Menke, Christoph: Theorie der Befreiung. Berlin: Suhrkamp 2022. 713 Seiten. [978-3-518-58792-8]

Rezensiert von Marvin Ester und Rodrigo Maruy van den Broek (beide Humboldt-Universität zu Berlin)

Christoph Menkes Theorie der Befreiung ist eine radikale Kritik moderner Subjektivität. Sie setzt an, wo Menkes letzter philosophischer Großentwurf, die Kritik der Rechte (Menke 2015), geendet hatte. Im Zentrum der Rechtskritik stand hier die Annahme, dass wir das Recht falsch (oder zumindest nicht vollständig) verstehen und kritisieren, wenn wir es nur unter dem Aspekt betrachten, dass es im Dienste eines immer bereits vorhandenen Rechtssubjektes steht. Jede radikale Rechtskritik hat laut Menke hingegen zu berücksichtigen, dass das Subjekt selbst erst ein Effekt der subjektiven Rechte ist. Die ideologiekritische Pointe dieses Zugangs liegt in der Einsicht, dass das moderne Rechtsverständnis die historisch-spezifische Erscheinungsform des bürgerlichen Subjekts naturalisiert und damit bestehende Herrschaftsverhältnisse verschleiert. Anstatt dass das moderne Subjekt selbst als ein Geschichtlich-Gewordenes zur Disposition gestellt werden könnte, werden dessen Form und Ansprüche im modernen Recht zur Privatsache erklärt und dem Bereich der sittlichen Reflexion und politischen Aushandlung konstitutiv entzogen (Menke 2015: 249). Somit richtete sich die Kritik der Rechte gegen die in der Form des modernen Rechts angelegte Entmächtigung der Politik. Dementsprechend endete sie mit der Forderung eines „neuen Rechts“ – ein Recht, das durch eine radikale Transformation seiner Form in der Lage wäre, den Naturalisierungseffekt des gegenwärtigen Rechts aufzuheben und die Rechtsgemeinschaft vom Schein der Unhintergehbarkeit bzw. Selbstverständlichkeit der modernen juridischen Subjektivität zu befreien. „Die Gewalt des neuen Rechts“, so der letzte Satz der Kritik der Rechte, „ist die Gewalt der Befreiung” (Menke 2015: 407).

Dieser Schluss der Kritik der Rechte auf dem Begriff der Befreiung lässt sich als Ausgangspunkt und roter Faden der Theorie der Befreiung lesen. Den Auftakt von deren Argumentationsgang bildet eine ernüchterte Zeitdiagnose:

Alle Befreiungsversuche, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch, haben sich in Paradoxien und Widersprüche verfangen; sie haben neue Gestalten und Strategien der Herrschaft hervorgebracht. (9)

Wollen wir dieses Scheitern aller Befreiung(en) verstehen – so Menkes These –, müssen wir uns der Dialektik von Befreiung und Herrschaft zuwenden. Eine entsprechende Befreiungskritik darf nicht nur eine bloße Kritik der falschen inhaltlichen Ziele der Befreiung sein. Entscheidend ist für Menke die Form, innerhalb derer die Befreiung bislang verblieb. Kurz: Die radikale Befreiung muss die paradigmatische Form unseres gegenwärtigen Denkens der Befreiung selbst überwinden.

In dieser Hinsicht ist eine zentrale Frage für die Theorie der Befreiung, wie der Zusammenhang von Befreiung und Denken verstanden wird: Fassen wir Befreiung als Emanzipation des Bewusstseins durch die Bewusstwerdung subjektiver Autonomie, so bleiben wir dem Rahmen des Subjekts verhaftet. Denn selbst wenn sich die Ausübung der subjektiven Fähigkeiten des Urteilens und Handelns gegen äußerliche Beherrschung wenden mögen, bringen sie im Inneren des Subjekts immer zugleich auch eine spezifische „Knechtschaft“ hervor – eine sich in sich selbst verstrickende Selbstunterwerfung, die Menke mit Hegel die „Knechtschaft der Gewohnheit“ nennt (63–65, 95). Radikale Befreiung muss mit diesem Bannkreis der Gewohnheit brechen. Ein solcher Bruch mit der Gewohnheit des Subjekts setzt jedoch den Bezug auf etwas voraus, das nicht allein im Subjekt selbst, d. h. seinem aktiven Tun und Vermögen, gründet. Dieses „Außen“ des Subjekts verortet Menke in der ästhetischen Erfahrung der „Faszination“ (109). Was in der Faszination zum Ausdruck kommt, ist eine Lust am Bruch mit der (eigenen) Identität bzw. mit den dem Selbst von der normativen Ordnung der Gesellschaft auferlegten Bestimmungen, Gesetzen und Gewohnheiten.

