Lewis, Sophie: Abolish the Family. A Manifesto for Care and Liberation. London und New York: Verso 2022. 128 Seiten. [9781839767197]
Rezensiert von Sarah Mühlbacher (Goethe-Universität Frankfurt)
Nach „Full Surrogacy Now“ (2019) hat Sophie Lewis mit „Abolish the Family“ nun ein furioses Manifest vorgelegt. „(…) [W]e all deserve better...“ (5) unter diesem Motto steht Lewis’ mitreißender Appell, sich nicht zufrieden zu geben mit den gegenwärtigen ausschließenden, besitzindividualistischen, hierarchisierenden und gewaltsamen Formen des Zusammenlebens und des füreinander Sorgens. Sophie Lewis analysiert die strukturellen Bedingungen dieser Verhältnisse und rekonstruiert die lange aber weitgehend verschüttete Geschichte revolutionärer Bewegungen zur Abschaffung der Familie. Gleichzeitigt sucht Lewis nach Alternativen zur „scarcity-based trauma machine“ (4) des familialen Zusammenlebens. Lewis’ Manifest ist damit jenen Ansätzen zuzuordnen, deren Sozialkritik bei Erfahrungen des sozialen Leidens ihre Ausgangspunkte nehmen. Die Kritik an der Familie soll die am meisten Marginalisierten in den Mittelpunkt rücken: Kinder, trans Kinder, Schwarze trans Kinder (86–88). Lewis’ Sprache ist unverkennbar, prägnant, unverblümt, voller Witz und überraschender Wendungen.
Die Streitschrift verfolgt erklärtermaßen die Absicht, gängige Missverständnisse aufzuklären, die sich um die Forderung „Abolish the family“ ranken. Die Forderung besteht, so Lewis, nicht darin, Sorge und Zuwendung abzuschaffen, sondern die Weisen, wie diese praktiziert werden, radikal zu erweitern. Im Gegensatz zu reformerischen Ansätzen, plädiert Lewis jedoch dafür, diese Experimente nicht mit Begriffen aus dem Repertoire der Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse zu bezeichnen, da diese als zu korrumpiert erscheinen. Diesen Appell verortet Lewis in einer langen Geschichte anarchistischer, kommunistischer, feministischer, dekolonialer und queerer Bewegungen.
Lewis arbeitet dabei vor allem einen amerikanischen Diskurs auf. Seit Februar 2023 ist das Buch nun auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Auch für den deutschsprachigen Diskurs bietet das Buch zahlreiche Anknüpfungspunkte. Noch in den 1960er- und 1970er-Jahren betrachtete die Frauen- und Kinderladenbewegung innerhalb der deutschen 1968er-Bewegung die Dezentrierung der Familie als eine notwendige Voraussetzung für eine Demokratisierung der Gesellschaft (Rhaden von 2017: 7). Radikale Experimente sollten der Etablierug anderer Formen von Sorgeverhältnissen dienen. Als Helke Sander am 13.09.1968 als Vertreterin des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS sprach, benannte sie die Einrichtung der Kinderläden als wichtige Bedingung, um Frauen den notwendigen Freiraum für Emanzipation und politischen Aktivismus einzuräumen. Die Kinderläden wurden als Orte kollektiver Erziehung vorgestellt, die Kinder aus den Fesseln der Kleinfamilie befreien sollten und ihnen ein Aufwachsen jenseits der Erziehungsprinzipien von „Konkurrenzkampf und Leistungsprinzip“ (Sander 1968/2010: 60) ermöglichen sollten (vgl. dazu auch Baader 2008: 65). Indem die Träger:innen der Kinderläden Elternkollektive waren, richteten sie sich gleichzeitig gegen die staatliche Erziehung (Sander 1968/2010: 61). Autor:innen wie Shulamith Firestone, der Lewis eine zentrale Rolle in der Geschichte des family abolistionism zuschreibt, wurden auch von der Kinderladenbewegung in den 1970ern rezipiert. In der Streitschrift „Nieder mit der Kindheit“, ins Deutsche übersetzt und erschienen 1973 in der 34. Ausgabe des Kursbuches, beschreibt Firestone die Notwendigkeit einer Allianz zwischen der Frauenbewegung und der „Befreiung“ der Kinder. Dass nun beinahe zeitgleich zur deutschen Übersetzung von Sophie Lewis’ Buch (Februar 2023) mit Emilia Roigs „Das Ende der Ehe“ (März 2023) ein weiteres Buch erschienen ist, das eine radikale Kritik am Modell der Kleinfamilie übt, spricht dafür, dass solche Ansätze auch im deutschsprachigen Raum wieder stärker rezipiert werden.
