Adorno, Theodor W.: Fragen der Dialektik. Berlin: Suhrkamp 2021. 518 Seiten. [978-3-518-58768-3]

Rezensiert von Frank Müller (Centre Marc Bloch)

Die neu herausgegebene Adorno-Vorlesung Fragen der Dialektik ist von Gewinn und Verlust zugleich gezeichnet: Ein großer Gewinn ist sie durch die ausführliche Entwicklung der Begriffe von Identität, Nichtidentität und Widerspruch am Ende der Vorlesung, die für Adornos spätere Schriften zentral wurden. Ein großer Verlust hingegen ist, dass die offenbar gehaltenen Vorlesungsteile, die Adornos Verhältnis zu Marx gezeigt hätten, nicht erhalten sind – auch wenn Adorno in diesem Zusammenhang immer noch mehr auf Marx zu sprechen kommt als bei anderen Gelegenheiten. Zeitlich gehört Fragen der Dialektik als Vorlesung aus dem Wintersemester 1963/64 in die Phase vor Negative Dialektik (Adorno 1966). Inhaltlich geht sie jedoch weniger erkennbar in dem späteren Buch auf als Teile anderer Adorno-Vorlesungen aus demselben Zeitraum. Sie hängt vielmehr mit der früheren Vorlesung Einführung in die Dialektik von 1958 zusammen, die ebenfalls von Christoph Ziermann aus dem Nachlass herausgegeben wurde (Adorno 2010). Wie die frühere Vorlesung haben die Fragen der Dialektik einen weiteren Rahmen, der nicht nur Adornos eigene Konzeption einer negativen Dialektik behandelt, sondern in dem Adorno den allgemeinen Dialektikbegriff, den er für die Negative Dialektik voraussetzt, mit zahlreichen Quellenverweisen auf Kant und Hegel sowie auf aktuelle Diskussionen ausbaut. Solche Verweise werden von den „Anmerkungen des Herausgebers“ im Anhang des Bandes wieder in ausgezeichneter Weise mit zahlreichen Stellenangaben erschlossen.

I.

Ein kleiner Vergleich mit der früheren Vorlesung Einführung in die Dialektik zeigt, welche Akzentverschiebungen es in diesen Jahren in Adornos Dialektik-Konzeption gab. Der Titel Fragen der Dialektik ist Programm, da Adorno anders als in der früheren Vorlesung keine systematische Einführung in dialektisches Denken anstrebt, sondern lediglich offene Fragen modellhaft vertiefen will. Gleich am Anfang macht er auf seine Intention aufmerksam, „vor allem an einigen Nervenpunkten der dialektischen Problematik wie dem Problem des sogenannten dialektischen Widerspruchs oder dem Problem von Identität und Nichtidentität“ (10) arbeiten zu wollen. Zentrale Themen der Vorlesung sind solche begrifflichen Momente dialektischen Denkens, auf die Adorno jedoch vorläufig nicht eingeht, weil er – ähnlich wie in der Einführung in die Dialektik – zuerst die Voraussetzungen und den allgemeinen Wissenstand dialektischen Denkens klärt. Wie in der früheren Vorlesung entwickelt Adorno den Begriff der Dialektik aus seinem Gegenteil, aus der Antikritik oder den Vorurteilen gegenüber dialektischem Denken, „da die Zeitstimmung der Dialektik in weitem Maß entgegen ist“ (11). So nennt er an Vorurteilen den Intellektualismus-Vorwurf an Dialektik (13ff.) oder die Auffassung, Dialektik bedeute seit dem antiken „dialegesthai“ nichts weiter als ein rhetorisches „Verhältnis von Rede und Gegenrede“ (23ff.). Davon unterscheide sich Hegels Verständnis von Dialektik als Methode, die ihrerseits einer Reihe von Missverständnissen und Verkürzungen ausgesetzt sei (26ff.). Adorno selbst betont wiederum – gegen Hegel, aber auch gegen die konventionelle Auffassung – gerade das rhetorische Moment der Dialektik (32ff.). Durch Adornos Sprachverständnis wird die Darstellung im Text zum Medium des Ausdrucks „geistiger Erfahrung“ (S. 41ff.). In diesem Sinn geht er nicht nur auf die sprachliche Orientierung von Philosophie ein, sondern auch auf seinen Begriff des Begriffs. Schließlich grenzt er sich ausführlich von der Annahme eines dialektischen Triplizitäts-Schemas aus These-Antithese-Synthese ab, das auch mit der hegelschen Konzeption von Dialektik oft irrtümlich verbunden werde (65ff.).