Einer solchen Theorie der Befreiung drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob und inwiefern dieser radikale Bruch mit der Gewohnheit jemals mehr als nur ein flüchtiger Moment ekstatischer Selbstentgrenzung sein kann. Wenn der Anspruch der Theorie der Befreiung lautet, eine radikale Transformation auf den Begriff zu bringen, die über kurze Ausbrüche aus dem Bann subjektiver Gewohnheit hinausgeht, muss sie zeigen, dass das entsubjektivierende Moment radikaler Befreiung auch in irgendeiner Weise aufbewahrt werden kann, ohne jedoch abermals zu den trägen Formen der Gewohnheit zu erstarren. Die Lösung, die Menke für dieses Problem vorschlägt, ist ein Denken der Befreiung, das sich jener Erfahrung erinnert, in der es gründet. Die Theorie der Befreiung muss sich folglich daran messen lassen, ob es ihrem Autor gelingt, die Konturen eines solchen radikal befreiten und befreienden Denkens plausibel zu machen. Bevor wir jedoch gegenüber diesem Begriff radikaler Befreiung einige Rückfragen aufwerfen, wollen wir zunächst in groben Zügen die anspruchsvolle Argumentation umreißen, die Menke in der Theorie der Befreiung entfaltet.

I. Individualisierung vs. Singularisierung: Kapitalismus und monotheistische Religion als Modelle der Befreiung

Menkes weitreichender Gedankengang dreht sich um drei dialektische Begriffspaare: Im ersten Teil des Buches ist es die Gegenüberstellung von griechischer und jüdischer Freiheit. Der zweite Teil entfaltet am Stoff der Netflix-Serie Breaking Bad und der biblischen Exodus-Erzählung die Entgegensetzung zwischen der individualisierenden Befreiung im Kapitalismus und der singularisierenden Befreiung der monotheistischen Religion. Die ideengeschichtliche Hintergrundfolie der gesamten Argumentation bildet der Gegensatz von absolutem Idealismus und ästhetischem Materialismus. Die eingängigste dieser Unterscheidungen, die wir im Folgenden nachzeichnen wollen, ist die zwischen individualisierender und singularisierender Befreiung. Menke entwickelt sie anhand einer äußerst originellen Lesart der Erzählungen von Breaking Bad sowie dem Auszug der Israeliten aus Ägypten. Individualisierende Befreiung heißt, sich zu befreien, indem man zum Individuum wird, d. h. indem man sich die im Laufe der Sozialisation erworbenen Eigenschaften und Vermögen zu eigen macht und in einer sich selbst erhaltenden Einheit bündelt (493).

Die sozialgeschichtliche Gestalt dieser individualisierenden Befreiung ist der ökonomische Mensch – zumal das Individuum im Neoliberalismus, das gerade seine Substanz in der möglichst flexiblen und weitreichenden In-Wert-Setzung seiner Vermögen zu haben scheint. Der Erzählstoff, an dem Menke die individualisierende Befreiung demonstriert, ist die Serie Breaking Bad. Wenn sich deren Protagonist Walter White im Erzählverlauf von einem unscheinbaren und in allseitige Abhängigkeiten verstrickten Chemielehrer, der sich trotz Zweitjob die angemessene Behandlung seiner Krebserkrankung nicht leisten kann, zu dem steinreichen und für seine Kunstfertigkeit berühmten Crystal-Meth-Produzenten „Heisenberg“ entwickelt, so müssen wir das laut Menke als den Prozess einer Befreiung zum neoliberalen Individuum lesen, dessen Leben sich nach den Maximen von Selbststeigerung und Vitalität ausrichtet.