„All unhappy families are alike“ – zur strukturellen Misere der Familie
Das Unglück, das der Familie anhaftet, hat Struktur. In ihrem Unglück ähnelten sich die Familien nicht in ihrem Glück, so Sophie Lewis mit Ursula K. LeGuin gegen Tolstois berühmter Eröffnung seines Romans „Anna Karenina“. Das strukturelle Versagen der Familie führt Lewis in feministisch-materialistischer Tradition auf die, in dieser wirksamen, Ideologie der Arbeit zurück. Die Familie bringt neue Arbeiter:innen hervor und optimiert deren Fähigkeiten. Die Beziehungen ihrer Mitglieder, die unter diesen Vorzeichen in Verbindung zueinander treten, nehmen selbst proprietären Charakter an (10–13). Im Wohlfahrtsstaat – hier bezieht sich Lewis auf Melinda Cooper – dient die Familie als Reparaturwerkstatt. Cooper diagnostiziert, dass der neoliberale Abbau von Sozialstaatlichkeit und die Betonung der gesellschaftlichen Bedeutung der Familie, sich nicht zufällig oftmals auf derselben politischen Agenda befänden. Die Familie wird als diejenige Institution angerufen, die beispielsweise durch häusliche Pflege den öffentlichen Pflegenotstand kompensieren soll (6–7).
Ihre Prägnanz erhält Lewis’ Analyse dadurch, dass sie den Mikrokosmos dieses besitzförmigen Zusammenseins kleinteilig seziert. Besitzansprüche der Eltern an ihren Kindern werden als natürlich verklärt. Care-Arbeit ist entlang von Geschlechterzuschreibungen ungleich verteilt. Diejenigen, die sie leisten müssen, werden systematisch erschöpft und isoliert (5–6). Familie ist derjenige Ort, an dem am meisten Gewalt, Missbrauch, Betrug und Übergriffe stattfinden (9). Die Fesseln, die die Familie ihren Mitgliedern anlegt, sind schier unentrinnbar: „It might hinder a trans or disabled child from claiming medical care. It might dissuade someone from getting an abortion.“ (3)
Philosophisches Arbeiten bedeutet für Lewis, wilde Assemblagen bestehend aus Zitaten, Metaphern, Referenzen an Film und Literatur sowie aus persönlichen Erfahrungen zu erzeugen. Lewis’ Analyse ist an allen Stellen imprägniert durch Erfahrung, die zügig überführt wird in theoretische Analysen. Dazu zählt, dass Lewis’ Untersuchung bei affektuellen Reaktionen ansetzt, die eine fundamentale Kritik der Familie oftmals auslösen, nämlich Abwehr und Unbehagen: „Let me tell you a secret: people get really angry when you suggest to them that they deserved better than what they got growing up.“ (3–4) Daraus leitet Lewis Hinweise auf die Frage ab, warum die Abschaffung der Familie so unvorstellbar erscheint – unvorstellbarer als die Abschaffung des Kapitalismus (6). Subjekttheoretisch argumentiert Lewis, dass die Familie nicht nur eine soziale Praxis ist, sondern tief eingeschrieben ist in Subjektivierungsweisen. Deswegen wird ihre Infragestellung oftmals als Androhung eines Verlusts des Selbst erlebt (1–2). In Familien werden Staatsbürger:innen sozialisiert, mit kapitalistischem Konkurrenzdenken und Arbeitsethos sowie einer binären Geschlechtsidentität ausgestattet (6). Dies führt dazu, dass die Familie als natürliches Verhältnis erlebt wird. Diese Überlegungen sind enorm voraussetzungsreich und werfen zahlreiche sozialisations-, subjekt-, sowie affekttheoretische Anschlussfragen auf. Wie lassen sich die systematischen Verschränkungen von familialistischen und kapitalistischen sowie nationalstaatlichen Organisationsweisen von Gesellschaften verstehen? Wie geschieht die Vermittlung zwischen diesen Ebenen?
