Pollmann, Arnd: Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts. Berlin: Suhrkamp 2022. 451 Seiten. [978-3-518-29970-8]

Rezensiert von Hannes Kaufmann (Universität Gießen)

„Nicht haltbar ist, daß der Mensch von Geburt an frei und gleich sei. Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden.“ (Bloch 1972: 215) Mit dieser These beginnt Ernst Bloch den Abschnitt seines Buches über Naturrecht und menschliche Würde, der „Illusionen im bürgerlichen Naturrecht“ übertitelt ist. Und weiter: „Der aufrechte Gang“ – Blochs Metapher für die menschliche Würde – „veranlagte erst zu etwas, das gewonnen werden muß“ (Ebd.). Letztlich versteigt er sich gegen Ende des übergreifenden Kapitels zu dem Resümee: „Das naturrechtliche Anliegen war und ist das Aufrechte als Recht“ (Ebd. 237, Hervorhebung im Original).

Nun geht es Arnd Pollmann in seinem Buch Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts keineswegs um eine Verteidigung oder extensive Ausdeutung des Naturrechts, dennoch könnte man sagen, dass er mit der hier präsentierten Passage von Bloch nicht nur ein Anliegen, sondern auch eine zentrale Spannung teilt. In seiner umfassenden Studie unternimmt Pollmann den Versuch, das Verhältnis der titelgebenden Begriffe der Menschenrechte und der Menschenwürde in ihrer historischen Konstellation v.a. seit 1945 darzustellen. Denn wie Pollmann auch gleich zu Beginn konstatiert, sind weder Menschenrechte noch Menschenwürde schon per se gegeben; vielmehr müssen sie permanent erkämpft und gesichert werden. Darüber hinaus gilt ebendas auch für den Zusammenhang beider Konzepte, der historisch gewachsen ist – oder vielmehr: in der Negation massiver Gewalt geprägt wurde. Denn, so eine der Grundthesen von Pollmanns Buch: „‘Neu’ sind nicht etwa die beiden Begriffe als solche, neu ist lediglich deren konzeptionelle Verknüpfung.“ (16)

Damit wären wir bei der Kernthese des Buches, denn diesen Zusammenhang zu deuten und die Schlüsse daraus zu ziehen macht die Besonderheit der von Pollmann vorgelegten (explizit politischen) Menschenrechtskonzeption aus. Um die These vorwegzunehmen: Pollmann argumentiert, dass die Würde keineswegs ein (wie auch immer) ‚natürlich’ gesetzter Grund im Sinne einer unhintergehbaren Voraussetzung für die Menschenrechte ist, sondern ein konstruktiv gesetzter Grund im Sinne eines Zwecks oder Anspruchs, der gerade aufgrund seiner faktischen Hintergehbarkeit und Verletzlichkeit so zentral durch die Menschenrechte gedeckt werden muss (324). Die Spannung, die er dabei mit Bloch (unter umgekehrten Vorzeichen) teilt, ist jene des gegenseitigen Begründungsmoments von Menschenwürde und Menschenrechten – zumindest in ihrem heutigen Sinn.

Die konkrete Analyse dieses Zusammenhangs nimmt Pollmann im letzten Drittel seines Buches vor. Bevor es um den Inhalt der Menschenrechte gehen soll – und damit ihre Verschränkung mit der Menschenwürde, wie sie laut Pollmann nach der Neuausrichtung des Konzeptes im Ausgang der massiven Gewalterfahrungen des zweiten Weltkrieges und des nationalsozialistischen Terrors konstruiert wurde – widmet sich das Buch dem Begriff und der Funktion der Menschenrechte. Dabei stellt Pollmann sein Argument auf ein breites Fundament und positioniert sich im Feld der philosophischen Menschenrechtsdebatte, auch, indem er seine zahlreichen Beiträge zur Forschung aus den letzten Jahren in einer übergreifenden Theorie systematisiert und kontextualisiert. Zwangsläufig tauchen dabei viele Baustellen gleichzeitig auf, die Pollmann mit strenger Systematik zu entwirren sucht und denen er keineswegs aus dem Weg geht. Angefangen von Kritiken der Relevanz und Aktualität des Menschenrechtsdiskurses über die Frage, wie eine politische Konzeption der Menschenrechte auszusehen habe, bis hin zu großen Fragen der Weltinnenpolitik – auf theoretischer und praktischer Ebene – nutzt Pollmann gerne die Gegenpositionen, um das Feld abzustecken, ihre Leerstellen und Probleme herauszuarbeiten und dann eine eigene Konzeption zu erarbeiten.

