Gantner, Gösta: Möglichkeit. Über einen Grundbegriff der praktischen Philosophie und kritischen Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2021. 340 Seiten. [978-3-8376-5562-9]

Rezensiert von Daniel Bella (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

In den letzten Jahren sind mehrere Monografien erschienen, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln dem Begriff der Möglichkeit zuwenden (vgl. Brown 2020, Hui 2019, Lefebvre 2018, Macdonald 2019, Pippa 2019, Trego 2019). Während die meisten dieser Publikationen einen historischen Schwerpunkt setzen, macht es den Reiz von Gösta Gantners Studie aus, dass sie die Rekonstruktion historischer Positionen mit der Entwicklung einer originären Möglichkeitskonzeption verknüpft. So verfolgt ihr Autor das Ziel, Möglichkeit als „Grundbegriff der praktischen Philosophie und kritischen Gesellschaftstheorie“ zu etablieren, indem er seine systematische Begriffsentwicklung durch die Rekonstruktion und Reflektion historischer Positionen untermauert. Zentrale Referenzautoren für dieses Vorhaben sind Adorno und Horkheimer, da sich aus ihrem Denken – so die These des Buches – gehaltvolle Versatzstücke für einen qualifizierten Begriff sozialer Möglichkeit gewinnen ließen.

Der starke Bezug auf die Kritische Theorie rückt Gantners Buch in unmittelbare Nähe zu Iain Macdonalds 2019 erschienenem Werk What Would Be Different. Figures of Possibility in Adorno. Macdonald sieht dort in Heideggers Philosophie „the most influential philosophical attempt to break with the priority of metaphysical actuality over possibility“ (Macdonald 2019: 155) und schlägt deshalb vor, Möglichkeit bei Adorno von Heidegger ausgehend zu erschließen. Gantner meldet an diesem Verfahren nachvollziehbare Bedenken an und wählt einen anderen Ausgangspunkt. Dabei gelingt es ihm überzeugend darzulegen, „dass der Möglichkeitsbegriff der Kritischen Theorie letztlich in seinen Grundbestimmungen der aristotelischen Tradition entspringt“ (44).

Gantner misst diesem Ursprung eine große Bedeutung zu, da er es ihm erlaubt, die zerstreuten Äußerungen zur Möglichkeit bei Adorno und Horkheimer zu bündeln und in einer Vermögenskonzeption zu fundieren. Dass ein Sachverhalt im Bereich des Sozialen möglich ist, ist somit von der Existenz bestimmter Vermögen abhängig, die diesen Sachverhalt hervorbringen können. Trotz der grundlegenden Bedeutung des antiken Philosophen plädiert Gantner dennoch dafür, für einen gehaltvollen Begriff sozialer Möglichkeit in mindestens zwei Hinsichten über das Aristotelische Erbe hinauszugehen. So sei Aristoteles’ Konzeption der Möglichkeit erstens nicht weitreichend genug, um Möglichkeit als Grundbegriff auszuweisen, da sie die Möglichkeit im Begriff der Wirklichkeit fundiere. Es handele sich somit um einen Theorietyp, der dafür optiert, der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit den Vorzug zu geben. Während Gantner in dieser Bewertung der Philosophie des Aristoteles mit der überwiegenden Mehrzahl ihrer Interpret*innen übereinstimmt, ist sein zweiter Punkt spezifischer auf die Bedürfnisse eines Begriffs sozialer Möglichkeit ausgerichtet. So kritisiert er, dass Aristoteles ausschließlich individuelle Substanzen als Träger von Vermögen zulässt. Diese Restriktion verhindere aber die Konzeption eines anspruchsvollen Begriffs sozialer Möglichkeit, da dieser erst zeigen müsse, wie sich individuelle Möglichkeiten „aus dem Verhältnis von Einzeldingen, ihren aggregierten Vermögen und allgemeinen Rahmenbedingungen“ (71) bilden.

Trotz offensichtlicher Gemeinsamkeiten lassen sich Aristoteles auf der einen und Adorno und Horkheimer auf der anderen Seite also nicht einfach engführen, denn obwohl diese Autoren die tragenden Säulen des Buches bilden, besteht zwischen ihnen eine Kluft. Gantner überbrückt den Abstand elegant, indem er in der zweiten Hälfte des ersten Teils seiner Studie Szenerien der Möglichkeit zu einem plastischen Fries verbindet. Die Auswahl der Autoren – Spinoza, Hegel und Marx – ist dabei, insbesondere was die ersten beiden Denker angeht, so reizvoll wie überraschend. Denn sowohl Spinoza als auch Hegel gelten gemeinhin als Verfechter einer nezessitarischen Philosophie, für die das Mögliche mit dem Notwendigen identisch ist. Ohne mit diesen tradierten Interpretationen in Konflikt zu geraten, vermag Gantner zu zeigen, dass im Bereich der menschlichen Handlungen (Spinoza) oder der Gesellschaft (Hegel) beide Philosophen der Möglichkeit einen Platz einzuräumen gezwungen sind.