Differentieller Familialismus
Die allgemeinen Überlegungen zu den strukturellen Bedingungen und Eigenschaften der Familie konfrontiert Lewis im zweiten Kapitel mit einem Einwand – ohne diesen so zu benennen – aus intersektionaler Perspektive: Der Familialismus in bürgerlich kapitalistischen Gesellschaften verfährt differenziell. Von der staatlichen Privilegierung ehelichen Zusammenlebens profitieren insbesondere weiße in monogamen Partner:innenschaften lebende Personen der Mittel- und Oberschicht. Arme Menschen, Menschen mit Behinderung, BIPoCs oder LGBTIQA+ werden hingegen durch staatliche Regierungsweisen am familialen Zusammenleben gehindert. Diese Gleichzeitigkeit von familialen und anti-familialen Politiken, verdeutlicht Lewis anhand von Grenzregimen, die Menschen auf der Flucht systematisch und gesetzlich geregelt von ihren Familien separieren (22–23).
Die Erfahrungen, die rassifizierte, arme, flüchtende und staatenlose Menschen mit Familie machen sind andere als diejenigen von in weißen Mittelschichtsfamilien situierten Menschen. Lewis gibt Einwänden aus der Perspektive Schwarzer Feminismen Raum, wie demjenigen Hazel Carbys: Weiße Feminist:innen neigten dazu, die unterdrückenden Aspekte von Familie überzubetonen. Diese Perspektive verunsichtbare die Bedeutung Schwarzer Familien und von Familien of Color für den Widerstand gegen rassistische Verhältnisse (28). Abolitionistische Theorien und Politiken sollten sich keineswegs gegen die widerständigen Potentiale von Familie als Zufluchtsort vor gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen richten, stellt Lewis klar. Es bedarf also einer Differenzierung: Die Abschaffung der Familie kann nicht einfach in einem Atemzug mit der Abschaffung der Polizei und der Gefängnisse gefordert werden (23). An dieser Stelle wähnt Lewis ihre Analyse an einem neuralgischen Punkt. Die differenzblinde Forderung nach Abschaffung der Familie ist genau so wenig zielführend wie eine Kritikstrategie, die auf eine Reformierung der Familie setzt. Diese Perspektive läuft nach Lewis nicht nur Gefahr, marginalisierte Familien zu romantisieren und damit die ambivalenten Erfahrungen, die ihre Mitglieder oftmals mit ihnen machen, unsichtbar zu machen. Sie unterschätzt, so Lewis in Rekurs auf Hortense Spillers, Tiffany Lethabo King u. a., die Gewalt kolonial-kapitalistischer Herrschafts-verhältnisse. Während den einen verunmöglicht wird, die Fesseln ihrer familialen Zugehörigkeiten, in die sie per Zufall qua Geburt hingeworfen wurden, abzustreifen, werden die anderen zur Verwandtschaftslosigkeit gezwungen (24–26). Diesen komplexen Verschränkungen familialistischer Unterdrückungsverhältnisse, muss eine Kritik der Familie Rechnung tragen. Lewis schlussfolgert daraus, dass Abolitionist:innen aufgefordert sind, für die Abschaffung der Familie in jeglichen Erscheinungsformen und gleichzeitig gegen die staatliche Kriminalisierung und Polizierung marginalisierter Familien einzutreten (87–88).