Dem gegenüber steht das Modell der singularisierenden Befreiung. Anders als die individualisierende Befreiung zum ökonomischen Individuum, besteht die singularisierende Befreiung in der Dezentrierung des Selbst. Den Anstoß bildet die göttliche Ansprache. Diese Konfrontation mit einem Außen bringt ein vereinzeltes Selbst hervor, „das nichts als eine Beziehung […] zum Anderen ist“ (494). Die Erzählung, durch die Menke die singularisierende Form der Befreiung erfahrbar macht, ist die biblische Schilderung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten. Wenn Moses auf den brennenden Dornbusch trifft, der nicht verbrennt, und er anschließend von der Stimme Gottes angesprochen wird, müssen wir das als eine selbsttranszendierende Singularisierung verstehen. Anders als das neoliberale Individuum, dessen Befreiung darauf beruht, seine eigenen Vermögen auszuschlachten, bringt die singularisierende Befreiung ein Subjekt hervor, das sich öffnet gegenüber einem „unbedingten, also unerfüllbaren Anspruch, die eigenen Vermögen preiszugeben“ (493). Denn Gottes Ruf zieht Moses nicht nur aus den herrschenden Gesetzen der ägyptischen Sittlichkeit heraus, die seine Identität bisher ausgemacht haben. Moses erfährt sich auch als nichtig gegenüber dem Gebot Gottes, das fortan aller Normativität zugrunde liegt. Insofern ist Moses’ Befreiung die Befreiung zu einem Gebot, das die Gesetzesform der sozialen Normativität der Sitten durchbricht.

Die ideengeschichtliche Gestalt der singularisierenden Befreiung, wie sie Menke vorschwebt, ist der „ästhetische Materialismus“. Anders als die Konzentration aufs Subjekt, deren ideengeschichtliche Vollendung der „absolute Idealismus” darstellt, hebt der „ästhetische Materialismus“ die Bedeutung von Passivität, Rezeptivität und Spontaneität für die Befreiung hervor, wie sie in der Erfahrung der Faszination zum Ausdruck gelangt (196).

II. Das Scheitern der ökonomischen und der monotheistischen Befreiung

Wie Menke mit seiner Lektüre von Breaking Bad und der biblischen Exodus-Erzählung zeigt, sind beide Typen von Befreiungsversuchen „wahr und unwahr zugleich“ […], weil sie eine Einsicht hervorbringen, die sich nur durch sie gewinnen lässt“, sie aber dennoch letztlich durch ihre Form zum Scheitern verurteilt sind (498). Walter Whites späte Bildungsgeschichte beginnt als unterbezahlter Chemielehrer, der trotz eines von ihm als demütigend empfundenen Zweitjobs als Autowäschers nicht das Vermögen hat, seine Familie auch über seinen möglichen Krankheitstod hinaus finanziell abzusichern. Sein Leiden ist das Leiden unter einem gesellschaftlichen Zwangsverhältnis. So gesehen ist Walters Aufschwung zum berüchtigten Drogenproduzenten Heisenberg nicht nur die Befreiung aus finanzieller Abhängigkeit. Walter durchläuft den viel tiefgreifenderen Prozess einer radikal entsittlichenden Individualisierung: Er wird zum ökonomischen Individuum, das sich aus dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse herausarbeitet, indem er selbständig seine Vermögen ausschöpft und verwertet.

Doch wie Kenner*innen der Serie wissen, werden die Probleme im Laufe der Erzählung nicht geringer und die Abhängigkeiten, in die sich Walter auf seinem Weg hineinmanövriert, in vielerlei Hinsicht sogar immer gravierender. Und genau dies ist der Grund, warum sich Breaking Bad so sehr für Menkes Beschreibung der Janusköpfigkeit der individualisierenden Befreiung eignet: Zwar befreit die Individualisierung Walter aus seiner vorigen Existenz als ohnmächtiger nobody, indem er zum kriminellen Selbstunternehmer Heisenberg wird. Doch statt Unabhängigkeit zu erlangen und aus den „leeren Wiederholungen“ (154) seines kleinbürgerlichen Lebens auszubrechen, verfängt sich Walter auf scheinbar schicksalhafte Weise immer tiefer in die wiederum serielle Form eines teuflischen Kreislaufs der Steigerung und Verwertung seiner Vermögen. Ideologiekritisch formuliert: Das Unabhängigkeitsversprechen der individualisierenden Befreiung ist nur ein Schein, denn die neoliberale Emanzipationserzählung ist nur deshalb so verheißungsvoll, weil sie unterschlägt, dass jedes Vermögen stets nur dann ein Vermögen ist, „wenn es ein Vermögen für den anderen ist – von dem ich nicht wissen kann, ob es dies für ihn ist“ (318). Walters vermeintliche Befreiung vom gesellschaftlichen Zwang verstrickt ihn umso tiefer ins Soziale, da auch seine neue (zumal prekäre da kriminelle) Verwertung seiner Vermögen äußerst relational, ungewiss und krisenhaft ist.

