Nussbaum, Martha: Gerechtigkeit für Tiere. Übersetzt von Manfred Weltecke. Darmstadt: wbg 2023. 416 Seiten. [978-3-8062-4559-2]

Rezensiert von Luca Hemmerich (Technische Universität Darmstadt)1

74.000.000.000 Hühner wurden weltweit im Jahr 2021 zum Fleischverzehr geschlachtet – mehr als jemals zuvor. Der Großteil dieser unvorstellbaren Anzahl individueller Tiere hatte ein nur wenige Wochen langes Leben unter den qualvollen Bedingungen industrieller Tierhaltung hinter sich. Doch die moderne Intensivtierhaltung ist nur das eklatanteste Beispiel für die grausame Behandlung nichtmenschlicher Tiere in heutigen Gesellschaften, die von der Zerstörung von Lebensräumen über die Misshandlung und Vernachlässigung von Haustieren bis hin zu unnötigen und leidvollen Tierversuchen reicht. Ausgehend von dieser Diagnose fragt Martha Nussbaum in ihrem neuen Buch Gerechtigkeit für Tiere, was wir nichtmenschlichen Tieren moralisch und politisch schulden und wie wir zu einer Welt kommen könnten, in der ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Als theoretische Grundlage des Werks dient der gemeinsam mit Amartya Sen entwickelte und in zahlreichen Publikationen über Jahrzehnte ausgearbeitete Capabilities Approach, der zunächst für Menschen entworfen wurde und auf die umfassende Förderung individueller Fähigkeiten zielt. Nussbaum wendet diesen Ansatz nun auf nichtmenschliche Tiere an und knüpft damit an die philosophische Bearbeitung tierethischer Fragestellungen an, die sie bereits in früheren Werken wie Die Grenzen der Gerechtigkeit (dt. 2014) begonnen hatte.

Kritik alternativer Zugänge

Der systematische Teil des Buchs beginnt mit einer Abgrenzung von anderen Zugängen zur Tierethik. Nussbaum nimmt sich dabei drei Ansätze vor: erstens einen pragmatischen Zugang, den sie den „Uns-so-ähnlich“-Ansatz nennt, zweitens den Utilitarismus und drittens die kantianische Theorie Christine Korsgaards. Der „Uns-so-ähnlich“-Ansatz versucht, rechtliche Ansprüche von nichtmenschlichen Tieren in deren Ähnlichkeit zum Menschen zu begründen und auf diesem Weg etwa Delfinen oder einigen Primatenarten grundlegende Rechte zuzuerkennen. Diese rechtlichen Fortschritte könnten dann, so etwa die Hoffnung des amerikanischen Juristen Steven Wise, als Türöffner für die Rechte anderer Tierarten fungieren. Nussbaum kann dieser Herangehensweise nichts abgewinnen, sieht sie sie doch in der theologischen Tradition der Scala Naturae verankert, einer hierarchischen Stufenleiter der Tierarten, die im Menschen als Krone der Schöpfung gipfelt. Auch wenn es sich beim „Uns-so-ähnlich“-Ansatz eher um eine juristische Strategie als um eine philosophische Theorie handelt, läuft er aus Nussbaums Sicht Gefahr, die wissenschaftlich überholte Vorstellung der Scala Naturae argumentativ zu reproduzieren, die Tiere gerade nicht in ihrer Andersartigkeit anerkennt. Damit sei denjenigen Tierarten, die wir nicht als menschenähnlich wahrnehmen, ein Bärendienst erwiesen.

Mit utilitaristischen Zugängen von Bentham bis Singer kann Nussbaum schon etwas mehr anfangen, hält sie diesen doch ihre „mutige Ausrichtung […] auf das Leiden“ und die „mutige Anerkennung der weitgehenden Gemeinsamkeiten zwischen dem Menschen und anderen Tieren“ (74) zugute. Dennoch konfrontiert sie sie mit einer langen Liste bekannter Einwände, vom Problem adaptiver Präferenzen über die Vernachlässigung von Verteilungsfragen bis hin zur Einebnung qualitativer Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Freude. Wie das letztere Argument nahelegt, hegt Nussbaum unter den klassischen Utilitarist*innen die größte Sympathie für John Stuart Mill, dem sie jedoch wiederum vorhält, die qualitativen Differenzen zwischen verschiedenen Freuden mit seiner Unterscheidung zwischen ‚höheren’ und ‚niederen’ Freuden in problematischer Weise zu hierarchisieren.