Den zweiten Teil seines Buches widmet Gantner der Auseinandersetzung mit Adorno und Horkheimer. In pointierter werkgenetischer Interpretationsarbeit stellt er überzeugend dar, dass sich die Thematisierung der Möglichkeit bei diesen beiden Autoren in drei Phasen gliedern lässt. Trotz ihrer Genauigkeit und Sorgfalt besitzt diese Rekonstruktion jedoch keinen Zweck in sich selbst, sondern ist mit dem Versprechen verbunden, auf ihrer Grundlage einen tragfähigen Begriff sozialer Möglichkeit zu entwickeln. Dabei kann, wie Gantner deutlich macht, Möglichkeit ausschließlich dann der Status eines Grundbegriffes zugemessen werden, wenn Möglichkeit bereits zur basalen Logik dessen gehört, was es bedeutet, ein Begriff zu sein.

Bereits im Begriff des Begriffs, in der Form begrifflichen Denkens überhaupt, ist folglich die Vorstellung von Möglichkeit enthalten. Sie steckt im Kern des begrifflichen Denkens selbst. Die „Dynamis“ eines Begriffs gewährleistet Wirklichkeitsdeutungen, die ein Überschreiten des jeweils Gegebenen implizieren. Diese begriffsimmanente Dynamik erweist sich so als Schlüssel zum Möglichkeitsverständnis der Kritischen Theorie der Gesellschaft. (199)

Dass Möglichkeit analytisch primitiv ist, da sie notwendig die Logik aller Begriffe fundiert, ist eine starke These, die Gantner allerdings in dieser Schärfe nur im Rahmen der zitierten Stelle formuliert und später nicht weiter belastet. Anders als etwa Oliver Marchart ist es ihm nicht darum zu tun, die Notwendigkeit von Möglichkeit oder Kontingenz selbst nochmals (formal) zu begründen. Stattdessen versucht er ein Denken zu praktizieren, das Möglichkeit als veränderliche und dynamische Kategorie handhabt. Hierzu gehört auch, dass Gantner im Verlauf seiner Studie bewusst Überschüsse und Diskontinuitäten organisiert. Obwohl er durch moderierende Passagen immer wieder auf Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen aufmerksam macht, stellt sein Verfahren die Lesenden vor die Herausforderung, statt an den dargestellten und entwickelten Konzepten festzuhalten, diese in ihrer Transformation nachzuvollziehen. Dies betrifft insbesondere Gantners systematischen Teil am Ende des Buches, der nicht nur eine bloße Zusammenfassung des Gesagten liefert, sondern das zuvor rekonstruierte Material neu arrangiert.

So nimmt Gantners eigene dreigliedrige Konzeption sozialer Möglichkeit die im Verlauf des Buches diskutierten Theorieangebote Aristotelischer Provenienz (vgl. etwa 88f.) in variierter Form auf und ergänzt sie um zwei im Trialog mit Adorno und Horkheimer gewonnene Aspekte. Die erste Ebene, die Gantner als gehemmte Potentiale bezeichnet, thematisiert reale Vermögen innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs und umfasst sowohl soziale Tatsachen als auch deren (praktische) Erkenntnis durch soziale Akteur*innen. Die zweite Ebene eröffnet unter dem Titel verstellte Möglichkeiten eine Beobachtung zweiter Ordnung. Sie adressiert das Vermögen einer Gesellschaft, gehemmte Potentiale zu lokalisieren. Mit der dritten Ebene weist Gantner über die beiden ersten hinaus und plädiert für eine utopische Möglichkeit, die unabhängig von realen Vermögen ist.