Somit inszeniert die Erzählung von Breaking Bad die Erfahrung eines sich selbst unterwandernden Befreiungsversuchs. Indem das Subjekt der individualisierenden Befreiung versucht, sich aus seiner gesellschaftlichen Abhängigkeit zu emanzipieren, steigert sich seine Angewiesenheit auf ein soziales Geflecht, das seine Vermögen anerkennt. Die Fixierung auf Selbststeigerung und Vitalität führt zu einem Selbst, das „keine Macht über die Serie seiner Handlungen [hat]. Es erleidet sie, passiv.“ (502) Der vermeintliche Auszug aus den sozialen Zwängen und Abhängigkeiten führt das ökonomische Individuum in eine andere, tiefere Unterwerfung hinein. Das Individuum wird zu einer bloß ökonomischen Existenz verdammt, „in der es äußerlich, entfremdet, ohnmächtig ist“ (504 f.). Das reflexive Defizit dieses Selbst liegt in der Naturalisierung der ökonomischen Individualität: Diese Naturalisierung „bringt eine Existenz hervor, die sich – also: ihre Sozialität – nicht begreifen kann“ (505). Die Scheinselbständigkeit des autonomen Individuums wird durch eine ewige Wiederkehr des Sozialen entblößt.

Hierin verweist die Unwahrheit der individualisierenden Befreiung auf ihren Gegenpol – die singularisierenden Befreiung. Denn die Wahrheit der religiösen Befreiung lautet ja gerade, dass die Befreiung „nicht durch eigene Entscheidung und aus eigenem Vermögen geschehen kann; denn sie ist die Befreiung vom Eigenen, von der Identität der Gewohnheit“ (420). Die religiöse Befreiung hat diese Erkenntnis in sich aufgehoben, denn sie ist nicht die Befreiung vom Außen, sondern die Befreiung durch das Außen. Anders als die ökonomische Logik, die die Steigerung des Selbst ins Zentrum (und ans Ende) aller Bemühungen des Individuums stellt, ist die Grunderfahrung der religiösen Befreiung die faszinierende Erfahrung der „Nichtigkeit des Könnens, die Erfahrung des Nichtkönnens oder Unvermögens“ (413).

Die Form dieser Erfahrung ist das göttliche Gebot, die unbedingte Ansprache durch den Anderen, die das Subjekt aus sich Selbst und aus der sozialen Normativität heraushebt (433). So gesehen kritisiert die religiöse Erfahrung jede Form weltlicher Herrschaft, indem sie die herrschende Sittlichkeit zu ihrem Anfang zurückführt (513). Denn die Singularisierung bringt einen religiösen Menschen hervor, der vornehmlich dem transzendenten Gebot Gottes gehorcht. Dieses Gebot ist aber laut Menke nichts anderes als der Grund aller sozialen Normativität; insofern als das Selbst erst normativ wird, wenn es das Gebot hört:

Nur weil es das Gebot – das Gebot, zu hören – gehört hatte, konnte das Selbst fähig und bereit werden, überhaupt irgendwelche normativen Vorschriften zu empfangen. (509)

Das Gebot ist deshalb das schlechthin normative, weil es nichts Bestimmtes gebietet. Das Gebot ist darum kein Gesetz, sondern das Gebot der Gehorsamkeit gegenüber der Normativität überhaupt. Es gebietet nur, in eine normative Existenz einzutreten. Kurz: Am Anfang der Normativität steht das Gebot. Aus diesem Grund stellt das gehorchende Hören des religiösen Menschen zudem „ein Akt erinnernder Wiederholung“ dar (496 f.). Das Gebot erinnert an die Herausbildung eines Subjekts (der Normativität), an seinen Eintritt in eine normative Ordnung. Die religiöse Befreiung – darin liegt laut Menke ihre Wahrheit – operiert zugleich herrschaftskritisch und als Schilderung einer Urszene der Subjektivität genealogisch.

Doch auch die religiöse Befreiung scheitert, wenn das Gebot – die singularisierende Erfahrung des Angesprochenwerdens durch ein transzendentes Außen – in sein Gegenteil, nämlich in die Formulierung weltlicher Gesetzen und damit der Kodifizierung einer sittlichen Ordnung umschlägt. Wie die Exoduserzählung berichtet, tendiert das Gebot stets dazu, vergessen zu werden. Diese Tendenz ist dem Gebot allerdings nicht äußerlich. Vielmehr ist jene Vergessenheit in Wahrheit eine Selbstvergessenheit, weil das Gebot, sobald es sich gegen die stetige Gefahr der Vergessenheit wendet, eine gewisse Gesetzesförmigkeit in sich aufnimmt. Es gebietet nun etwas Bestimmtes, nämlich das Gebot nicht zu vergessen (515). Das aber läuft auf eine Selbstvergesetzlichung des Gebots hinaus, die genauso notwendig wie selbstuntergrabend ist: „Durch seine Vergesetzlichung wendet sich das Gebot gegen sich selbst; es beraubt sich selbst seiner befreienden Kraft“ (433). So mündet die singularisierende Befreiung in die Form einer sittlich-autoritativen Gesetzesordnung, in deren Durchbrechung doch gerade die ursprüngliche Bedeutung des Gebots gelegen hatte.