Kritik der Familie – eine Geschichte sozialer Bewegungen
Ihre eigene Arbeit verortet Sophie Lewis im Rahmen des 3. Kapitels in einer langen Geschichte sozialer Bewegungen. Damit erhellt Lewis nicht nur ein Konzept, sondern sammelt gleichzeitig Fragmente vergessener, wenig erzählter Geschichten, Geschichten verpasster und nicht weiterverfolgter Allianzen. Verschiedene Motive tauchen in diesen Geschichten immer wieder auf: Bereits Charles Fouriers verband die Forderung nach der Abschaffung privater Küchen mit Anliegen sozialer Gerechtigkeit, wie der Gleichberechtigung von Frauen oder der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Der Utopismus Fouriers beeinflusste viele revolutionäre Denker:innen nach ihm, u. a. Karl Marx und Friedrich Engels (37–40). Die entsprechenden Einlassungen genießen in der Rezeption des Kommunistischen Manifests weniger Aufmerksamkeit, aber auch Marx und Engels schreiben der Abschaffung der Familie eine wesentliche Bedeutung zu. Neben Staat und Religion gilt Marx und Engels die Familie als eines der größten Hindernisse, die es auf dem Weg zum Kommunismus zu überwinden gilt (46–49). Bei Alexandra Kollontai finden sich schließlich ausgearbeitete kommunistische Alternativen zur Familie. Care-Arbeit und die Begleitung von Kindern erklärt Kollontai zu kollektiven statt zu privaten Angelegenheiten. Geschlechtergerechtigkeit und die Legalisierung von Abtreibung sieht sie als zentrale Voraussetzungen zur Verwirklichung einer „red love“, also einer nicht-privatistischen, kollektiven Liebe (49–54). In diesem Sinne interpretiert Lewis auch die Kampagne „Lohn für Hausarbeit“ der 1970er als Kämpfe für die Abschaffung der Familie statt als bloße Forderung nach Anerkennung und Aufwertung von häuslicher Arbeit (66–71).
Dekoloniale Bewegungen machen auf die Rolle der Familie als Teil eines kolonialen Unterdrückungssystems aufmerksam. Sophie Lewis bezieht sich auf Kim Tallbears Beschreibung der Familialisierung als einen bis heute andauernden Prozess der Kolonialisierung (40). So wurde den US-amerikanischen und kanadischen Regierungen die zwangsweise Verordnung von Ehe zum Mittel, um indigene Modelle kollektiven Besitzes, die einhergingen mit nicht-binären Geschlechterordnungen, polyamoren Beziehungskonzepten und matrilokal organisierten Haushalten, zu zerstören. Die männlichen Vorstände der per Zwang eingeführten ehebasierten Haushalte wurden so zu Privateigentümern (40–43).
Als „Family-Abolition-Von-Unten“ bezeichnet Sophie Lewis die widerständigen Formen des Zusammenlebens, die sich der familialistischen Zurichtung widersetzten. Sophie Lewis beruft sich an dieser Stelle auf Saidiya Hartmans Dokumentationen der widerspenstigen Lebensformen von Singlemüttern, von Bewohner:innen erweiterter und queerer Haushalte, von Sexarbeiter:innen und von Gefängnisinsass:innen, die Hartman als widerständige und damit schöne Experimente freierer Leben beschreibt (45–46).
Als weiteren wichtigen und heute weitgehend vergessenen Aspekt der Geschichte feministischer und antirassistischer Bewegungen führt Lewis die Allianz mit der Kinderbefreiungsbewegung an. Shulamith Firestone betrachtet die Befreiung von Kapitalismus und Patriachat als gemeinsame Aufgabe von Kindern und Frauen (55–61). Ähnliches kann nach Lewis für die schwul-lesbische Bewegung konstatiert werden. Repressionserfahrungen trugen dazu bei, dass dieser Teil der Geschichte feministischer und queerer Bewegungen zunehmend in Vergessenheit geriet. Moralpaniken, die sich strategisch auf das Wohl der Kinder beziehen, um unter diesem Vorwand konservative und reaktionäre Politiken hoffähig zu machen, rückten beispielsweise queere Lebensweisen in die Nähe von Pädophilie. In Reaktion darauf wurden die Allianzen insbesondere zwischen der queeren und der Kinderbefreiungsbewegung nicht weiterverfolgt und die Linke kaprizierte sich auf romantische Bilder von Familie, die es vor Bedrohungen durch den Kapitalismus zu schützen gelte (61–66). Der historische Überblick endet schließlich in der Gegenwart: In aktuellen queer und trans marxistischen Strömungen, denen sie sich selbst zuordnet, sieht Lewis den Beginn einer Wiederbelebung des family abolitionism (71–74).