Unter den drei diskutierten Zugängen steht Nussbaum der kantianische Ansatz von Christine Korsgaard am nächsten. Korsgaard unternimmt in ihrem Buch Tiere wie wir (dt. 2021) den Versuch, Kants berüchtigte Leugnung eines Eigenwerts nichtmenschlicher Tiere zu überwinden, indem sie eine naturalistische Dimension in dessen Werk ausmacht und mithilfe aristotelischer Einflüsse verstärkt. Zugleich, und darin besteht Nussbaums Problem mit Korsgaards Zugang, hält sie jedoch an der kategorischen Unterscheidung zwischen dem Menschen als rationalem Tier einerseits und nichtmenschlichen Tieren andererseits fest, auch wenn sie letzteren den moralischen Anspruch zuspricht, ihrer Speziesnatur entsprechend gedeihen zu können. Nussbaum plädiert stattdessen dafür, die Verteilung der Fähigkeiten zum rationalen und moralischen Handeln unter verschiedenen Spezies eher als Kontinuum zu denken denn als binäre Opposition. Auch unser moralisches Handeln sei teilweise evolutionär und instinktiv bestimmt; und umgekehrt zeigten nichtmenschliche Tiere altruistisches Verhalten, das eine kulturelle Komponente aufweise, wenn man etwa an das Training von Hunden denke.

Nicht mit jedem der Pfeile, die Nussbaum gegen konkurrierende Ansätze abschießt, trifft sie ihr Ziel. So hält sie Nozicks Erfahrungsmaschineneinwand ausgerechnet dem Präferenzutilitarismus entgegen, der – im Gegensatz zum klassischen hedonistischen Utilitarismus – gegen diesen gerade weitgehend immun ist. (Die meisten Menschen dürften einer hochauflösenden Simulation von ihren Freund*innen Zeit mit den echten Personen vorziehen, und ein Leben in der Erfahrungsmaschine würde diese starken Präferenzen frustrieren.) Auch die Behauptung, es sei innerhalb eines utilitaristischen Ansatzes „schwer auszuschließen, dass Menschen eine sehr intensive Befriedigung aus dem Verzehr von Fleisch ziehen, was möglicherweise die Schmerzen vieler Tiere aufwiegen würde“ (77), wirkt weit hergeholt, wenn man sich die schiere Größenordnung des Leids in der industriellen Tierhaltung vor Augen führt. Und wenn Nussbaum Korsgaard entgegenhält, dass „[n]ur wenige Menschen perfekte Kantianer“ seien (102), scheint sie kurz zu vergessen, dass deren kantianischer Ansatz natürlich nicht behauptet, dass Menschen im Gegensatz zu nichtmenschlichen Tieren moralisch makellose, sondern lediglich, dass wir moralfähige Wesen sind.

Trotz vereinzelter derartiger Blindgänger erscheint die grundsätzliche Stoßrichtung von Nussbaums Kritik alternativer Ansätze überzeugend. Dass Wohlergehen für Menschen wie auch für nichtmenschliche Tiere mehr als nur Präferenzerfüllung bedeutet, ist plausibel, und anhand des Begriffs adaptiver Präferenzen entwickelt die Autorin eine treffende Kritik subjektivistischer Wohlergehenskonzeptionen. Und auch wenn kaum vorstellbar ist, dass eine unparteiische Nutzenabwägung im Falle des Fleischverzehrs zugunsten von (scheinbaren) menschlichen Geschmacksinteressen ausfiele, ist die Aussage, dass utilitaristische Ansätze Verteilungsfragen nicht im Blick haben, ebenso unspektakulär wie richtig.