Wie in der Einführung in die Dialektik geht Adorno also von bekannten Einwänden gegenüber dialektischem Denken aus, entwickelt seinen Begriff von Dialektik unter Rückgriff auf Kant und Hegel und aktualisiert in der fünften und sechsten Vorlesung den Hintergrund einer Dialektik der Aufklärung (72–102) sowie in der siebten und achten Vorlesung den Konflikt zwischen Rationalismus und Irrationalismus durch den Verweis auf Georg Lukács’ Die Zerstörung der Vernunft, Nietzsche und vor allem Bergson (103–132).

II.

Vor allem am Anfang lassen sich also Überschneidungen erkennen. Es gibt allerdings zunehmend Unterschiede. In der ersten Vorlesung der Fragen der Dialektik etwa liefert Adorno anders als in der Einführung in die Dialektik einen Überblick über den Diskussionsstand zum Begriff der Dialektik, der sich bei ihm vor allem auf Literatur aus dem Neokantianismus der 1920er und 1930er Jahre stützt, wobei Richard Kroners Von Kant bis Hegel ausdrücklich empfohlen wird, aber auch der französische Hegelianer Alexandre Kojève Erwähnung findet, da aus dessen Hegelseminar der 1930er Jahre (Kojève 1958) soeben einige Abschnitte in der Übersetzung von Iring Fetscher erschienen waren (18). Hegel selbst hingegen, insbesondere die Phänomenologie des Geistes, wird keineswegs so ausführlich berücksichtigt wie in Einführung in die Dialektik. Adorno greift nun auf Hegel und andere philosophische Quellen vor allem zurück, um seine eigenen Gedanken zu untermauern. Hinsichtlich der Argumentationsweise, der Textstruktur und der verhandelten Themen steht Fragen der Dialektik somit auf halbem Weg zwischen einer didaktisch sehr nachvollziehbar aufgebauten akademischen Vorlesung und der Hermetik des späteren Buches Negative Dialektik. Adorno geht es zunehmend um sein „Programm einer sogenannten negativen Dialektik“, ein Ausdruck, der relativ am Anfang der Vorlesungen fällt, vorläufig jedoch Stichwort bleibt, da die Vorlesungen im Folgenden erst einmal andere Akzente setzen (95).

III.

Die Fragen der Dialektik legen zuerst den Akzent auf das Verhältnis von Statik und Dynamik, um den dynamischen Charakter dialektischen Denkens zu unterstreichen. Das ermöglicht es Adorno, verschiedene Begriffe in ihrer Dialektik vorzustellen und kritisch durchzuführen: erkenntnistheoretische in Bezug auf die Unmöglichkeit einer strikten Form-Inhalt-Dichotomie, die anhand von Kants Zeitlehre nachgewiesen wird, aber auch methodische in Bezug auf das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung bei Hegel, das Adorno einführt mit der „Frage, ob […] nicht der Begriff der Vermittlung sich in sich selbst unterscheidet“ (158). Über diesen Aspekt gelangt er bereits in Fragen der Dialektik zur These vom „Vorrang des Objekts“ (161). Und ebenso wie in Einführung in die Dialektik geht Adorno auf Hegels Kritik der Urteilsform als einem Modell dialektischen Denkens ein, stellt sie jedoch jetzt nicht so grundsätzlich dar wie in den früheren Vorlesungen, sondern fasst vor allem ihre Konsequenzen zusammen (166-172). Ganz im Sinne der Begriffe von Statik und Dynamik pflegt Adorno dabei fortwährend den Übergang zwischen philosophiegeschichtlichen sowie gesellschaftstheoretischen Fragen. In der 11. und 12. Vorlesung liest und zitiert er direkt aus seinem 1962 erneut publizierten Aufsatz „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“ (Adorno 1962), den er bei dieser Gelegenheit um einige systematische philosophische Momente ergänzt. Diese Passagen sind durch die Erläuterung des dynamischen Moments der Dialektik neben den Schlussabschnitten über Identität, Nichtidentität und Widerspruch die kohärentesten und instruktivsten Teile dieser Vorlesungen.