III. Die Zukunft der radikalen Befreiung

Dieses Dilemma – die Tatsache, dass sowohl der individualisierenden als auch der singularisierenden Befreiung immer schon ihr Scheitern eingeschrieben scheint – nimmt Menke zum Ausgangspunkt, um der/dem Leser*in seine eigene Konzeption einer wahrhaft radikalen Befreiung zu unterbreiten. Diese Konzeption lässt sich als eine rettende Kritik der singularisierenden Befreiung lesen, denn die „Zukunft“, so Menke, „gehört dem religiösen Modell” (500). Rettend ist die Kritik, insofern sie nicht gedacht ist als Plädoyer für ein „Zurück“ zur religiösen Befreiung, sondern als deren konsequente Fortführung. Um diesen zentralen Punkt der Theorie der Befreiung zu verstehen, ist es hilfreich, sich den zweifachen Anspruch vor Augen zu führen, mit dem Menke seinen Begriff radikaler Befreiung an diesem Punkt der Argumentation konfrontiert sehen muss: Zum einen darf radikale Befreiung – anders als die ökonomische Individualisierung – nicht in der Form der Selbstbefreiung gedacht werden. Zum anderen darf radikale Befreiung auch nicht – wie im Fall der Vergesetzlichung des religiösen Gebots – in eine erstarrte sittliche Form zurückfallen. Kurzum: Wenn radikale Befreiung möglich sein soll, dann nur als eine Emanzipation jenseits der Fiktion des autonomen Selbst sowie auch der Unterwerfung unter eine vergesetzlichte Sittlichkeit.

Wie aber kann eine solche Befreiung noch gedacht werden? Was Menkes Verständnis radikaler Befreiung mit der religiösen Befreiung gemeinsam hat, ist, dass sie in der Erfahrung eines radikalen Außen gründet. Sie beginnt mit einer Faszination, die nicht im Selbst aufgeht, sondern eine Erfahrung der Alterität ist, die die gewohnheitsmäßige Form des Subjekts durchkreuzt. Darin ist die „radikale Befreiung“ in ihrem Anfang eine Unterwerfung unter ein Außen (567). Ihre Radikalisierung gegenüber der religiösen Befreiung kann aber nur verwirklicht werden, wenn dieses Faszinationserleben, das dem Selbst weder schlichtweg zustößt, noch restlos auf es selbst zurückzuführen ist, in einer Form aufgehoben wird, die eben nicht die des Gesetzes oder der Sittlichkeit ist (567).

Dies beschreibt Menke so:

Die religiöse Befreiung kann den schicksalhaften Zirkel, in dem immer wieder Gebot und Gesetz, die Singularisierung und die Subjektivierung ineinander umschlagen, nur durch eine Kraft durchbrechen, die aus dem Außen kommt: aus der Lust oder dem Genuss an der Serialisierung, der Verlebendigung und der Naturalisierung, die die ökonomische Befreiung an ihrem Ende hervorbringt (522 f.)

Hier zeigt sich, wie Menkes Konzept einer radikalen Befreiung auch das Wahrheitsmoment der ökonomischen Individualisierung in sich aufnimmt, nämlich den Befund, dass das ökonomische Individuum sich in der Faszination als von der Gesellschaft nicht völlig bestimmt erfährt. Diese befreiende Einsicht, welche die ökonomische Individualisierung zwar auf den Punkt gebracht, dann jedoch fälschlich vereinseitigt hatte, muss nun vom Subjekt festgehalten und bejaht werden.