Der Fähigkeitenansatz und der moralische Status nichtmenschlicher Tiere

Im Anschluss an ihre Kritik alternativer Zugänge stellt Nussbaum ihren eigenen Fähigkeitenansatz vor, dessen Grundgedanken sie wie folgt zusammenfasst: „Wie der Mensch, so hat auch jedes Tier eine Lebensform, die eine Reihe wichtiger Ziele umfasst, nach denen es strebt“ (125). Wie Korsgaard sieht der Fähigkeitenansatz das individuelle Wesen als Zweck an sich und nicht nur als Mittel. Dabei zielt er darauf, Menschen und Tiere materiell dazu zu befähigen, ihrer arttypischen Lebensform entsprechend zu gedeihen. Gerechtigkeit versteht Nussbaum nun als die Förderung des solchermaßen verstandenen individuellen Gedeihens, wobei jedes Lebewesen stets als Zweck an sich behandelt werden muss (123–124). Zwischen Forderungen der Gerechtigkeit und anderen moralischen Ansprüchen scheint sie dabei keine klare Abgrenzung vorzunehmen. Trotz des Titels wird der Gerechtigkeitsbegriff im Buch nicht präzise entwickelt, was damit zusammenhängen mag, dass Nussbaum Gerechtigkeit und gutes Leben miteinander engführt (18). Beinahe tautologisch erscheint etwa die folgende Begriffsbestimmung: „Ungerechtigkeit setzt wesentlich ein Streben nach bedeutsamen Zielen voraus, das nicht nur durch Unglück, sondern auch durch unrechtmäßige Vereitelung [wrongful thwarting], egal ob fahrlässig oder vorsätzlich, blockiert wird.“ (31)

Ihren Ansatz situiert Nussbaum seit Mitte der 1990er Jahre innerhalb eines politischen Liberalismus rawlsianischer Prägung, will ihn also nicht mehr als umfassende Konzeption des guten Lebens verstanden wissen, sondern als eine nichtmetaphysische ‚politische Konzeption’, auf die sich Vertreter*innen verschiedener Weltanschauungen im Rahmen eines übergreifenden Konsenses einigen könnten. Dass sich ein derartiger Konsens über Nussbaums Verteidigung von Tierrechten innerhalb tierethischer Diskurse erzielen ließe, ist vielleicht denkbar; gesamtgesellschaftlich scheint eine solche Einigung jedoch derzeit nicht in Sicht. Daher bleibt hier zumindest fraglich, ob Nussbaums substanzielle Positionen tatsächlich zum politischen Liberalismus passen.

An die Anwendung des Fähigkeitenansatzes auf nichtmenschliche Tiere stellen sich nun zwei zentrale Fragen. Die erste Frage lautet, wie die Liste zentraler Fähigkeiten für verschiedene Tierarten jeweils aussieht und wie sie methodisch bestimmt wird; die zweite, welchen Lebewesen überhaupt ein moralischer Status zukommt. Auf beide Fragen gibt Nussbaum eine theoretische und eine praktische Antwort. Was die Liste zentraler Fähigkeiten angeht, so sollten wir aus ihrer Sicht idealerweise „über so viel Wissen verfügen, dass wir für jede Art von Lebewesen eine eigene Liste erstellen könnten, auf der die Dinge stehen, die für sein Überleben und Gedeihen am wichtigsten sind. Tatsächlich wird die Liste von den Tieren selbst geschrieben, indem sie bei ihrem Versuch zu leben ihre wesentlichsten Bedürfnisse zum Ausdruck bringen“ (130). In der Praxis stelle die bekannte Liste des Fähigkeitenansatzes für Menschen eine sinnvolle Basis dar, von der ausgehend man die spezifischen Gedeihenserfordernisse jeder Tierart genauer unter die Lupe nehmen könnte.

