zu werden, sich sonst als völlig umsonst erlitten darstellt. Anstatt also kollektiv die alltägliche Disproportion von gefühlt möglicher Erfahrung und objektivem Zwang zur Entsagung zu artikulieren – oder sich zumindest rückblickend einen Moment der Trauer und der Anerkennung der Verluste zuzugestehen, die das Menschheitsprojekt der „Modernisierung“ aller Lebensbereiche gefordert haben und bis heute fordern – halten die Umgangsformen der bürgerlichen Welt ein ganz anderes Identifikationspotenzial bereit: Härte und Kälte gegenüber den scheinbar alternativlosen Entwicklungen. Die Verdrängung des Leids an der emotionalen Entsagung führt zu einem Lustgewinn an der Härte gegen sich selbst, die materiell dadurch möglich wird, dass ohnehin prinzipiell bereits andere aus dieser Erfahrungswelt ausgeschlossen sind. Sie kombinieren sich zu einer Lust an der Kälte gegenüber dem Leiden anderer.

II. Kälte, Wärme und affektive Rechtfertigungsstrukturen

Mit diesem umfänglich rekonstruierten Instrumentarium eines kritischen Subjektbegriffs wendet sich Kohpeiß dem Irrationalismus in der gegenwärtigen Steuerung von Migrationsprozessen zu. Es handelt sich jedoch nicht um eine einfache Anwendung dieser Begriffe; vielmehr geht es um den Aufweis, dass selbst in diesem Stand der Diskussion der Kritischen Theorie noch konzeptionelle Probleme anwesend sind.

Denn mit dem wie oben definierten Begriff der Kälte allein hätte man laut Kohpeiß den Charakter der gegenwärtigen Situation immer noch verfehlt. Zur bürgerlichen Kälte gehört nämlich auch das Gegenteil einer Wärme des Diskurses, die sich an der gegenwärtigen Emotionalisierung der Politik zeigen lässt. In der heutigen Konstellation ist der vermeintliche politische Sachzwang eben kein neutrales Phänomen mehr, dem man sich nur kalt unterwerfen kann. Der Sachzwang wird stattdessen affektiv aufgeladen. Nicht allein aus kalter Überzeugung, sondern nur mit den begleitenden, demonstrativ vor sich hergetragenen „Bauchschmerzen“ werden politische Entscheidungen heute kommuniziert.

Der Sachzwang wird selbst zu etwas, an dem man symbolischen Schmerz zu empfinden scheint. Ausgerechnet dieser symbolische Schmerz, und nicht die schmerzlichen Folgen für real Betroffene, steht im medialen Vordergrund. Für die Entscheidungstragenden heißt das: Nicht nur trotz, sondern durch die Emotionen ist die eigene politische Subjektivierung scheinbar geglückt – die Objektivierung der Betroffenen wird dabei in Kauf genommen. Kohpeiß hat hier ganz explizit den politischen Migrationsdiskurs der liberalen Mitte im Visier, und sie trifft ihn zielgenau. Ihr Aufweis einer affektiven Aufladung des Migrationsdiskurses, der Kälte und Gleichgültigkeit nicht zurückdrängt, sondern geradezu ermöglicht, gelingt – allerdings mit der Einschränkung, dass die Gegenprobe methodisch kaum zu leisten ist: Was würde passieren, wenn die stabilisierende Wirkung von Wärme und Kälte wegfiele?