Der erste größere Abschnitt der Vorlesungen schließt mit einer kleinen Zäsur, wenn Adorno am Ende der 12. Vorlesung verspricht, nochmals neue Akzente zu setzen und die „Fragen der Dialektik“ ab sofort in Form von bestimmten „Forderungen an einen Begriff der Dialektik“ zu formulieren (188). Dieses Vorhaben führt er nach einer Kritik am philosophischen Systemdenken im Spannungsfeld zwischen Kant und Hegel in der 13. Vorlesung vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen durch, das er über Ausführungen zu deduktiven und induktiven Methoden der Wissenschaft sowie zu Max Webers Idealtypus in der 14. Vorlesung, schließlich durch das Verhältnis von Anschauung und Begriff bei Kant konkretisiert.

In einem anschließenden längeren Exkurs zu Kant in der 15. und 16. Vorlesung versucht Adorno, das dialektische Moment aus der Auseinandersetzung mit grundsätzlichen philosophischen Fragen zu vermitteln, wie dem Verhältnis von Empirismus und Rationalismus. Er geht bei Kant dabei jedoch nicht auf das Antinomienkapitel in der Kritik der reinen Vernunft ein, sondern auf die ganz anfänglichen Passagen über synthetische Urteile a priori sowie über Anschauung und Begriff. Die Pointe am Ende ist Hegels Kantkritik, der zufolge Dialektik eben nicht empiristisch aus einem starren Subjekt-Objekt-Gegensatz verstanden werden kann, sondern als theoretisches Denken immer auch Konstruktion aus dem Begriff ist.

In der 17. und 18. Vorlesung aktualisiert Adorno nach einer Referenz auf die „Geschichte der dialektischen Philosophie“ seit Hegel und Marx (239ff.) seine Motive dialektischen Denkens in einem kritischen Durchgang durch Phänomenologie und Ontologie bei Husserl, Scheler und Heidegger, um am Ende daraus zu schließen, „daß der dialektische Weg, um Kant zu variieren, allein noch offen ist“, auch wenn mit dieser Feststellung, wie Adorno im selben Atemzug betont, keineswegs ein Resultat oder eine „Lösung“ philosophischer Probleme gemeint ist, sondern in erster Linie ein kritischer Weg (253f.). Adorno vertieft die Problemstellung, nachdem er in den vorangehenden Abschnitten den Gedanken begrifflicher, subjektiver oder ideeller Einheit als zentrales Moment philosophischen Denkens entfaltet hat, entsprechend mit der Frage, „ob man von Philosophie überhaupt reden kann, wenn man diesen Gedanken, dieses Motiv der Einheit ganz aufgibt“ (255), womit nichts Anderes als die Grund- und Problemlage für seinen eigenen, identitätskritischen Ansatz einer negativen Dialektik benannt wäre.

IV.

Auf diese zentrale Frage folgt die größte Lücke in den neu herausgegebenen Vorlesungen: Wenn Adorno in der 19. Vorlesung auf Marx und das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert zu sprechen kommt, fehlen die zwei anschließenden Vorlesungen, von denen offenbar der Tonbandmitschnitt verloren ging. Die Zählung setzt entsprechend erst mit der 22. Vorlesung wieder ein. Doch auch die Bemerkungen zu Marx in der erhaltenen 19. Vorlesung sind interessant. Adornos Gedanke besteht darin, innerhalb der marxschen Konstruktion der Warenform den Gebrauchswert, der ihm zufolge „an den Waren das Qualitative, Nicht-Abstrakte, das Viele ist“ (259), gegen den Tauschwert auszuspiele. Zugleich betont er aber, dass der Gebrauchswert nicht ohne den Tauschwert zu haben und selbst gesellschaftlich überformt ist. Ebenso gelte – wenn man den Gebrauchswert als unmittelbaren natürlichen Bestandteil der Ware missverstehen wollte –, dass auch „alle Versuche, den Marx auf einen positiven Naturbegriff festzulegen […], abwegig [wären] und […] im ausdrücklichen Widerspruch zu seiner eigenen Theorie“ stehen würden (260). Dennoch hält Adorno an seiner Idee einer Emanzipation des Gebrauchswerts fest, für die bei ihm die utopische Vorstellung „einer versöhnten Vielheit“ steht, die ihm zufolge schon bei Hölderlin zu finden sei (261). Von dieser utopischen Perspektive aus kritisiert Adorno Marx, bei dem ein derartiger Zustand „nicht anders möglich [sei] als durch Synthesis, durch Vereinheitlichung hindurch: durch Planung“ (261). Dieser Aspekt der Einheit führe in der Konsequenz zu einer „Art Theodizee der Geschichte“ und einer fehlgehenden „Naturbeherrschung“ (263), wobei die „Ansätze zu dieser Praxis in der theoretischen Konzeption selbst“ bereits lägen (264). Adorno kritisiert Marx also ebenfalls als einen Theoretiker der Vereinheitlichung und der Identität, von dem sich am Ende gleichsam nur Adornos eigenes Projekt einer negativen Dialektik abheben kann, mit der nochmals formulierten Frage, „wie und ob überhaupt eine Dialektik möglich sei ohne die Identitätsthese.“ (269) Wie Adorno diese Problematik in der weiteren Auseinandersetzung mit Marx durchgeführt hätte, steht allerdings in den Sternen, da die beiden betreffenden Vorlesungen fehlen.