Begriff und Funktion der Menschenrechte

Pollmann beginnt mit einer historisch gesättigten Einleitung, in der er getrennt auf die historischen Entwicklungen der Konzepte der Menschenrechte und der Menschenwürde eingeht, um sich zum Kulminationspunkt vorzuarbeiten: nämlich der unfassbaren Gewalt des 20. Jahrhunderts, die ein Umdenken im Menschenrechtsdiskurs notwendig macht, und anstelle von Freiheit und Gleichheit dort nunmehr die Menschenwürde ins Zentrum stellt. Daran anschließend steigt er mit einer doppelten These in den Hauptteil seiner Arbeit ein: Zwar sei die Verknüpfung von Menschenrechten und -würde eine historisch kontingente, nämlich dahingehend, dass sie erst negativ aus der Gewalterfahrung heraus entstanden ist. Dennoch ergeben sich aus dieser Konstellation nunmehr „alternativlose“ Implikationen in dem Sinne, dass Menschenrechte heute nicht mehr ohne die Menschenwürde gedacht werden könnten und umgekehrt (51). Wenn er sich den Konzepten nun über drei Schritte annähert – Begriff, Funktion und Inhalt der Menschenrechte – dann schlägt diese Verbindung vor allem im letzten Punkt durch. Zunächst werden Begriff und Funktion der Menschenrechte sozusagen als ‚Groundwork’ umrissen.

Zwischen den beiden Polen eines überpositiven (etwa naturrechtlichen) und eines positiv-rechtlichen Verständnisses der Menschenrechte nimmt Pollmann die Position einer politischen Menschenrechtskonzeption ein, die explizit von beiden obigen Sphären berührt wird. Bei den Menschenrechten geht es um politischen Kampf (nicht zuletzt um den Kampf um „das“ Recht selbst), aber es geht auch um vorstaatliche Legitimationsstrukturen und um die rechtliche Implementierung und Konkretisierung der politischen Implikationen. Sie entstehen, so Pollmann, nicht aus einer natürlichen Gleichheit, sondern aus dem Postulat der Gleichheit. Die generische Gleichheit als Gattungswesen könne nicht philosophisch letztbegründet werden (außer vielleicht negativ über die Unbegründbarkeit der Ungleichheit), sie sei eine Setzung, ein normatives Programm – und mit ihr ebenso die Menschenrechte. So betont Pollmann, dass der universelle Geltungsanspruch, der in letzteren liegt, keineswegs schon als verwirklicht angesehen werden könne, sondern als Auftrag zu verstehen sei, als „dezidiert politisches, ja revolutionäres und historisch umkämpftes Projekt.“ (155) Oder wie es später heißt: die Universalisierbarkeit sei als „revolutionäre Mahnung“ (174) zu verstehen, die institutionelle Lernprozesse anstoßen soll, und zwar solche der Inklusion (bei fundamentalistischen Ausschlüssen) respektive der Gleichstellung (bei relativistischen Einschränkungen der Menschenrechte) (162). Der Begriff der Menschenrechte entwickelt sich also als negativer Lernprozess aus Diskriminierungserfahrungen bzw. als Versprechen gegen diese Formen der Exklusion.