Liebevolle Genoss:innen für alle!
Sophie Lewis’ Untersuchung, sowohl der Gegenwart der Familie als auch der Geschichte der Kritik der Familie, bringt sie zu der Erkenntnis, die Suche nach anderen und besseren Formen von Familie abzubrechen. Der Ausstieg aus der „scarcity-based trauma machine“, den Lewis vorschlägt, führe nicht zu den Wahlverwandten und den „chosen families“, sondern zu schlichtweg „nothing“ (84). Mit dieser finalen Wendung eröffnet Lewis das letzte Kapitel (Kapitel 4) der Streitschrift. Auf den ersten Blick scheint dieser kompromisslose Vorschlag einer ersatzlosen Streichung des Familienkonzepts Vor- und Nachteile mit sich zubringen. Eine mögliche Gefahr besteht darin, auf einen „Verbalradikalismus“ zu insistieren, der zum einen politisches Handeln lähmt und zum anderen die Errungenschaften derjenigen, die für praktische Alternativen kämpfen, bagatellisiert. Eine Gefahr, derer sich Lewis sehr wohl bewusst ist:
Even now, I am almost persuaded that saying ‘abolish the family’ is too risky, too unstrategic, utopian in the wrong sense of the word. I am almost persuaded, but not quite. (23)
Die große Stärke radikaler Kritiken besteht darin, Fallstricke von Reformpolitiken zu verdeutlichen. Diversere Familienformen überschreiten nicht notwendig die Partikularität in kleine Einheiten eingegrenzter Sorgegemeinschaften. Allerdings besteht die Gefahr eines unproduktiven und letztlich entpolitisierenden Bruchs zwischen reformerischen und radikalen Projekten. Reformen weisen immer auch Potentiale hin zu einer weitergehenden transformatorischen Überschreitung auf (vgl. Laufenberg 2022: 143). Trotz der kaum zu übertreffenden Radikalität der Analyse, gelingt es Lewis, dieses Spannungsverhältnis nicht einseitig aufzulösen. Ihre Argumentation zielt gerade nicht darauf ab, sämtliche praktizierte Alternativen zu hegemonialen Lebensweisen unter den Generalverdacht der Verstrickung in neoliberale Herrschaftsverhältnisse zu stellen. Wenn Lewis von der Revolutionierung aller Lebensbereiche schreibt, führt sie diese Erkenntnis zurück auf den Besuch eines Protestcamps in Philadelphia im Sommer 2020, dem „Camp Maroon“. Die Aktivist:innen, die das Camp bewohnten, setzten sich für kostenlosen Wohnraum und Rechte für Migrant:innen ein:
It was that summer that taught me: all beings exploited by capital and by empire are basically homeless. […] But the thing that would make our houses home – in a new, true, common sense of the word – is a practice of planetary revolution. (77; Hervorhebung im Original)
Die dort gemachten somatischen und affektiven Erfahrungen anderer Beziehungsweisen werden somit zum Ausgangspunkt des philosophischen Erkenntnisprozesses. Das Queeren des Zusammenlebens und füreinander Sorgens ist nach Lewis eine Form antikapitalistischen Kampfes, der auf ein besseres Leben für alle abzielt (19). Dieses bessere Leben qualifiziert sich durch ein praktiziertes Füreinander-Da-Sein jenseits vergeschlechtlichter Zuschreibungen und proprietärer Verkettungen (85). Diese Kämpfe verortet Lewis in einer abolitionistischen Tradition, in deren Zentrum, die Abschaffung von Gefängnissen, Polizei und Staatsgewalt steht. Abolitionist:innen, wie Ruth Wilson Gilmore verstehen unter Abolition weniger die einfache Beseitigung einer Institution oder Infrastruktur, sondern adressieren, im Gegenteil, einen kreativen Prozess, in dem neue Beziehungsweisen, geteilte Praktiken und Institutionen entwickelt und etabliert werden (81).1 Wird Abolitionismus als radikale Transformationstheorie verstanden, folgt nach Lewis daraus, dass eine Kritik der Staatsgewalt nicht an den Grenzen dessen, was als Privat gilt, halt machen darf (81).