V.

An diesem Punkt entschließt sich Adorno ohnehin zu einem Bruch mit dem anfänglichen Vorlesungsplan (273ff.). Diese Planänderung, durch die Adorno endgültig nur noch „auf einige Nervenpunkte der Dialektik zu sprechen“ (273) kommen will, bietet ihm die Gelegenheit, in mehreren einzelnen Vorlesungen die Begrifflichkeiten von Identität, Nichtidentität und Widerspruch zu entwickeln. Diese Abänderung führt zu ausgesprochen fruchtbaren Passagen, die wieder deutlich über den Rahmen der früheren Einführung in die Dialektik hinausgehen, aber nicht in der Negativen Dialektik auftauchen. Sie erläutern die Hintergründe und die Motivation für die spätere Konzeption, wie es in anderen Zusammenhängen kaum wieder geschieht.

Adorno beharrt wiederholt auf der Geltung des Satzes der Identität, ohne den Denken gar nicht möglich sei – ein Aspekt, der überraschen mag bei einem Theoretiker, der durch sein Interesse am Nichtidentischen bekannt geworden ist. Das Nichtidentische erscheint unter der Voraussetzung von Identität aber immer in der Form des Widerspruchs, so die wesentliche These, die Adorno in diesen Abschnitten entfaltet. Die Frage des dialektischen Widerspruchs leitet Adorno mit dem Hinweis ein, dass es sich dabei um den Gedanken handelt, „daß der Widerspruch in der Sache selbst zu finden sei und nicht etwa ein bloßer Gegensatz zwischen zwei miteinander in Konflikt stehenden oder opponierenden [Thesen] [sei]“ (274). Anschließend betont er, dass es sich beim dialektischen Widerspruch eben um ein „dynamisches Verhältnis“ handle, das durch seinen Charakter des inhaltlichen Widerspruchs in der Sache selbst nicht einfach in eine formale Logik übertragbar sei (275). Es gehe vielmehr um das „Wesen der Sache“ und den „Begriff des Begriffs […] in einem emphatischen Sinn“, demzufolge „Begriffe nicht einfach durch Definition ihrer Merkmale festgehalten werden, sondern […] das Wesen der Sache ausdrücken sollen, auf die sie gehen.“ (276).

Mit dem Blick auf das „Wesen der Sache“ wird der erkenntnistheoretische und philosophische Status von Begriffen und Prinzipien allerdings selbst zum Problem. Ein Beispiel dafür ist die Reflexion des Satzes der Identität, die Adorno in Form eines seltenen Verweises auf seinen ehemaligen philosophischen Lehrer Hans Cornelius und dessen „Transzendentale Systematik“ einführt (280). Adornos kritisches Argument lautet, dass durch die „Koexistenz kontradiktorischer Urteile innerhalb desselben Bewußtseins […] über die Gültigkeit oder Nicht-Gültigkeit von logischen Grundsätzen selbst nichts ausgemacht werden kann“ (282). Auch ein so grundlegendes Prinzip wie der Satz der Identität sei folglich „nur […] eine Forderung, die an das Denken ergeht, damit diesem Denken so etwas […] wie die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit möglich sei“ (283). Das Prinzip der Identität wird zur formalen Anforderung erklärt, dadurch ontologisch relativiert und zugleich transzendentalphilosophisch stabilisiert, da es als notwendiges Denkprinzip, als eine unumgängliche Anforderung an das Bewusstsein auftaucht.

VI.