Mit der Funktion der Menschenrechte dockt Pollmann an diesen ersten Schritt an und stellt seine explizit politische Konzeption dar, die eng an Prozesse der Konstitutionalisierung gebunden ist. Aus den neuzeitlichen Staatsbegründungstheorien, v.a. im Anschluss an John Locke und andere, präsentiert Pollmann die historische Funktion der Menschenrechte als die der Legitimationsstifter in Nationalstaaten, die erst später ihre globale Dimension erhalten. Statt absoluter Souveränität, wie noch bei Thomas Hobbes, geht es hier vor dem Hintergrund menschenrechtlicher Überlegungen umgekehrt um die Beschränkung souveräner Gewalt und zwar mittels subjektiv-öffentlicher Rechte. Der politische Sinn der Menschenrechte, so Pollmann, liegt in der Konstitution und Legitimierung der Macht in einem imaginierten Verfassungsgebungsprozess, sodass die Menschenrechte hier sowohl als gedachte Voraussetzung, wie auch gleichermaßen als Ergebnis ihre Stellung einnehmen (197). Wenn auch vorstaatlich gedacht, so sind sie keineswegs als vorpolitisch, also natürlich, zu verstehen.

Da der Staat als Garant der Menschenrechte auftreten soll, zugleich aber Hauptadressat der menschenrechtlichen Klagen ist – schließlich wird aus einem Verbrechen hier erst ein menschenrechtliches, wenn es durch eine:n Funktionsträger:in bzw. einen Repräsentanten oder eine Repräsentantin der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird – bedarf es auch eines staatsexternen Schutzes. Im Übergang zur internationalen Ebene will Pollmann das konstituierende Moment, die hier zunächst nationalstaatlich gedachte Volkssouveränität, aufheben, indem er vor einer Unterwerfung der (idealerweise demokratisch verfassten) Staaten unter ein Über-Subjekt, einen Weltstaat warnt; vielmehr schließt er sich der Kantischen These eines nötigen konföderalen Systems an. Die Ordnung stellt sich Pollmann streng subsidiär vor, wobei dem internationalen Regime qua Selbstbindung der einzelnen (wiederum idealerweise) Republiken nur die basalen (aber zentralen) Aufgaben des Menschenrechtsschutzes, daraus abgeleitet der Friedenssicherung und – hier geht Pollmann über andere inhaltlich nahe Konzeptionen hinaus1 – der Demokratieförderung zukommen (289). Letzteres erklärt sich aus der hier präsentierten konstitutionellen Konzeption der Menschenrechte, die eben mit Volkssouveränität und demokratischer Legitimation rechnet und rechnen muss.

Für die sich hier aufdrängenden realpolitischen Problemstellungen, wie den Fragen nach der Legitimität menschenrechtlicher Interventionen (von Sanktionen bis zur militärischen Intervention), verweist Pollmann zunächst auf das Subsidiaritätsprinzip und sieht Einmischungen erst dann als legitim an, wenn die oppositionellen Kräfte, die Menschenrechte einfordern, ohnmächtig (geworden) sind, also nicht aus eigener Kraft für ihre Belange eintreten können. Inwiefern damit eine Unterstützung erst einsetzen würde, wenn es schon zu spät ist, ließe sich ganz aktuell etwa an den Stimmen aus dem Iran diskutieren, die sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen sehen. In jedem Fall, so Pollmann, müssten neben der Frage der akuten Intervention auch Strukturen der nachträglichen gerichtlichen Untersuchung und Ahndung auf internationaler Ebene geschaffen werden, neben dem Internationalen Strafgerichtshof, der sich auf schwerste Menschenrechtsverbrechen konzentriert, also ein Gericht mit entsprechenden Polizei- und Strafvollzugsstrukturen für die Verfolgung aller Menschenrechtsverbrechen geschaffen werden (299).