Eine solche queer-antikapitalistische, abolitionistische Bewegung vollzieht nach Lewis eine Aufhebung der Familie im hegelianischen Sinne – einem Viererschritt folgend: Zerstörung („destruction“) – Bewahrung („preservation“) – Transformation („transformation“) – Realisierung („realization“). Für eine Kritik der Familie bedeutet dies, zu fragen, worin ein bewahrungswürdiger utopischer Kern der Familie besteht. Jene Bedürfnisse und Wünsche, die Menschen immer wieder dazu bringen, sich auf die miserablen Umstände einzulassen, die die Familie zu bieten hat, nämlich gegenseitige Sorge, wechselseitige Abhängigkeit und Zugehörigkeit, gilt es nach Lewis zu bewahren. Der Dekonstruktion bedürfen jene sozialen Organisationsformen, die Verknappung statt Erfüllung anzubieten haben (81–84). Neben einer negativen Bestimmung des „nothing“ als konsequentes Verlernen sowohl der Praktiken als auch der Semantiken der Verwandtschaft, sucht Lewis nach einer weiteren, einer positiven Bestimmung. Was die Organisationsformen von Familie und Verwandtschaft zu bieten vorgeben, sind gewisse Grade an Verlässlichkeit. Lewis wirft die Frage auf, ob es angesichts all der Unabwägbarkeiten und Krisen, die das Leben in kapitalistischen Gesellschaften mit sich bringt, wünschenswert sein kann, diesen letzten Rest an Verlässlichkeit aufzugeben. Gesucht sind also Formen von Verbindlichkeit, die ohne die Fallstricke einer Hierarchisierung in Verwandte, für die wir uns zuständig fühlen und in Nicht-Verwandte, für die wir das nicht tun, auskommen. Mehrere Kandidat:innen kommen für Lewis in Frage: die „Genoss:innen“, die „Kompliz:innen“, Freund:innen oder lose Bekannte – „kith“ statt „kin“ (85–86). Einer Theorie des sozialen Leidens an der Familie wird auf diese Weise der utopische Fluchtpunkt anderer Be-gehrens, Beziehungs- und Subjektivierungsweisen entgegengesetzt. Lewis verfolgt damit eine Transformationstheorie, die wesentlich auf der Ebene der Gewohnheiten und Praktiken ansetzt. Gesellschaftlicher Wandel ist demzufolge über das langsame kollektive Einüben anderer sozialer Praktiken zu erreichen. Als beste Vorwegnahme anderer Beziehungsweisen bezeichnet Lewis in Rekurs auf M. E. O’Brien die Protestküche (78). Wie jedoch müssen Genoss:innenschaft und Kompliz:innenschaft gestaltet werden, dass sie nicht erneut ein Einfallstor bieten für eine Unterscheidung in die mehr und die weniger zugehörigen Bekannten? Wäre es nicht folgerichtigerweise das Prinzip der Zugehörigkeit, mit dem es brechen gälte?