Bei der zweiten Frage handelt es sich um einen Dreh- und Angelpunkt der Tierethik: Welche Lebewesen besitzen einen moralischen Status? Wen müssen wir in unsere moralischen und, wie Autor*innen wie Will Kymlicka und Sue Donaldson betonen, politischen Überlegungen einbeziehen? Nussbaum bringt dazu den Kernbegriff des Empfindungsvermögens in Stellung, will diesen allerdings weiter verstanden wissen, als etwa Benthams ([1789] 1996: 283) berühmter Ausspruch „the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?“ nahelegen würde. Empfindungsvermögen umfasst für Nussbaum drei Elemente: erstens die Fähigkeit zum „Erkennen des Guten und des Schädlichen“ (158), die über die bloße Fähigkeit zur Schmerzempfindung hinausgeht; zweitens eine bewusste Sinneswahrnehmung – „[d]ie Welt hat für das Leben ein bestimmtes Aussehen“ (158) –; und drittens ein Sinn für Bedeutsamkeit und Dringlichkeit. Diese Verbreiterung des Begriffs der Empfindungsfähigkeit gegenüber hedonistischen Auffassungen erscheint in ihrer Stoßrichtung grundsätzlich plausibel, es bleibt jedoch etwas unscharf, worin genau etwa ein „bedeutsame[s] Streben“ (160) besteht. Zu dieser theoretischen Grundlegung kommt auch hier die praktische Frage hinzu, wie wir erkennen können, ob ein Lebewesen Empfindungsvermögen besitzt. Nussbaum greift dazu auf eine Mehrzahl empirischer Indikatoren zurück, die in der Biologie verwendet werden – unter anderem die Untersuchung der Neuroanatomie eines Lebewesens, das Verhalten bei Verletzungen und anderen Stimuli, sowie die Reaktion auf Betäubungsmittel. Ihr Forschungsüberblick kommt zu dem Schluss, dass die Präsenz von Empfindungsvermögen in Säugetieren und Vögeln heute als unumstritten gelten kann; auch bei Fischen beginnt sich ein dahingehender wissenschaftlicher Konsens abzuzeichnen. Bei wirbellosen Tieren besteht hingegen eine größere Unsicherheit; hier neigt Nussbaum im Anschluss an die Literatur dazu, Kopffüßern wie Tintenfischen Empfindungsfähigkeit zuzuschreiben, Insekten dagegen – wie auch Pflanzen – eher nicht. Da in diesen Fragen jedoch noch große Unklarheit besteht, erscheinen weitere Forschung und die Anwendung eines Vorsichtsprinzips in der Praxis geboten; denn der Kreis derjenigen Tierarten, von denen wir glauben, dass sie Empfindungsvermögen besitzen, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich vergrößert.

Fleischverzehr und das Übel des Todes

Ein weiteres klassisches philosophisches Problem, das praktische Implikationen für unser Verhältnis zu nichtmenschlichen Tieren besitzt, ist die Frage nach einem intrinsischen Übel des Todes. Epikur (1973: 41) bestritt bekanntlich, dass der Tod uns schaden kann, da es zum Zeitpunkt des Todes niemanden mehr gebe, für den der Tod schlecht sein könne: „Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr“. Für die Tierethik ist die Frage nach dem Übel des Todes insofern relevant, als sie die Frage aufwirft, ob die schmerzlose Tötung von Tieren, die ein gutes Leben geführt haben, prinzipiell erlaubt sein könnte. Dabei handelt es sich zwar insofern um eine eher theoretische Frage, als die große Mehrheit der Tiere, die heute zum Verzehr getötet werden, ein so leidvolles Leben führen, dass ihre bloße Existenz in derartigen Lebensbedingungen selbst unabhängig von ihrer Tötung ein gravierendes moralisches Unrecht darstellen dürfte. Dennoch könnten aus Nussbaums Sicht manche ‚humane’ Formen der Tierhaltung und -tötung legitim sein, wenn sich herausstellen sollte, dass der Tod für bestimmte nichtmenschliche Tiere kein oder nur ein sehr geringes intrinsisches Übel mit sich bringt.

Gegen die epikureische Auffassung des Todes führt Nussbaum das „Argument der Unterbrechung“ (192) ins Feld, demzufolge das Übel des Todes in der Unterbrechung zeitlich ausgedehnter Projekte, Vorhaben oder Aktivitäten besteht. Dieses Prinzip möchte die Autorin nun auf viele nichtmenschliche Tiere übertragen: „Zeitlich ausgedehnte Vorhaben gibt es eindeutig im Leben aller Primaten, Elefanten, Vögel, Nagetiere, Rinder, Schweine, Meeressäuger, Hunde, Katzen und Pferde“ (200), was sich unter anderem darin zeige, dass diese Tiere Fähigkeiten wie ein gewisses Erinnerungs- und Antizipationsvermögen besitzen. Bei Fischen zieht Nussbaum jedoch in Betracht, dass diese in einer „immerwährenden Gegenwart“ (201) leben könnten, sodass ihnen möglicherweise „durch einen schmerzlosen Tod mitten in einem gedeihlichen Leben kein Leid zugefügt“ (202) werde und man sie daher unter entsprechenden Bedingungen zum Verzehr töten könne.