Es bleibt deshalb bei den Indizien, dass die Gegenwart sich durch Ignoranz, Kälte und Passivität einerseits auszeichnet, die andererseits von einer Art Kulturindustrie der Hilfeleistung und Rettung flankiert wird. So gibt es zwar eine Anzahl an Nichtregierungsorganisationen, die Geflüchteten helfen –finanziell, juristisch oder durch direkte Seenotrettung. Gleichzeitig gibt es in denselben Staaten aber auch einen hochgerüsteten Grenzschutz, der nicht einmal mit Gewehren Jagd auf Geflüchtete machen muss, sondern sich im Sinne des Schlagworts der Nekropolitik damit begnügen kann, die Menschen zurück auf das Meer zu schieben. Die potenzielle Gegenthese, es bestünde kein Zusammenhang zwischen diesen beiden Seiten, erscheint damit nicht weniger voraussetzungsreich als Kohpeiß’ These einer funktionalen Bezogenheit beider Seiten aufeinander:

Im Kontext des europäischen Grenzschutzes ist deutlich geworden, dass individualisiertes Mitgefühl, stetige Bekenntnisse zu humanistischen Werten und die Narrative der Entwicklungshilfe vor allem die Funktion erfüllen, die untragbare Situation an den Außengrenzen mit einem europäischen Selbstbild zu versöhnen. (125)

Kein Mensch in Europa kann die simultane, fatale Realität dieser beiden Seiten übersehen haben. Und doch erscheint der emotionale Haushalt der westlichen Gesellschaften diesbezüglich völlig ausgeglichen. Aus der Gleichzeitigkeit des Spektakels vom Retten einerseits und dem stillen Sterbenlassen andererseits scheint gesamtgesellschaftlich kein Widerspruch zu entstehen. Die Gesellschaft scheint zufrieden damit, ihre inneren Gegensätze gleichsam auf dem Rücken der Migrierenden auszutragen. Zusammengefasst ist Kälte daher als funktionaler Teil dieser Existenzweise zu sehen: „Kälte ist die affektive Ermöglichungsbedingung verwalteter Gewalt in Europa und gedeiht im Weltverhältnis bürgerlicher Subjekte der Gegenwart – oder diese Subjekte gedeihen im Schutzraum der Kälte“ (89).

III. Defizit oder Fehler im Subjekt?

Kohpeiß deutet nun diesen erklärungsbedürftigen Befund nicht als Defekt einer noch unvollständig ausgebildeten Rationalität, sondern von der These einer Fehlkonstruktion des Subjekts, zusammen mit seinen begleitenden Werten von Universalismus, Transparenz und Fortschritt, her aus:

Der scheinbare Widerspruch einer sinnlichen Ignoranz auf der einen und der moralischen Überhöhung von Hilfeleistungen auf der anderen Seite ist Ausdruck einer Subjektivität, die beides integrieren kann. Ein so gelagertes bürgerliches Selbstverständnis stabilisiert den rassistischen Charakter der Europäischen Union und legitimiert sie zugleich als moralische Institution. (113)

Dieses Selbstverständnis arbeitet also nicht nur negativ, indem es eine affektive Positionierung sanktioniert, sondern positiv und produktiv, indem es einen Diskurs der Rettung und des Mitleids hervorbringt. Der Kampf zwischen »good whiteness« und »bad whiteness« bildet die Gewalt der Migration erneut auf einer innereuropäischen Ebene ab, von der die eigentlich Betroffenen nicht angesprochen sind.

Deutlich wird das am Beispiel des Schlagabtausches zwischen Carola Rackete und Matteo Salvini, bei dem sich die deutsche Kapitänin eines Seenotretters über die Blockadehaltung des italienischen Ministers schlicht hinwegsetzte. Rackete wurde daraufhin in den deutschen Medien zu einer modernen widerständigen Ikone erklärt, während Salvini als bösartig verteufelt werden konnte, obwohl in Wirklichkeit ja nicht er allein, sondern die gesamte Innenministerkonferenz der EU für genau die Regeln verantwortlich zeichnet, die er umzusetzen versuchte. Dass diese Augenwischerei medial so gut funktioniert, lässt sich als Anzeichen dafür lesen, dass die Urteilskraft der politischen Subjekte Europas tatsächlich beschädigt ist. Im Ergebnis hat die Fokussierung der Institutionen auf diese Subjekte schlicht eine politische Stabilität und Passivität gegenüber der Unterordnung von Lebenschancen und den Anforderungen von globalen Arbeits- und Ressourcenmärkten zur Folge. „Die Abschottungspolitik der EU“ lässt sich, so Kohpeiß, „ohne großen zivilen Widerstand fortsetzen, weil sie über eine affektive Quelle der Rechtfertigung verfügt“ (120).