Menschenwürde, oder: der Inhalt der Menschenrechte (seit 1945)

Nachdem Begriff und Funktion der Menschenrechte umrissen wurden, widmet sich Pollmann der Inhaltsbestimmung, wobei er auf die jüngste Verschränkung von Menschenrechten und Menschenwürde als Folge der extremen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts zurückkommt. Aus der Erfahrung ihrer Fragilität heraus soll die Menschenwürde hier also nicht vorausgesetzt werden, sondern als telos gesetzt, und ihr Schutz zur „prioritäre(n) Grundpflicht aller politischen Gewalt“ (305) gemacht werden. Der Inhalt der Menschenrechte ist folglich, die Bedingungen zu schaffen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Was das heißt, wird zunächst negativ erschlossen, indem die Kriterien der Würdeverletzung analysiert werden. Solche identifiziert Pollmann in Momenten der Demütigung, der Verachtung und der Erniedrigung. Nun tatsächlich an Bloch anschließend wendet er diese Diagnose in eine positive Bestimmung, die mit der oben schon angeführten Metapher des „aufrechten Gangs“, des „erhobenen Haupts“ oder, direkter, mit Selbstachtung charakterisiert wird (358).

Dabei wird auch dem von Erniedrigung, Demütigung und Verachtung selbst betroffenen Subjekt eine Verantwortung bzw. ein Spielraum zugerechnet. Auch strukturell sollen die Subjekte gegen Versuche der Herabsetzung wehrhaft gemacht werden. Mit der Rede der ‚Komplizenschaft’ der Erniedrigten (366f.) will Pollmann dabei nicht den Opfern noch eine Mitschuld zurechnen, sondern die eigene Pflicht, sich nicht zu unterwerfen, hervorheben, Eigen- und Fremdverantwortung für die Wahrung der Menschenwürde harmonisieren, und dabei auch auf die These hinweisen, dass mit der Beschneidung der Würde anderer und damit der Generalität der Menschenwürde – der Würde des Menschen – auch die eigene Würde angekratzt wird (374f.).

Aus der Zentralstellung der Menschenwürde zieht Pollmann den Schluss, dass zwei Klassen von Menschenrechten und darin verschiedene Abstufungen zu erkennen (bzw. noch zu schaffen) seien: solche der „privaten Autonomie“ und jene der „öffentlichen Gleichstellung“. Während diese in eine Rangfolge hinsichtlich ihrer Priorität gebracht werden könnten, bleibt dennoch das interpretatorische Moment zentral. Grenzen sind dieser Abwägung und auch der demokratischen Debatte lediglich beim basalen Schutz der Rechte gesetzt, was Pollmann schon aus der Logik erklärt, dass der Souverän in einen „performativen Selbstwiderspruch“ geriete, taste er seine eigenen basalen Regeln an (421).

Der Kampf ums Recht und der Kampf im Recht

Nachdem nun entlang einiger Eckpfeiler ein Durchgang durch die sehr dichte Argumentation des Buches präsentiert wurde, sollen zwei Momente herausgegriffen und genauer beleuchtet werden: Zum einen die Relevanz der Kämpfe bzw. der prozessuale Charakter dieser Menschenrechtskonzeption; zum anderen, und damit eng verbunden, die Fassung der Menschenrechte in ihrem politischen, konstitutionellen Sinn. In dieser doppelten Interpretation der politisch gewendeten Konzeption der Menschenrechte – einmal historisch, einmal normativ – zeigen sich wichtige Einsichten, die aber in ihrem Wechsel von Diagnose und Setzung teils die eigenen Ansprüche unterlaufen.

Es ist eine große Stärke der Konzeption Pollmanns, historisch und negativ gewandt an die Konstruktion seines eigenen Arguments heranzugehen. Statt von einer vollendeten Idee verwirklichter Menschenrechte zu sprechen, verweist er immer wieder darauf, dass die Rechte erst zu erkämpfen, stets zu verteidigen und in sich nicht abgeschlossen sind, sondern stets erweitert werden können oder gar müssen. Diese Kämpfe ums Recht, und im Recht, zeigen sich auf verschiedenen Ebenen. Die vielleicht basalste Ebene, heute so dringlich wie seit längerem nicht mehr, ist, wie Pollmann selbst betont, dass die Euphorie der Menschenrechte, die noch zu Beginn des neuen Jahrtausends bestand, inzwischen längst gebrochen ist. Statt der Unausweichlichkeit, die er gemeinsam mit Christoph Menke den Menschenrechten noch 2007 in ihrer Einführung zur Philosophie der Menschenrechte diagnostizierte (Menke/Pollmann 2007: 9 ff.), sind in den letzten Jahren nicht nur vermehrt theoretische Vorbehalte gegen, und Kritiken der Menschenrechte zu verzeichnen, sondern darüber hinaus auch noch realpolitische Brüche, die eher einen Rückgang, als die progressive Verbreitung der Menschenreche erkennen lassen (10 f.).