Nussbaum gesteht zu, dass diese Argumentation nicht unproblematisch ist. Einmal abgesehen davon, dass ihre Aussage über Fische empirisch äußerst umstritten ist (vgl. Wild 2012), besteht nämlich nicht nur die Gefahr eines self-serving bias; die Gewohnheit des Verzehrs bestimmter Fische könnte sich auch in der Praxis auf Fälle erweitern, auf die eine solchermaßen begründete Ausnahme sicher nicht zutrifft. Angesichts dieser komplexen Fragen versucht Nussbaum, einen Weg zwischen ‚gradualistischen’ und ‚revolutionären’ Veränderungsstrategien zu bahnen:

Einige Übel, wie die Sklaverei, wirken so abscheulich, dass nur eine vollständige, totale und sofortige Abschaffung moralisch akzeptabel zu sein scheint. In diese Kategorie würde ich die industrielle Massentierhaltung, die Verwendung von Tieren zur Pelzgewinnung sowie die Jagd als eine Sportart einordnen. Wenn wir die Sklaverei schon nicht sofort abschaffen können, so sollten wir uns zumindest weigern, uns daran zu beteiligen, und zwar sofort und umfassend. (206)

Bei anderen Missständen hingegen, und dazu zählt Nussbaum „die nicht schädigende Tötung von Tieren“ (206), sei es eine bessere Strategie, sie graduell zurückzudrängen. Die „humane Züchtung, zumindest von Fischen“ wäre daher aus ihrer Perspektive „ein großer Fortschritt […], wenn auch nicht das endgültige Ziel“ (206). Und zumindest für Menschen, für die eine rein vegane Ernährung beispielsweise Verdauungsprobleme mit sich bringen könnte, sei der Verzehr von Fischen aus „humane[n] Fischereibetriebe[n]“ (202) vertretbar.

Diese innerhalb der tierethischen Diskussion durchaus kontroversen Schlussfolgerungen weisen auf einen bemerkenswerten Aspekt des Buchs hin. Man könnte denken, der Fähigkeitenansatz sei in seinen moralischen und politischen Forderungen radikaler als andere Ansätze, unter anderem weil er eine anspruchsvolle Wohlergehenskonzeption enthält und mit seiner Verteidigung starker Rechte eine Sperre gegen viele interindividuelle Wohlfahrts­abwägungen einzuziehen scheint. Nussbaum suggeriert dies ebenfalls, wenn sie alternative Zugänge als nicht weitgehend genug kritisiert. Allerdings bleibt sie in der Anwendung ihres eigenen Ansatzes hinter dessen potenziellen Implikationen teilweise zurück. So vertreten selbst viele utilitaristische Ansätze eine anspruchsvollere Position, was die Frage der ‚humanen’ Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken angeht (vgl. Višak 2013; John & Sebo 2020), ganz zu schweigen von der deontologischen Sichtweise von Korsgaard oder etwa Tom Regan (1983). Bereits in der ersten Ausgabe des kürzlich in überarbeiteter Version neu aufgelegten Klassikers Animal Liberation brachte Peter Singer (1982: 177–178) das Argument vor, dass auch ‚humane’ Tötungspraktiken die vorherrschende Betrachtung von Tieren als Instrumente zum menschlichen Gebrauch statt als eigenständige Wesen mit subjektivem Erleben verstärken – und dass daher zumindest innerhalb der heutigen Gesellschaft eine grundsätzliche Ablehnung der Tötung zu Nahrungszwecken geboten sei. Selbst hinter diese pragmatische Logik scheint Nussbaum an dieser Stelle zurückzufallen.