Diese These – dass medienwirksame Rettung und verdecktes Sterbenlassen nicht ihr jeweiliges Gegenteil darstellen, sondern eine funktionale Einheit für die Aufrechterhaltung der allgemeinen emotionalen Ordnung der Gesellschaft bilden – lässt sich aufgrund ihrer Reichweite schwer mit Beispielen stützen. Kohpeiß trägt stattdessen weitere Indizien aus Kunst und Medien (97) zusammen, einen zentralen methodischen Anhaltspunkt lässt der Band aber vermissen. Es ist die Auseinandersetzung mit der Theoriegeschichte selbst, die als ein solcher Anker herhalten muss – aber eben auch kann. Kohpeiß’ zentrales Anliegen ist nicht der empirische Nachweis der Kälte, sondern den so skizzierten, vermuteten Zusammenhang zwischen der Funktionsweise von bürgerlichen Subjekten und Institutionen einerseits, der Philosophiegeschichte und den historischen Abläufen der Akkumulation andererseits überhaupt in einem Zug zu entfalten und in seiner Geschlossenheit als Ganzes zur Diskussion zu stellen.

IV. Die Unreformierbarkeit des Subjekts und die Politik der Wut

Es stellt sich angesichts dieses geschlossenen Gehäuses die Frage, ob sich das einmal auf diese Weise konstituierte bürgerliche Subjekt aus seiner selbst-stabilisierenden, immunisierten Sackgasse herausführen lässt. Offenbar kann, aus Kohpeiß’ Perspektive, die Lösung nicht einfach in einer Öffnung der Politik für Affekt, Emotion, Performanz und Ästhetik bestehen, denn diese sind ja bereits ein funktionaler Teil der Kälte. Kohpeiß folgt deswegen der Spur der Frankfurter Schule und verwandten Kritiken, die einer ähnlichen Sackgasse auf der Spur waren, möchte aber in zwei Hinsichten noch über die bekannten Vernunftkritiken hinausgehen.

Erstens: Im Anschluss an den radikalen Pessimismus der frühen Frankfurter Schule hat sich auch für Kohpeiß der Zirkel der verhärteten Zustände bereits geschlossen. Der aufgeklärte Mensch lebt faktisch in einer Welt, die sich der Entmenschlichung von Millionen im Zeitalter der kolonialen Imperien verdankt. Das Bedürfnis, diesen Zusammenhang zu denken, ohne ihn von vorneherein als aufgelöst zu betrachten, ist mehr als berechtigt. Hier schließt Kohpeiß an den Bestand der dekolonialen Theorie an, die mit den Wertigkeiten der westlichen Philosophie tatsächlich noch nie identisch war, und deshalb nicht von ihr kontaminiert erscheint. So ist das „Eigentum am Selbst“ ein wichtiger Bestandteil des souveränen, sich selbst transparenten Subjektideals. Dieses Eigentum war versklavten Menschen jedoch gerade vorenthalten. Sie mussten daher einerseits, so die These, ganz andere Formen hervorbringen, Subjekt zu sein (256). Andererseits wirkt diese koloniale Realität aber auch auf das Selbstverständnis der europäischen Theorie zurück. So fragt Kohpeiß: „Anhand welcher Kriterien grenzte sich das europäische Selbst vom Versklavten Selbst ab?“ (247) Und: „Wie würde es aussehen, hauptsächlich mit der Welt und nicht mehr vorrangig mit dem eigenen Selbst befasst zu sein?“ (178).