Auf theoretischer Ebene fordert Pollmann hier eine kritische Selbstreflexion der Menschenrechte, statt sich einfach ihrem Abgesang anzuschließen, der den realen (und revolutionären) Gehalt der Menschenrechte verfehle. Inwiefern diese Selbstreflexion aber ggf. zu kurz greift, ließe sich etwa anhand des Vergleichs zu den neueren Arbeiten seines damaligen Ko-Autors Christoph Menke überlegen. Während Pollmann mit seiner konstitutionellen Fassung der Menschenrechte eine Stärkung und Rückgewinnung des Rechts fordert und dabei auch großes Gewicht auf die notwendig subjektiv-öffentliche Form der Rechte legt, findet man bei Menke eine Formkritik eben dieser subjektiven Rechte. Menkes „Kritik der Rechte“, speziell der Form der subjektiven Rechte, kann als Reflexion des Umstandes verstanden werden, dass die Rechtsform drängende Anliegen im Menschenrechtsdiskurs auch unterlaufen kann. Dass etwa Gleichheit hier nur „in Form der Rechte“ (Menke 2015: 7) dargestellt wird, dabei aber eine fundamentale Ungleichheit eventuell noch weiter befördert, oder zumindest politisch abgeschottet wird, kann dazu beitragen, die Menschenwürde „anzutasten“ (Menke 2009: 4). Dass die berechtigende und ermächtigende Form der subjektiven Rechte also auch eine entpolitisierende Wirkung hat, wird bei Pollmann hinter der Hervorhebung ihrer emanzipatorischen Momente ausgeblendet bzw. der Versuch unternommen, dieses Problem in demokratischen Praktiken aufzulösen.2

Die Frage, ob sich Pollmann bei seiner konstitutionellen aber zugleich kämpferischen Konzeption der Menschenrechte zu stark auf das Recht selbst verlässt, hat auch Auswirkungen auf die Konzeption als Ganze bzw. ihren politischen Gehalt oder Sinn. Rechte sind hier keineswegs nur als fixierte Regeln zu verstehen, sondern tauchen im Kontext des Buches eher als Versprechen (und zwar noch einzulösende) auf. Die Menschenrechte und ihr Verhältnis zur demokratischen Selbstbestimmung beschreibt Pollmann wie folgt:

Die Menschenrechte ergeben sich aus dem – selten historisch realen, aber dennoch imaginär als legitimatorisches Leitbild wirksamen – Akt einer demokratischen (Nach-)Gründung politischer Machtverhältnisse, und zwar als konstitutionelle Vorbehalte gegenüber den öffentlichen Gewalten, deren Macht nur ‚geliehen’ ist und stets in illegitime Willkürherrschaft umzuschlagen droht. (71)