Dies scheint für Menke einzig durch eine Form des Eingedenkens einlösbar zu sein: „Die Befreiung in der Erfahrung zu denken heißt, sie nicht gegenwärtig zu vollziehen, sondern sie zu erinnern“ (488). Die Befreiung ist somit eine reflexive Praxis der Erinnerung, weil die Bestimmbarkeit des Subjekts, welche sich in der Erfahrung der Faszination als grundlegend erweist, ein genealogisches Moment verrät. Wie die religiöse Singularisierung nahelegt, muss die Befreiung bis auf die Herausbildung eines Subjekts der Befreiung zurückgreifen. Sie verweist auf den Prozess der Subjektivierung, im Zuge derer ein Individuum in die normative Ordnung der Gesellschaft eintritt. An die Theorie der Befreiung schließt sich also eine „Genealogie des Subjekts“ an, die aufweist, wie schon im sozialen Prozess der Subjektbildung die Möglichkeit radikaler Befreiung eingeschrieben ist (540). Der genealogische Rückgriff auf die Urszene der Subjektivierung erschließt das Subjekt als konstitutiv entzweit: Denn indem es kraft der normativen Anrede der Gesellschaft subjektiviert wird, spaltet sich das Subjekt unvermeidlich in das sich herausbildende Selbst einerseits, und den vom Subjekt retroaktiv hervorgebrachten Menschen andererseits (547). Dieser Mensch, dessen Begriff sich erst nachträglich entwickelt, ist zugleich die notwendige Voraussetzung der Subjektbildung: die Existenz eines bestimmbaren Wesens, das für das subjektivierende Gebot der Normativität empfänglich ist. Mensch-Sein bedeutet demzufolge die „negativ-unendliche Naturbedingung des Subjekts“ (550). Ermöglicht der Mensch aber den entscheidenden Schritt über die bloße erste Natur hinaus, dann weist er eine „Kraft der Negativität“ auf, die dem Subjekt stets auch innewohnt. Das aber impliziert, dass die völlige Integration des Subjekts in die Gesellschaft, welche als eine gewohnheitsförmige zweite Natur wirkt, eben aufgrund jener negativen Kraft zum Scheitern verurteilt ist. Aus dieser genealogischen Einsicht in die unauflösbare Spaltung des Subjekts zieht die radikale Befreiung ihre Kraft (551). Die Form jedoch, in der diese Einsicht in die Entzweiung des Subjekts verschleiert wird, ist die bestimmende Form des sittlichen Gesetzes (553). Wenn dies das Gebot der radikalen Befreiung ist, dann scheint es durch und durch paradox, denn es bringt die Spaltung des Subjekts und dadurch den Bedarf von sittlichen Gesetzen ja selbst erst hervor. Indem das gewohnheitsförmige Gesetz aber die Bestimmbarkeit am Grund der Subjektivierung verdrängt, stellt es zugleich das schicksalhafte Selbstvergessen des Gebots dar. Das aber bedeutet wiederum, dass die normative Anrede des Gebots nicht nur das Subjekt spaltet, sondern auch sich selbst, und aus der objektiven Entzweiung des Gebots geht nun die Notwendigkeit seiner Erinnerung hervor. Ebenso wie das Subjekt muss also das Gebot von der Gesetzesform befreit werden.

Nimmt man mit Menke jetzt noch an, dass jedes Einwirken der Normativität auf die Natur (oder umgekehrt) selbst kein normativer Akt sein kann, so ist das Gebot der Normativität „im formalen Sinne“ gewaltsam (559). Dies ist entscheidend. Denn wenn das Subjekt sich durch die Faszination an die anfängliche Gewalt des normativitätsstiftenden Gebots erinnert, dann verwandelt es diese in eine Gewalt der Befreiung gegen dessen zweite Natur. (562). Es ist daher die bejahende Wiederholung der subjektivierenden Gewalt, die im selben Zuge die negative Kraft der menschlichen Natur hervorruft, durch welche die integrierende Gesetzesform der Normativität durchbrochen wird (564 f.). Die Verwirklichung der radikalen Befreiung ist in dieser Hinsicht eine gewaltsame, die die gewöhnliche Gewalt des Normativen „entsetzt“ (Walter Benjamin).