Diese spezifische Wendung des Identitätsbegriffs bildet den Hintergrund für Adornos weitere Überlegungen und für seine Konzeption des Nichtidentischen in den letzten Abschnitten der Vorlesungen. Am Anfang der 23. Vorlesung wiederholt er den Gedanken, Identität sei letztlich eine „Forderung“ an das Bewusstsein und lediglich ein „Organisationsprinzip für Urteile“ (287), um dann nach einer kurzen Darstellung des Verhältnisses von Nominalismus und Realismus aufgrund der erheblichen Schwierigkeit des Gegenstandes aus einem „bereits vorformulierten Text“ vorzulesen (293). Manche Überlegungen und Formulierungen aus dem vorgelesenen Manuskript tauchen später in der stark verdichteten Negativen Dialektik wieder auf, ohne dass sich die Textabschnitte direkt entsprechen würden (Adorno 1966: 17). Motiviert werden diese Ausführungen, wie sich an dieser Vorlesung zeigt, von einem verbreiteten Einwand gegenüber dialektischem Denken, den Adorno bereits in der Einführung in die Dialektik referierte und der nun in den Fragen der Dialektik erneut formuliert wird. Es handelt sich um den Einwand aus dem einfachen „Menschenverstand“, dass sich „nicht alles in der Welt widerspricht. Auch dort, wo nicht nur Eines sei, könne Verschiedenes nebeneinander sein und nicht bloß Antagonistisches.“ (294) Diesen Einwand formuliert allerdings nicht nur der sprichwörtliche gesunde Menschenverstand auf der Grundlage unmittelbarer Wahrnehmung, sondern in philosophischer Form auch die Hegelkritik von Adolf Trendelenburg und Benedetto Croce, mit der sich Adorno in den beiden letzten Abschnitten der Vorlesungen genauer auseinandersetzt. Der Einwand von Trendelenburg und Croce trägt somit zu Adornos Konzeption des „Nichtidentischen“ bei, das nicht bloß einfache Differenzen, sondern eine zweifache kritische Reflexion sowohl auf die identifizierende Form des Begriffsdenkens als auch auf die differenzierte Erfahrung darstellt. Der Ausdruck des Nichtidentischen taucht in den Fragen der Dialektik in diesem Zusammenhang erstmals ausführlicher auf und wird – wie später in der Negativen Dialektik – in der kurzen Formulierung konzentriert: „Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität.“ (296; vgl. Adorno 1966: 17). In solchen einzelnen Formulierungen und Passagen erschöpfen sich aber die offensichtlichen Parallelen zur späteren Negativen Dialektik. Die Vorlesung vertieft auf diese Weise einige Quellen und Hintergründe, die im späteren Buch nicht mehr ausführlich vorkommen.

Adorno beendet seine Vorlesung, indem er den in Entwicklung befindlichen „Begriff negativer Dialektik“ abschließend in einen Zusammenhang mit der früheren Dialektik der Aufklärung stellt (343), deren Tendenzen gegenüber „ein Moment der Selbstreflexion“ geltend zu machen sei (344).

Wenn man mich heute fragen würde, was überhaupt in diesem geschichtlichen Augenblick von der Menschheit zu fordern ist, dann wäre das wahrscheinlich etwas, was diesem Begriff der Selbstbesinnung, der Selbstreflexion gar nicht so fern stünde, wie das nun zunächst einmal so aussieht. (345)

Von dieser Selbstreflexion und seinem Projekt einer negativen Dialektik erhofft sich Adorno letztlich nichts anderes als Veränderung, zuerst der philosophischen Kategorien und schließlich der Gesellschaft.

Und der Inbegriff dieser Veränderung würde zugleich der Vollzug des Gedankens sein, der den Weg ins Freie bezeichnet, der also schließlich doch so wieder etwas wie jene Art von unmittelbarer Erfahrung freigibt, der uns versperrt ist von der Einrichtung einer Welt, die nicht anders uns erlaubt, sie zu erfahren heut’ und hier, als unter der Form des Widerspruchs. (345f.)

Am Ende der Vorlesung versucht Adorno also eine Aktualisierung, plädiert aber für keine unmittelbare Politik, sondern für eine ungleich breiter angelegte kritische Theorie, deren begriffliche Elemente er in dieser Vorlesung einführt.

Literatur

Adorno, Theodor W. Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966.

Adorno, Theodor W. „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“ In: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge, 223–240. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962. Jetzt: Ders. Soziologische Schriften I (=Gesammelte Schriften Bd. 8), 217–237. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972.

Adorno, Theodor W. Einführung in die Dialektik, hg. v. Christoph Ziermann. Berlin: Suhrkamp 2010.

Kojève, Alexandre. Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, hg. v. Iring Fetscher. Stuttgart: Kohlhammer 1958.

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