Bereits diese kurze Skizze macht deutlich, dass Gantner den Aristotelischen Bezugsrahmen unter der Hand verlässt, um die Relationalität des Sozialen denken zu können. Diese Verschiebung wird bereits durch Gantners Bezeichnung gehemmte Potentiale deutlich. Während Aristoteles die Auffassung vertritt, dass Sachverhalte, die durch das menschliche Handeln entstehen, nur dann als möglich bezeichnet werden können, wenn nichts ihre Realisierung ‚verhindert‘ (κωλύω) (Aristot. metaph. IX,7 1049a 9), ist Gantner dagegen gerade an Konfigurationen der (gegenseitigen) Verhinderung sozialer Vermögen interessiert. Denn auf dieser Grundlage ist eine im strikten (intrinsischen) Sinne relationale Konzeption von Vermögen möglich, die den Besitz bestimmter Vermögen nicht einfach essenziell individuellen Trägern zuschreibt, sondern als ein Resultat sozialer Beziehungszusammenhänge ausweist. Insofern Verhinderung für Gantner damit den Status einer Aktivität erhält, wird das Soziale zum Kampfplatz, der sowohl die Konstitution als auch die Restriktion individueller Vermögen und somit Möglichkeiten bestimmt.

Mit dem Titel verstellte Möglichkeiten bezeichnet Gantner die Ebene der Erkenntnis von Möglichkeiten. Dabei geht es ihm darum, wie eine Gesellschaft ihre Möglichkeiten empfindet und sich über sie verständigt. Insofern die Erkenntnis von Möglichkeiten wiederum deren Realisierung beeinflusst, steht sie in einer engen Wechselwirkung mit den realen Möglichkeiten und Vermögen. Eine Stärke ist dabei, dass der Begriff der verstellten Möglichkeit nicht rein epistemisch angelegt ist, sondern insbesondere Stimmungen und Emotionen berücksichtigt, die einen Beitrag dazu leisten, dass gehemmte Potentiale nicht als Möglichkeiten wahrgenommen werden. Gantner verortet einen Großteil der Arbeit der Kritischen Theorie auf dieser Ebene. So sei insbesondere Adorno „die Freilegung derjenigen intellektuellen Potentiale und ästhetischen Zugangsweisen, die zusammen ein möglichkeitsaffines Sensorium bilden könnten“ (290), ein wichtiges Anliegen gewesen.

Mit gehemmten Potentialen und verstellten Möglichkeiten sind zwei Ebenen sozialer Möglichkeit benannt. Gantners vielleicht spannendste und streitbarste These besteht darin, dass diese beiden Elemente für einen anspruchsvollen Begriff sozialer Möglichkeit zwar notwendig, aber nicht hinreichend sind. Stattdessen müssten sie um eine dritte Art der Möglichkeit ergänzt werden, die Gantner als utopische Möglichkeit bezeichnet und jenseits „der Grenzen des realen Möglichkeitsraums“ (300) situiert. Diese notorisch schwer bestimm- und eingrenzbare Form der Möglichkeit bricht mit dem (von Aristoteles ererbten) Anspruch, Möglichkeiten in realen Vermögen zu begründen. Zu ihrer Einführung hat Gantner dennoch gute Gründe, die mit dem Problem der Performativität des Sozialen im Zusammenhang stehen. Da gemäß seiner relationalen Vermögensauffassung soziale Akteur*innen Vermögen nicht nur realisieren, sondern auch erzeugen können, verändern sie durch ihre Praktiken das, was als real möglich gelten kann. Entscheidend dafür, welche Praktiken sie ausüben, ist wiederum, was die Akteur*innen als möglich und somit als ausübbare Praktiken erkennen. Aus dieser wechselseitigen Abhängigkeit doxastischer und realer (in Vermögen fundierter) Möglichkeit ergibt sich die Gefahr, dass die Akteur*innen gerade deshalb nichts verändern, da sie alles, was ist, als unveränderlich und somit notwendig einschätzen.

Vor diesem Hintergrund scheint die Überlegung Gantners darauf hinauszulaufen, dass, wenn Möglichkeit den Status eines Grundbegriffes erhalten soll, ihrer drohenden Entmöglichung durch das Postulat einer utopischen Möglichkeit Einhalt geboten werden muss. Diese besitzt insbesondere eine motivationale Funktion, die sich aus realen Unzufriedenheiten speist und sich nicht mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit ihrer Beseitigung zufrieden stellen lässt. Damit vermag sie Kräfte zu mobilisieren, die Veränderungen erzeugen, die die Akteur*innen selbst für real unmöglich gehalten hätten. Das tiefreichende Eingeständnis, dass die immanent vorhandenen Möglichkeiten für eine befriedigende Konzeption sozialer Möglichkeit nicht hinreichend sind, begründet Gantner im Anschluss an Adorno und Horkheimer insbesondere mit der Erfahrung der vollständigen Entmöglichung jeder realen Möglichkeit im Angesicht der Wirklichkeit der Unmöglichkeit des Holocaust. Aber kann Gantner sein Ziel erreichen und Möglichkeit als Grundbegriff ausweisen, indem er eine dichotome Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz in sie einträgt?