Kohpeiß zeigt hier den Unterschied zwischen der Vernunftkritik der Kritischen und der dekolonialen Theorie. Erstere bleibt trotz der radikalen Geste inhaltlich immer dem bürgerlichen Aufklärungsideal verpflichtet. Kohpeiß rekonstruiert diese „Grenze von Adornos politischer Risikobereitschaft“ (165) folgendermaßen:

Horkheimer und Adorno [bekennen] sich vor allem in Momenten konkreter politischer Fragen zur Vernunft […]. Sie trauen der Vernunft die genuin politische Funktion zu, das Selbst vor der Katastrophe zu schützen, ihm Handlungsspielräume auch dann zu eröffnen, wenn die Umstände erdrückend sind. Horkheimer findet im Verstand einen Aufenthaltsort – wie ein Schlafzimmer im bürgerlichen Zuhause. Hier sind das bürgerliche Selbst und alle intimen Aspekte seines Lebens vor Interventionen geschützt. (179)

Dem stellt sie die Politik der Wut von Elsa Dorlin (2020: 185–191) gegenüber, die die Selbstverteidigung der Schriftstellerin June Jordan gegen einen weißen Mann beschreibt:

Im Unterschied zu Horkheimers Krisenstrategie ist Jordans Angstabwehr in der Unmittelbarkeit der Bedrohung ihres Lebens kaum als Verstandeshandlung zu fassen. […] Im Unterschied zu Horkheimer hat Jordan keine zwei Zimmer. […] Der Lähmung der Angst zu entkommen kann hier nur bedeuten, zu versuchen, die Katastrophe im Vollzug zu unterbrechen […]. Wer Angst hat, greift nach den Ressourcen, die ihm am nächsten liegen. Während Horkheimer dem Verstand vertraut, ihn der Unmittelbarkeit der Angst entheben zu können, hat Jordan eine affektive Selbstverteidigung ausgebildet […]. (180)

Dieser Unterschied ist kein kosmetischer, sondern betrifft die offene Frage nach der Reichweite individueller Subjektivität. In seinem kurzen Aufsatz zur Resignation, auf den das Schlagwort „Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend“ zurückgeht, kann Adorno noch auf die Geschlossenheit der bürgerlichen Erfahrung vertrauen, und schreibt: „Die Gesellschaft, die undurchdringlich den Menschen gegenübersteht, sind doch sie selbst.“ (Adorno 2003: 797). Daraus folgt ein nicht weniger tiefes Vertrauen auf die Konsistenz des Denkens: „Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden“ (ebd.: 799). Für Kohpeiß ist diese Erfahrung jedoch keine universelle. Sie trifft womöglich nicht einmal auf eine Mehrheit der Menschen zu. Die von Adorno im Anschluss an Marx erhoffte, tendenzielle Identität von Gesellschaft und ihren Subjekten ist brüchig. An den Rändern des „Westens“ steht sich die Gesellschaft nicht selbst gegenüber. Die kolonisierten Menschen machen ihre Geschichte weder selbst noch aus freien Stücken. Ob aber wirklich alle Subjekte für den zwanglosen Zwang des triftig formulierten Gedankens überhaupt erreichbar sind, wie diese Verbindlichkeit hergestellt werden kann, und ob andere Wege überhaupt denkbar sind, bleibt eine offene Frage. Diese Frage aber wirklich zu stellen – und nicht vorab bereits entschieden zu haben – das ist das Feld, auf dem sich sowohl Kritische Theorie als auch dekoloniale Epistemologien bewähren müssen.