Zwei abschließende Anmerkungen sind dazu zu machen: Einerseits ist in dieser Passage gut zu erkennen, wie Pollmann sich zwischen historischer Rekonstruktion und idealtheoretischer Konzeption verortet. Die kontrafaktische Idee der Menschenrechte, die als vorstaatliche, aber eben nicht vorpolitische zugrunde gelegt wird, ermöglicht es ihm, die Spannung zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten zwar nicht aufzulösen, aber doch einzuhegen. Mit der Konstruktion der Rechte als Versprechen (326) scheinen die Menschenrechte hier weniger offen, als wenn sie als bloße „Platzhalter“ (Kreide 2013) gefasst werden, wie dies auch Pollmann zu Beginn seiner Charakterisierung einer politischen Konzeption der Menschenrechte mit Verweis auf Regina Kreide noch tut (69). Wenn auch keine Vorfestlegung, so scheint hier doch eine Tendenz vorgezeichnet zu sein, und auch ein Modus, sich auf den rechtlichen Standpunkt zurückzuziehen. Dies – und das damit verbundene Problem – zeigt sich exemplarisch am Schluss des Buches, wenn die Einschränkung von Freiheitsrechten in der pandemischen Lage kurz umrissen wird. Mit Verweis auf menschenrechtliche/konstitutionelle Vorbehalte gilt hier als ausgemacht, dass durch die Freiheitseinschränkungen „im Namen des Volkes“ gegen dessen eigene Grundregeln verstoßen würde, und das Freiheitsargument der Vielen überwiege. Vor dem relevanten Kern der Menschenrechte, auch die Minderheiten gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ zu schützen, wie ihn Pollmann selbst verdeutlicht, könnte man aber ebenso mit Verweis auf fundamentalste Rechte die Freiheitseinschränkung legitimieren, schützt sie doch etwa vorerkrankte Menschen in der Ausnahmesituation in ihrem basalen Recht auf Leben. Kurz: die Debatte kann und muss freilich an den Menschenrechten, und in Verweis auf diese, geführt werden. Sie bleiben aber das Instrument und nicht schon die Antwort – dessen ist sich auch Pollmann bewusst, wenn er auf die Unerlässlichkeit der Interpretation der Normen verweist, auch dort, wo er eine abstufende Gewichtung verschiedener Klassen von Menschenrechten vorschlägt (401)3.

Fazit

Zusammengenommen legt Pollmann hier ein sehr dichtes Werk zur Charakterisierung der Menschenrechte in ihrem heutigen Verständnis vor, das gekonnt den historischen Wandel und die damit verbunden gravierenden Effekte beschreibt. Mehr noch: es wird eine starke Theorie der Menschenrechte als konstitutionell-politische Rechte umrissen. Mit dieser Konzeption leistet Pollmann einen wichtigen Beitrag zur kritischen Selbstreflexion der Menschenrechte, und macht einen Vorschlag zur Rückgewinnung und Stärkung dieser in einem historischen Moment, in dem sie sowohl theoretisch als auch praktisch unter Druck stehen. Die darin angelegte Polarität von historisch informierter Negativität und Ansätzen konstruktiver Idealtheorie (die sich in kontrafaktischen Setzungen versteckt, wenn etwa gefragt wird, wie die Bürger:innen eine hypothetische „(Neu-)Gründung ihrer Gewaltverhältnisse“ (269) gestalten würden), zeigt sich in weiten Teilen produktiv, stößt aber auch an die benannten Grenzen: Die interne Dialektik der Menschenrechte, die Pollmann bereits in der Einleitung überzeugend darstellt, macht doch auch nicht vor der Form der Rechte halt.

Am stärksten ist die Konzeption, wo sie auf konkrete Erfahrungen der Gewalt zurückgreift, aus deren Negation sich die Verbindung von Menschenrechten und Menschenwürde speist. Die Frage, wie der hier nötige Lernprozess lebendig gehalten werden kann, müsste sich allerdings anders stellen. Meint Pollmann, dass wir heute nur noch indirekten Zugang zu den extremen Gewalterfahrungen haben, was mit Blick auf die Zäsur des nationalsozialistischen Terrors stimmt, so begründet sich der heutige Abgesang auf die Menschenrechte doch weniger in diesem Erfahrungsverlust, sondern in der Persistenz von (jeweils anderen aber dennoch extremen) globalen Gewalterfahrungen. Waren sie zumindest vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im europäischen Raum weniger präsent, so sind die Gewalterfahrungen im Rahmen von (Bürger-) Krieg, Vertreibung, Ausschluss etc. weltweit keineswegs rar geworden. Das Spektrum müsste hier also geöffnet, die Kritik noch stärker miteinbezogen werden, und die kritische Selbstreflexion der Menschenrechte durch wechselseitige transnationale Lernprozesse und stärkere Erfahrungsaustausche befördert werden.