IV. Wie weiter?

Nach diesem Umriss des anspruchsvollen Argumentationsgangs von Christoph Menkes Theorie der Befreiung wollen wir seinen Begriff radikaler Befreiung mit drei Fragen konfrontieren:

(a) Untergräbt die Theorie der Befreiung die Kritik des (modernen) Rechts? In Recht und Gewalt war die Rede von einer „Entsetzung“ der Gewalt, die dem Recht als solchem innewohnt. Entsprechend besteht der gewaltvolle Zwangscharakter der rechtlichen Normativität darin, dass sie sich ständig gegen das Nichtnormative, Natürliche oder Nichtrechtliche, das sie selbst hervorgebracht hat, durchsetzen muss (Menke 2018: 214). Die „Entsetzung“ der Gewalt soll hingegen diese Notwendigkeit, diese schicksalhafte Wiederholung der rechtlichen Durchsetzung zu einer Möglichkeit unter anderen depotenzieren. Freilich wird damit die Gewalt des Rechts nicht restlos abgeschafft, da einem gänzlich gewaltlosen Recht wohl auch seine emanzipatorische Gegenkraft gegenüber sozialer Herrschaft abginge. Jedoch verwandelt sich die rechtliche Gewalt somit vielmehr in ein Mittel, das auf eine bewusste, kontrollierte und strategische Weise benutzt werden kann, oder nicht. Die „Entsetzung“ kann insofern als eine politische Erschließung der Gewalt des Rechts gelesen werden (Menke 2018: 228). Mit Blick auf den Gedankengang der Theorie der Befreiung ist fraglich, ob es sich hierbei um eine strukturell ähnliche, ontologisch aber tiefgreifendere „Entsetzung“ der Normativität und deren genereller Gesetzesförmigkeit handelt. Wird also mit der Idee der radikalen Befreiung von der sittlichen Gesetzesförmigkeit überhaupt ebenso die Gewalt des Rechts depotenziert? Oder wie anders wäre das Recht nach der radikalen Befreiung zu denken? In der Kritik der Rechte fand sich ja ebenfalls die These, das moderne Subjekt sei als aktiver Teilnehmer und passiver Nichtteilnehmer des Sozialen wesentlich gespalten (Menke 2015: 397). Subjektive Rechte vollzögen gleichwohl bereits durch ihre Form eine identifizierende Trennung beider Bestimmungen, welche dann durch die Form des Gesetzes im Eigenwillen des Subjekts begründet werden: „Das Gesetz ist in seinem Inhalt vorsozial und in seinem Status außer- oder übersozial“ (Menke 2015: 399). Weil diese für das moderne Recht charakteristische Dynamik der gesetzesförmigen Positivierung und Entpolitisierung von privaten Ansprüchen dem in Wahrheit gespaltenen Subjekt unrecht tut, muss „das neue Recht“ die identifizierende Form des modernen Rechts selbst angreifen. In der Theorie der Befreiung wird jedoch der Normativität überhaupt eine solche bestimmende Gesetzesförmigkeit zugeschrieben. Dadurch scheint die Rechtskritik in gewissem Ausmaß ihre Spezifizität zu verlieren, als ob das Problematische am modernen Recht nur die Abbildung einer tieferen, ontologischen Dynamik im Sozialen wäre. Heißt das aber für das Verhältnis der Kritik der Rechte und der Theorie der Befreiung, dass letztere der ersteren ihre Spezifizität nimmt? Ist der Preis, den die Theorie der Befreiung für ihre einsichtige Radikalität zu zahlen hat, die Entschärfung der Kritik der Rechte?

(b) Wie politisch ist die Theorie der Befreiung? Gegen Ende des Buches heißt es, die Theorie der Befreiung sei keine politische Theorie, insofern der Begriff der Befreiung quer zur Kategorie der Politik liege – wie auch zu den Kategorien der Ethik, des Rechts, der Ökonomie, der Ästhetik, der Religion und der Kultur (Menke 2022: 577). Zugleich aber legt Menke Wert darauf zu betonen, dass die Theorie der Befreiung „auch nicht nichtpolitisch“ sei, weil die Verwirklichung der Befreiung fraglos immer auch einer politischen Praxis bedürfe (ebd.). Dann aber drängt sich die Frage auf, ob es eine ästhetisch-materialistische Theorie der Befreiung nicht ebenso zur Bestimmung des politischen Rahmens radikaler Befreiung treiben müsste. Weil die soziale Ordnung laut der Theorie der Befreiung in ihren Formen von Sittlichkeit, Gewohnheit und Gesetz als Gegengestalten der Befreiung gefasst werden, scheint es schwer, im Rahmen von Menkes Konzeption der negativistischen, gewohnheits-auflösenden Grundbewegung der Befreiung zu irgendeiner Bestimmung positiver politischer Formen zu gelangen. Doch gerade in dieser Verschließung gegen die konstitutive Trägheit des Sozialen scheint der radikale Kern des Ansatzes zu liegen. Entsprechend abstrakt verbleiben die Aufgaben einer Politik der Befreiung, die Menke zum Schluss seines Buches anreißt. Das „nicht Nichtpolitische“ an der Theorie der Befreiung ist ihr Imperativ, alle Gesetze so aufzuheben, dass diese in eine neue Form überführen, die an den befreienden Grund, aus dem sie überhaupt erst als Gesetze hervorgegangen sind, erinnert (579). Der Anspruch einer derart radikalen Politik der Befreiung hätte folglich beträchtliche Ausmaße, ginge es ihm doch in letzter Konsequenz um die Überwindung des Subjekts und seiner Freiheit, wie wir sie kennen (579). Hier wäre es äußerst interessant gewesen, wenn die Theorie der Befreiung der Frage nachgegangen wäre, durch welchen sozialstrukturellen Wandel die „neuen Menschen“ (579), auf den die radikale Befreiung ja zweifelsohne abzielt, zu erreichen und erhalten wäre. Der Absicht nach hatte die Theorie der Befreiung, wie ihr Autor in einem Interview mit dem Jacobin Magazin (Ubl 2022) anmerkte, ausbuchstabieren sollen, was das neue Recht und dessen entsprechende Gegenrechte eigentlich sind. Stattdessen liegen eine zweifelsohne faszinierende Genealogie und immanente Kritik des modernen Subjekts und die begriffliche Arbeit mit den Aporien radikaler Befreiung vor. Offen geblieben ist dabei jedoch, wie radikale Befreiung politisch – und das heißt auch institutionell – auszusehen hätte.