Sophie Lewis bleibt auch in diesem Buch einem unvergleichbaren Stil treu. Die Analyse ist auf der einen Seite dunkel und pessimistisch, auf der anderen Seite voller Witz und geleitet von einem unprätentiösen Blick, der Ausdruck eines Ringens um ein besseres und glücklicheres Leben für alle ist. Lewis liefert eine linke Analyse, die an Radikalität kaum zu überbieten ist. Der Pessimismus, der zwischen den Zeilen liegt, verfällt dabei jedoch nie in eine selbstgefällige Überhöhung eines Leidens an der Welt. Lewis’ Streitschrift stellt eine Intervention dar in wissenschaftliche, politische und öffentliche Diskurse, die weitgehend von einem „familialistischen Realismus“ (Laufenberg 2022: 140) bestimmt sind. Dieser ist von Annahmen getragen, dass das Soziale unhintergehbar familial strukturiert sei. Lewis macht Fragen sichtbar, die in diesen Diskursen verdeckt bleiben. Diese Herangehensweise verleiht dem, in der englischen Fassung ca. 90seitigen Text, eine gewisse Interpretationsoffenheit. Das mag den/die ein oder andere Leser:in im ersten Moment als unbefriedigend empfinden. Denjenigen, die das Buch jedoch aus diesem Impuls heraus zur Seite legen, entgeht Lewis’ Aufforderung, den gedanklichen Möglichkeitsraum zu betreten, der sich eröffnet, wenn die ausgetretenen Pfade des „familialistischen Realismus“ verlassen werden. Es erweist sich vielmehr als eine Stärke des Textes, der trotz seiner Kürze eine Vielzahl an Diskursen aufruft und Anschlussfragen aufmacht.
Wie bereits in „Full Surrogacy Now“ legt Lewis eine Virtuosität in der Erfindung neuer Begriffe an den Tag, die die Übertragung in andere Sprachen bisweilen erschwert, die sich aber als hervorragende Methode erweist, um herrschende Denkhorizonte zu überschreiten. Lewis gelingt es, Verbindungen herzustellen und damit eine zersplitterte Geschichte in Erinnerung zu rufen. Es bleibt zu wünschen, dass das Buch seine Wirkung entfaltet und einer Bewegung zur Schaffung neuer Formen des Zusammenlebens jenseits der Einhegung von Sorge in familiale und verwandtschaftliche Begrenzungen in Theorie und Praxis neuen Schwung verleiht.
Literatur
Baader, Meike Sophia. „1968 und die Erziehung.“ In 68er Spätlese – was bleibt von 1968? hg Tobias Schaffrik und Sebastian Wienges, 58–77. Berlin: LIT Verlag, 2008.
Firestone, Shulamith. „Nieder mit der Kindheit!“ Kursbuch 34 (1973), 1–24.
Laufenberg, Mike. „Was tun mit der Familie? Für einen queeren Gegenrealismus.“ In Der Welt eine neue Wirklichkeit geben. Feministische und queertheoretische Interventionen, hg. Hannah Fitsch, Inka Greusing, Ina Kerner, Hanna Meißner und Aline Oloff, 139–148. Bielefeld: transcript 2022.
Lewis, Sophie. Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden. Übers. Von Lucy Duggan. Frankfurt am Main: Fischer, 2023.
Lewis, Sophie. Full Surrogacy Now. Feminism Against Family. London/New York: Verso, 2019.
Loick, Daniel und Vanessa E. Thompson (Hg.). Abolitionismus. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp, 2022.
Rhaden von, Till. „Eine Welt ohne Familie. Über Kinderläden und andere demokratische Heilsversprechen.“ WestEnd 14.2 (2017), 3–26.
Roig, Emilia. Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe. Berlin: Ullstein, 2023.
Sander, Helke. „Rede des ‚aktionsrates zur befreiung der frauen’ bei der 23. Delegiertenkonferenz des ‚Sozialistischen Deutschen Studentenbundes’ (SDS) im September 1968 in Frankfurt am Main.“ In Die neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, hg. Ilse Lenz. Wiesbaden: VS Verlag (2010), 57–61.
Für die deutschsprachige Debatte siehe Loick/Thompson 2022. Der Reader versammelt Übersetzungen zahlreicher zentraler Texte abolitionistischer Autor:innen.↩︎
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