Hinter der ausgiebigen Verhandlung der Zulässigkeit einer schmerzlosen Tötung von Tieren, die ein gutes Leben geführt haben – einer Frage, die unter heutigen Bedingungen von geringer unmittelbarer Handlungsrelevanz ist– mag sich zudem ein generelles Ungleichgewicht vieler tierethischer Diskussionen verbergen: Die aus einer Tierrechts- oder Tierwohlperspektive praktisch drängendsten Fragen sind nicht unbedingt die aus Sicht der Moralphilosophie und politischen Theorie interessantesten. Das ist nicht unbedingt ein Problem für die Tierethik; man sollte sich jedoch stets vor Augen führen, wie weit die derzeitige gesellschaftliche Praxis von den im Feld tatsächlich kontroversen Fragen entfernt ist. Die Beurteilung der Intensiv­tierhaltung etwa, deren Abschaffung wohl die dringlichste unmittelbar gangbare Maßnahme zur Verbesserung der Situation nichtmenschlicher Tiere darstellt, dürfte für Nussbaum moralisch schlicht zu eindeutig sein, um ihr ein eigenes Kapitel zu widmen. Das Gegenteil trifft auf das wohl kontroverseste Kapitel des Buchs zu, das sich mit der Frage befasst, inwiefern wir eine kollektive Verantwortung für das Wohlergehen von Wildtieren haben.

Wie weit reicht unsere Verantwortung gegenüber Wildtieren?

In der Überschrift des Kapitels ‚Wildtiere’ und die menschliche Verantwortung setzt Nussbaum den Begriff der Wildtiere in Anführungszeichen. Das hat systematische Gründe: Die Autorin argumentiert, dass es sich beim Begriff der Wildnis um eine romantische Konstruktion von und für Menschen handelt, die mit der Realität wenig zu tun hat. Es gebe, „jedenfalls heute, keine eigentliche ‚Wildnis’ mehr, also keinen Raum, der nicht von Menschen kontrolliert würde: Zu behaupten, dass es ‚die Wildnis’ gibt, stellt eine Möglichkeit dar, sich der Verantwortung zu entziehen“ (262). Stattdessen sollten wir der Tatsache ins Auge sehen, dass wir Menschen die Lebensbedingungen von Wildtieren in vielerlei Hinsicht prägen – vom Klimawandel über die Zerstörung von Lebensräumen bis hin zu Praktiken wie der Wilderei. Mit dieser weitreichenden Macht über das Leben von Wildtieren geht eine große Verantwortung einher, so Nussbaums Argument, in dem der Verantwortungsbegriff und sein Verhältnis zum titelgebenden Begriff der Gerechtigkeit allerdings nicht näher geklärt werden. Wir können uns nicht schulterzuckend darauf zurückziehen, dass die Natur nun einmal grausam sei, und zwar nicht nur, weil aus dieser Feststellung noch keine normative Aussage folgt, sondern auch, weil es ‚die Natur’ in der imaginierten Reinform schlicht nicht (mehr) gibt.

Nussbaum erkennt an, dass wir oft gewichtige praktische Gründe haben, nicht in das Leben von Wildtieren zu intervenieren. Uns fehlt schlicht die Einsicht in viele ökologische Prozesse, um hinreichend sicher zu sein, dass wir dabei nicht versehentlich eine ökologische Katastrophe auslösen. Was wir aber mindestens tun können, ist, Praktiken wie etwa den Walfang, die Wildtieren direkt oder indirekt schaden, zu beenden, unsere eigene Landnutzung einzuschränken, und „die Lebensräume von Wildtieren vor Schäden durch den Klimawandel und andere Umweltfaktoren [zu] schützen, die wahrscheinlich menschlichen Ursprungs sind“ (274).

Die Sorge um das Wohlergehen von Wildtieren, die der Fähigkeitenansatz mit seinem Fokus auf das individuelle Lebewesen nahelegt, wirft unmittelbar die Frage der Prädation auf, also die Frage, wie mit Räuber-Beute-Verhältnissen in der Tierwelt umzugehen ist. Sollten wir, wenn wir könnten, in die Natur intervenieren, um zu verhindern, dass der Löwe die Gazelle zerreißt? Eine solche Position wird oft als reductio ad absurdum tierrechtlicher Belange und als Versuch, Gott zu spielen, verspottet, wobei ein Zitat der jesajanischen Prophetie, der zufolge Wolf und Lamm im Reich Gottes friedlich zusammenwohnen, selten fehlen darf. Nussbaum stützt sich dagegen auf die Analogie, dass wir Hauskatzen auch nicht dazu anhalten, Vögel zu jagen – im Gegenteil versuchen wir ihnen zu ermöglichen, ihren Jagdinstinkt auf andere Art und Weise (etwa mit Spielzeugen) auszuleben und diesen damit umzulenken. Gibt es einen prinzipiellen Grund, die gleiche Logik nicht auch auf wilde Raubtiere anzuwenden? Der einzige scheint zu sein, dass wir aufgrund unserer Unwissenheit bei vielen derartigen Versuchen in der Praxis Schaden anrichten würden. Aus diesem Einwand folgt jedoch nicht, das Problem der Prädation zu ignorieren, sondern mögliche Interventionen weiter zu erforschen und eine „ernste, kontinuierliche Diskussion über das Raubtierproblem“ (293) zu führen, bei der immer wieder die Frage aufgeworfen wird, welche Eingriffe nach dem aktuellen Kenntnisstand sinnvoll sein könnten. Nussbaum macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass vorsichtige Interventionen, beispielsweise um seltene Arten vor der Jagd durch Fressfeinde zu schützen, in einigen Wildtierreservaten bereits gängige Praxis sind. Ihre sensible und überzeugende Diskussion der Verantwortung gegenüber Wildtieren im Allgemeinen und der Prädation im Besonderen verdient eine differenzierte wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung.