(c) Wie materialistisch ist der „ästhetische Materialismus“?* Wie oben beschrieben, steht das Schlagwort des „ästhetischen Materialismus” in Menkes Theorie der Befreiung unter anderem für die Einsicht, dass die selbstzentrierte Befreiung zum ökonomischen Individuum, welches anhand einer Steigerung seiner Vermögen dem stummen Zwang der objektiven Gesellschaftsverhältnisse zu entrinnen versucht, eben deshalb zu einem vorprogrammierten Scheitern verurteilt ist. Denn wie Menke mit seiner Breaking Bad*-Interpretation überzeugend darlegt, führt die Logik der neoliberalen Ökonomisierung des Selbst bei aller Scheinautonomie das Subjekt stets tiefer in Verstrickungen sittlicher Abhängigkeiten. Das Individuum wird kein Vermögen finden, das nicht selbst an die Bestätigung und Nachfrage eine sozialen Anerkennungsgemeinschaft gebunden ist. Das materialistische Moment, das die singularisierende Befreiung dem voraushat, liegt an der Einsicht des dezentrierten Selbst, dass es „nichts als eine Beziehung […] zum Anderen ist“ (494). Doch kann diese abstrakt gehaltene materialistische Einsicht in eine grundlegende Abhängigkeit des Selbst von einem Außen tatsächlich die (neo-)liberale Verkennung der materiellen Eigendynamik von den objektiven herrschenden Verhältnissen in sich aufheben? Oder wird hier nicht gerade mit der Rücknahme des subjektiven Überschusses der neoliberalen Erzählung des autonomen Individuums auch die Einsicht in den mächtigen Eigensinn gesellschaftlicher Objektivität aufgegeben, der die materialistische Tradition ja gerade prägte?

Es steht außer Frage, dass die Ergründung dieser Fragen den ohnehin enorm reichhaltigen Argumentationsgang der Abhandlung überdehnt hätte. Und womöglich fallen sie auch aus dem gegenwärtigen Interessenfeld des Autors. Wenn die Theorie der Befreiung diese Fragen unbeantwortet lässt, sehen wir das nicht als eine immanente Schwäche. Vielleicht liegt vielmehr ihre Stärke gerade darin, dass ihr Gedankengang uns auch im Angesicht der vermeintlich aporetischen Verschlingung von Befreiung und Herrschaft dazu anregt, auf das fortgesetzte Fragen nach den Möglichkeiten radikaler Emanzipation zu bestehen.

Literatur

Menke, Christoph. Theorie der Befreiung, Berlin: Suhrkamp, 2022.

Menke, Christoph. Kritik der Rechte, Berlin: Suhrkamp, 2015.

Menke, Christoph. “A reply to my critics”, in: ders. et al.,Law and Violence: Christoph Menke in Dialogue, 207–233 Manchester: Manchester University Press, 2018.

Ubl, Matthias. 2022. “Breaking Bad & Malcolm X: Was Ist Befreiung?” https://jacobin.podigee.io/10-jacobin-talks-menke-befreiungzo.

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