Zweitens lässt sich nun, nachdem die allzu glatte Oberfläche dieses Subjektmodells aufgeraut wurde, fragen, wie Subjekte denn empirisch überhaupt beschaffen sind, wenn sie selbst von bürgerlichen Herrschaftsformen noch ausgeschlossen bleiben und sich in Situationen reiner Gewaltherrschaft wiederfinden. Die Ergebnisse lassen sich dann gewinnbringend mit der oft lückenhaften Position von der am Subjekt orientierten politischen Theorie kontrastieren. Kohpeiß führt hier mehrere Beispiele an, die gerade auch die Ambivalenz dieser empirischen Subjekte herausarbeiten. Nicht alle Fälle sind gleichermaßen überzeugend. Der erste Fall ist der der Versklavten Carmélite, die trotz aller vertraglichen Zusagen ihr Eigentum an sich selbst nicht zurückbekommen kann. In diesem Beispiel liegt auf der Hand, dass ihre Schwierigkeiten vor Gericht nicht mit ihrer Subjektposition, sondern schlicht mit der offenbar von Anfang an parteiischen und von ökonomischen Interessen geleiteten Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung zusammenhängen. Der Fall Rachael Pringle Polgreen, einer Versklavten, die nach ihrer Befreiung selbst zur brutalen Sklav*innenhalterin wird, fordert die konventionellen Begriffe der Handlungsmacht schon etwas deutlicher heraus (334).

Am stärksten funktioniert das Argument aber in einer pointierten Kritik an Hannah Arendts Intervention gegen die Art und Weise, wie die Desegregation von people of color an der Little Rock Central High School umgesetzt wurde. Hier ist die Fehlleistung des bürgerlichen Denkens am klarsten erkennbar: Arendt sorgt sich um die Unterbrechung des – aus ihrer Sicht zentralen – politischen Prozesses. Denn die Desegregation der Schule wurde aus Arendts Sicht nicht politisch erreicht, sondern militärisch erzwungen. Dass die Jugendlichen, die unter Schutz des Militärs in die Schule gebracht werden mussten, dabei schwersten Anfeindungen ausgesetzt waren, ist für Arendt kein Erfolg, sondern ein Skandal. Die Lage, in die die Kinder gebracht wurden, ist für Arendt „entwürdigender als der vorherige Zustand“ (306), weil sie dadurch scheinbar jeglicher politischen Handlungsfähigkeit beraubt wurden. Arendt kann, so Kohpeiß, nicht sehen und will (314) nicht verstehen, warum und inwiefern gerade auch die Position radikaler Verwundbarkeit, „Nonperformance“ und „Selbst-Objektifizierung“ (310) eine genuin politische Handlung darstellen, obwohl sämtliche Kriterien für eine politische Subjektivität im bürgerlichen Sinn gar nicht erfüllt sind. Hier weist Kohpeiß also überzeugend auf einen Fehler im Subjektbegriff hin – der dazu führt, dass Arendt selbst entgegen ihrer eigenen kritischen Intention zu einer völlig falschen Einschätzung der Handlungsfähigkeit im Kontext von Unterdrückung kommt – und zeigt die Notwendigkeit und Möglichkeit eines Denkens jenseits dieses Rahmens.

V. Fazit: Für eine unvollständige Politik ohne Subjekt?

Es geht Kohpeiß also weder um einen strikten Nachweis einer Uneinlösbarkeit des Subjektideals der Kritischen Theorie, noch um die Ausformulierung einer fertigen Alternative zu diesem Modell. Vielmehr sollen die konkret sichtbaren Hinweise darauf ernst genommen werden, dass es sich lohnen könnte, politische Subjektivität anders zu denken als im Modell der Aufklärungsphilosophie, das in vielen Hinsichten immer noch im Scheitern begriffen ist.