An dieser Stelle, an der sich gehemmte Potentiale und verstellte Möglichkeiten gegenseitig verunmöglichen, steht Gantners Konzeption sozialer Möglichkeit vor einer Herausforderung, die Nahum Brown jüngst als „modal indeterminacy problem“ (Brown 2020) bezeichnet hat. Demnach müssen alle Möglichkeitskonzeptionen ein Kriterium dafür angeben, worin sich mögliche von unmöglichen Sachverhalten unterscheiden. Gantners Fundierung möglicher Sachverhalte in Vermögen leistet genau eine solche Unterscheidung. Wenn nun aber utopische Möglichkeiten unabhängig von realen Vermögen bestehen, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie sich genauer bestimmen und von unmöglichen Sachverhalten abgrenzen lassen. Es kann gut sein, dass eine solche Bestimmung im Bereich utopischer Möglichkeit weder begrifflich noch kategorial verfahren kann. Allerdings führt Gantner diesen Punkt nicht weiter aus. Stattdessen scheint es ihm insbesondere darum zu gehen, eine Problemanzeige zu formulieren: Wenn soziale Möglichkeit Bestand haben soll, dann kann sie nicht auf reale Vermögen beschränkt werden, sondern bedarf weiterer Quellen.

Dieser Einsicht lassen sich grundlegende Rückfragen an das Feld der Sozialontologie entnehmen. So geben Gantners Überlegungen etwa Anlass dazu, darüber nachzudenken, ob nicht gerade die Bedingung der Möglichkeit realer Möglichkeit (gehemmter Potentiale) in einer nicht-ontologischen Form (utopischer) Möglichkeit bestehe. Eine Antwort auf diese Frage muss wohl zunächst die Beziehung zwischen diesen beiden Arten der Möglichkeit klären. Gantners Darstellung ist hier nicht eindeutig. So lassen sich in seinem Buch neben klaren Entgegensetzungen auch schwächere Formulierungen finden, etwa, wenn Gantner schreibt, dass die utopische Möglichkeit „keine direkte Bezugnahme auf soziale Vermögen“ (300) besitze. Somit könnte es sich bei utopischer Möglichkeit auch um dasjenige handeln, was sich mit Barbara Vetter als „iterated potentiality“ (vgl. Vetter 2015: 135–139) bezeichnen lässt: Möglichkeiten, die nicht direkt in bereits realen Vermögen begründet werden können, sondern von einer Kette weiterer Vermögen abhängig sind, die selbst wiederum noch nicht real sind. Utopische Möglichkeit würde damit auf den Umstand aufmerksam machen, dass soziale Vermögen häufig erst (langwierig) hergestellt werden müssen und deshalb Formen der Phantasie, der Überzeugung, des Insinuierens voraussetzen, die diesen offenen Entstehungsprozess initiieren und aufrechterhalten. Damit würde die Ebene der utopischen Möglichkeit all dasjenige thematisieren, was noch keinen Ort in einem Vermögen hat.

Wie angedeutet, lässt Gantners Arbeit hinsichtlich der Beziehung zwischen den drei Schichten sozialer Möglichkeit unterschiedliche Lesarten zu. Stellenweise sind hier weitere Präzisierungen wünschenswert. Gleichzeitig sollte aber über diesen Hinweis nicht eine der zentralen Lehren des Buches in Vergessenheit geraten: Möglichkeit kann nur dann ein Grundbegriff werden, wenn ihre Behandlung gegenüber zukünftigen Veränderungen offenbleibt. Es ist das Verdienst Gantners, diesen Ansatz nicht nur zu postulieren, sondern selbst vorzuführen und damit eindrücklich und einladend für die Weiterarbeit an einem Begriff zu werben, den es immer wieder neu zu ermöglichen gilt.

Literatur

Brown, Nahum. Hegel on Possibility: Dialectics, Contradiction, and Modality. London/New York/Oxford: Bloomsbury Academic, 2020.

Hui, Yuk. Recursivity and Contingency. London, New York: Rowman & Littlefield, 2019.

Lefebvre, David. Dynamis. Sens et genèse de la notion aristotélicienne de puissance. Paris: Vrin, 2018.

Macdonald, Ian. What Would Be Different? Figures of Possibility in Adorno. Stanford: SUP, 2019.

Pippa, Stefano: Althusser and Contingency. Milan: Mimesis international, 2019.

Trego, Kristell: L’impuissance du possible. Émergence et développement du possible, d’Aristote à l’aube des temps modernes. Paris: Vrin, 2019.

Vetter, Barbara. Potentiality. From Dispositions to Modality. Oxford: OUP, 2015

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