Schließlich könnte vor diesem Hintergrund auch eine der Eingangsfragen des Buches umgedreht werden. Statt der Verwunderung über die schwindende Euphorie im Menschenrechtsdiskurs der letzten zwanzig Jahre könnte rückblickend die Frage gestellt werden, wie und warum es zu Beginn des Jahrtausends überhaupt zu einer solchen Euphorie der Menschenrechte kam. Sicher: die tragenden Ereignisse der Diagnose für den Rückgang, wie etwa das Scheitern der Aufstände in Nordafrika – des „arabischen Frühlings“ – und anderen Regionen, waren hier noch nicht vorauszusehen; genauso wenig aber deren Ausbruch. In der damaligen Situation, in der man sich also mit den alten autoritären Regimen konfrontiert sah, waren es nicht zuletzt die postkolonialen und feministischen Kritiker:innen, denen gegenüber Pollmann eine starke Menschenrechtsthese entwickeln will, die auf die fortbestehenden Gewaltverhältnisse hinwiesen und auch heute hinweisen.4 Ist die genaue Form auch umkämpft, so bleibt doch festzuhalten, was auch Pollmann zurecht nicht müde wird zu betonen: Der Kampf um Menschenwürde (maßgeblich auch mit Hilfe der Menschenrechte) ist und bleibt auf der Tagesordnung.

Literatur

Bloch, Ernst. Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971.

Kreide, Regina. „Menschenrechte als Platzhalter. Eine politische Menschenrechtskonzeption zwischen Moral und Recht.“ In Zeitschrift für Menschenrechte 2 (2013), 80-100.

Menke, Christoph. „Subjektive Rechte und Menschenwürde. Zur Einleitung.“ Trivium. Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften 3 (2009), 1-7.

Menke, Christoph. Kritik der Rechte. Berlin: Suhrkamp, 2015.

Menke, Christoph/Pollmann, Arnd. Philosophie der Menschenrechte zur Einführung. Hamburg: Junius 2007.

Rawls, John. Das Recht der Völker. Enthält: „Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002.


  1. Nicht nur empirisch, wie u.a. auch John Rawls, sondern konzeptuell sieht Pollmann eine notwendige Verbindung von Demokratie und Menschenrechten. Mit implizitem Verweis auf Rawls Forderung der Toleranz gegenüber „achtbaren Gesellschaften“ (vgl. Rawls 2002: 71ff.), insistiert Pollmann jedoch, dass es „vollends außer Frage [stehe], dass der Fluchtpunkt historisch und politisch ‚von unten’ erkämpfter und damit sukzessive universalisierter Menschenrechte ein (…) Staatenverbund, bestehend aus demokratischen Rechtsstaaten, wäre.“ (288)↩︎

  2. Während Menke seine Kritik der Rechte mit Marx’ „Rätsel der bürgerlichen Erklärung gleicher Rechte“ (Menke 2015: 8) beginnt, könnte man Pollmanns Verweis auf Marx mit dem Zitat, dass „[d]ie Demokratie das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“ sei, als Reaktion auf die genannte Kritik lesen. (Marx nach Pollmann 2022: 189)↩︎

  3. Ebenso betont er auch seinerseits, dass der konkrete Inhalt der Menschenrechte nicht vorbestimmt ist, sondern Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, zieht aber aus der Zentralstellung der Menschenwürde seit 1945 bestimmte Vorannahmen (379).↩︎

  4. Auch diesen Punkt nimmt Pollmann direkt zu Beginn auf, wenn er die Forderung nach kritischer Selbstreflexion der Menschenrechte als „fraglos berechtigt“ darstellt und sich eher von dem „polemisch, hämischen oder gar verächtlichen“ Ton distanziert (11).↩︎

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