Mit einem Blick auf dieses theoretische und empirische Scheitern widmete sich Kohpeiß’ Band ausführlich den Anhaltspunkten für mögliche alternative Subjektbildungen. Da die affektive Dimension nicht erneut einfach abgeschnitten werden soll, stand dabei oft die Suche entlang solcher Subjektpositionen im Vordergrund, die sich schon immer in kontrollierter oder kritischer Weise mit dem produktiven Einsatz von Emotion und Affekt befasst haben, beziehungsweise aus prekären, gefährdeten oder unvollständigen Subjektpositionen agieren. Eine Diskussion der Details dieser Ansätze – von Audre Lordes Emanzipation durch Gefühle (202) über Denise Ferreira da Silvas Anti-Transparenz (219), die breite Diskussion über slave agency (282) bis zu Fred Motens Politik ohne Subjekt (295) führt über den Rahmen dieser Besprechung hinaus.

Die entscheidende Schlagkraft von Kohpeiß’ Argument liegt aber nicht in der Profilierung dieser Ansätze gegen andere Systeme. Die an sich richtige Initiative, beschädigte und unvollständige Subjektivierungen nicht allein defizitär zu denken, führt dafür zu oft dazu, dass die dekolonialen und dekonstruktiven Ansätze weitaus weniger textkritisch aufbereitet werden als die Ausgangslage in der Kritischen Theorie. Besonders die für das Argument der genealogischen Kritik so grundlegende These einer Symmetrie zwischen Subjekt- und Objektivierungsformen wird nicht weiter überprüft oder kontextualisiert: „Keinesfalls“, so Kohpeiß in Berufung auf die Position von Jacques Rancière, „sei die sinnliche Vermittlung der Politik dieser nachgestellt, sondern die ästhetische Ordnung der Politik ist den Machtverhältnissen, die sie vermeintlich bloß abbildet, gleichursprünglich“ (101). Damit scheint die Uneinlösbarkeit des Anspruchs des klassischen Subjektbegriffs schon im vornherein entschieden, was an sich zu verschmerzen wäre, wenn es nicht dazu führte, die dekonstruktiven Theorien gleichsam von der Auseinandersetzung mit den Implikationen dieses Anspruchs freizusprechen und auf diese Weise seine Reichweite zu begrenzen.1

Gerade aus dem materialistischen Erbe der Kritischen Theorie hätte es Möglichkeiten gegeben, zwischen dem stark vereinfachenden Diktum einer solchen Gleichursprünglichkeit und den ebenfalls verkürzenden, klassischen Subjektmodellen zu vermitteln. Der Ansatz läuft dadurch Gefahr, die Wirksamkeit von ästhetisch vermittelten Einwänden zu überschätzen, während Machtungleichheiten dagegen unterschätzt werden. Die theoriepolitische Perspektive – „Wie kann die Überzeugung, selbst Medium und Gegenstand der Veränderung zu sein, zugunsten der Bereitschaft gebrochen werden, transformativen Kräften zu folgen, die sich der eigenen intellektuellen Kontrolle entziehen?“ (184) – liest sich genau deshalb unweigerlich wie eine Drohung: Ein politisches Feld, das der intellektuellen Kontrolle von Einzelnen entzogen bleibt, würde (und wird stets) postwendend von organisierten Partikularinteressen besetzt, anstatt zu einer Entfaltung von widerständigen Multituden zu führen.

Stark und überzeugend ist Kohpeiß’ Argument dagegen immer da, wo es auf die systematischen Lücken im Bestand der Kritischen Theorien aufmerksam macht und wo es sich der Analyse der ideologischen Vorstellungswelten konkreter politischer Akteure zuwendet.

Literatur

Adorno, Theodor W. „Resignation“ In ders., Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 794–799.

Dorlin, Elsa. Selbstverteidiung. Eine Philosophie der Gewalt. Übers. von Andrea Hemminger. Berlin: Suhrkamp, 2020.


  1. Kohpeiß führt Èdouard Glissants Annäherung an den Begriff von einem Selbst im Zerfall an: „It’s the moment when one consents not to be a single being and attempts to be many beings at the same time.“ (297). Die wichtige Frage, wer »one« eigentlich ist, und wie in diesem Kontext sinnvoll von Konsens die Rede sein kann, muss weiter diskutiert werden.↩︎

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