Fazit

Mit Gerechtigkeit für Tiere legt Martha Nussbaum ein in den Grundlinien überzeugendes Buch vor. Sie weist systematisch die Stärken und Schwächen bestehender tierethischer Zugänge auf und unterbreitet mit der Anwendung des Fähigkeitenansatzes auf nichtmenschliche Tiere einen vielversprechenden Vorschlag für einen theoretischen Rahmen, der die wichtigsten Einsichten utilitaristischer und kantianischer Ansätze aufnimmt. Indem Nussbaum differenziert für eine kollektive Verantwortung für das Wohl von Wildtieren argumentiert, markiert sie eine kontroverse Position, die mehr Aufmerksamkeit und eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient. Mit den Fragen des moralischen Status und der Zulässigkeit schmerzloser Tötung geht sie komplexe philosophische Probleme an, verliert dabei aber nie die Frage der konkreten Umsetzbarkeit ihrer Forderungen aus dem Blick. Gerade die versierte Analyse der rechtlichen, aber auch affektiven Voraussetzungen eines politischen Wandels hin zu mehr Gerechtigkeit für Tiere, die in der vorliegenden Rezension zugunsten der theoretischen Fragen in den Hintergrund getreten ist, machen deutlich, dass der Fähigkeitenansatz durchaus praktische Handlungsanleitung zu geben vermag. Die Schwächen des Buches liegen darin, dass Nussbaum begrifflich nicht immer präzise argumentiert und in ihren praktischen Forderungen zuweilen hinter den Implikationen ihres eigenen Ansatzes zurückbleibt. Letzteres sollte Tierrechtler*innen jedoch nicht dazu verleiten, den Fähigkeitenansatz vorschnell beiseitezuschieben. Vielmehr ist es eine Aufforderung, ihn weiterzuentwickeln und ihn an Prozessen politischer Veränderung im Sinne nichtmenschlicher Tiere in der Praxis zu erproben.

Literatur

Bentham, Jeremy. An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. The Collected Works of Jeremy Bentham, hg. von J. H. Burns und H. L. A. Hart. Oxford: Clarendon Press, [1789] 1996.

Epikur. Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Stuttgart: Kröner, 1973.

John, Tyler und Jeff Sebo. Consequentialism and Nonhuman Animals. In The Oxford Handbook of Consequentialism, hg. von Douglas W. Portmore, 564–591. New York: Oxford University Press, 2020.

Korsgaard, Christine M. Tiere wie wir: Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Eine Ethik. München: C.H.Beck, 2021.

Nussbaum, Martha C. Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin: Suhrkamp, 2014.

Regan, Tom. The Case for Animal Rights. Berkeley: University of California Press, 1983.

Singer, Peter. Befreiung der Tiere. München: F. Hirthammer Verlag, 1982.

Višak, Tatjana. Killing Happy Animals: Explorations in Utilitarian Ethics. London: Palgrave Macmillan, 2013.

Wild, Marcus. Fische: Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Perspektive. Bern: BBL, 2012.


  1. Ich danke Marco Fatfat, Tatjana Višak, Andreas Schindel, einem*einer anonymen Gutachter*in für die Zfphl sowie den Redakteur*innen Luise Müller und Thomas Meyer für hilfreiche Kommentare.↩︎

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