Harcourt, Bernard E., Critique and Praxis. A Critical Philosophy of Illusions, Values, and Action. New York: Columbia University Press 2020. 684 Seiten. [976-0-231-19572-0]

Rezensiert von Sebastian Jutisz (ENS Paris)

In seinem neuesten Buch Critique and Praxis versucht Bernard Harcourt, die Frage neu zu beantworten, die gewissermaßen den Ausgangspunkt der Tradition der Kritischen Theorie bildet: Wie kann es gelingen, die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern auch zu verändern? Diese Frage vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Kritik des Marxismus und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu beleuchten, bildet den Leitfaden des voluminösen Werks, das eine Art Zwischenbilanz der bisherigen theoretischen und praktischen Arbeit des Autors darstellt.

Bernard Harcourt, der sich als Rechtsanwalt für zum Tode Verurteilte eingesetzt hat, lehrt heute Rechts- und Politikwissenschaft an der Columbia-Universität und an der EHESS in Paris. 2015 lieferte der profunde Kenner des Werks von Michel Foucault eine Analyse der Big-Data-Technologien. Darin ergründet er, wie unser Verlangen nach permanentem Zugang zu Informationen ausgenutzt wird, um uns einer uneingeschränkten Überwachung durch Staat und Tech-Konzerne zu unterwerfen (Harcourt 2015). In Deutschland wurde vor allem sein Buch Gegenrevolution breit rezipiert, in dem der Autor seine Sicht auf die US-Politik nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 darlegt. Demnach würde die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung von einer kleinen reaktionären Minderheit in Schach gehalten, die Widerstand durch eine Doppelstrategie der polizeilichen Einschüchterung und der Indoktrinierung mittels digitaler Medien zu unterdrücken versuche (Harcourt 2019).

In Critique and Praxis geht Harcourt nun der Frage nach, welchen Beitrag die Kritische Theorie zur Überwindung von staatlicher Repression, globaler Ungerechtigkeit und neoliberaler Politik leisten kann. Dabei verbindet er auf recht ungewöhnliche Art und Weise theoretische Ausführungen und autobiographische Passagen. Bisweilen holt Harcourt sehr weit aus, schafft es aber immer wieder, die beschriebenen Theorie-Debatten mit dem eigentlichen Thema des Buches zu verknüpfen, nämlich die Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis im Hinblick auf die Probleme des 21. Jahrhunderts.

Zunächst rekonstruiert Harcourt jedoch die Debatten zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 20. Jahrhundert. Dabei geht er recht ausführlich auf die Auslegung des marxistischen Praxisbegriffs durch die erste Generation der Frankfurter Schule ein. Dem Autor zufolge zeichnete sich bereits ab den 1930er Jahren ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen innerhalb der Kritischen Theorie ab, das bis heute nachwirkt: zum einen eine stark marxistisch-szientistisch geprägte Auffassung von Geschichte, zum anderen eine eher konstruktivistische und anti-positivistische Tendenz. Laut Harcourts Interpretation dominiert in Max Horkheimers programmatischem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ die erste Tendenz, die ein besonderes Augenmerk auf Klassenkonflikte und innere Widersprüche des Kapitalismus legt: „The article venerates the model of hard sciences and places critical theory in the scientific tradition“ (58).

An anderer Stelle wird das marxistische Fortschrittsnarrativ jedoch in Zweifel gezogen. Die inneren Widersprüche des Kapitalismus und dessen Überwindung rücken in den Hintergrund, evolutionistische und deterministische Tendenzen werden verworfen. Dieses Spannungsverhältnis innerhalb der Kritischen Theorie führte Harcourt zufolge zu zwei gegenläufigen Theoriemodellen. Das erste ziele darauf ab, die Kritische Theorie vom positivistischen Erbe des Marxismus zu befreien. Diese Art der Kritik sei durchaus mit Foucault, dem Poststrukturalismus, dem Postkolonialismus sowie Queer und Critical Race Theory kompatibel. Das zweite habe den normativen Gehalt der Hegelschen Dialektik bewahren wollen und stelle eine Art Korrektiv der marxistischen Lehre dar (70f.).

Ursprünglich war die Kritische Theorie aus dem Wunsch heraus entstanden, nicht bloß eine Theorie der Emanzipation zu liefern, sondern mithilfe der Theorie in die Gesellschaft hinein-zu-wirken (4). Aber aufgrund der widersprüchlichen Auffassung von Geschichte innerhalb der Kritischen Theorie rückte die Praxis bald in den Hintergrund: „The epistemological battles subtly diverted critical philosophy from its true ambition – to change the world. The task, once again, was to know it.“ (9) Debatten um epistemologische Fragen dominierten in der Nachkriegszeit das Feld. Nicht mehr die Frage stand im Mittelpunkt, wie man die Welt verändern könne; vielmehr wurde erörtert, was wir über die Gegenwart und die Geschichte aussagen können (318). Laut Harcourt liegt in dieser Wendung, die er als „epistemological detour“ (43) beschreibt, der wesentliche Grund dafür, dass die Kritische Theorie zunehmend an Bedeutung verlor.

Dieser epistemologische Riss hatte zur Folge, dass sich ab den 1970er Jahren zwei unvereinbare Denkschulen gegenüberstanden: Die erste, der vom Autor beispielsweise Jürgen Habermas, Rahel Jaeggi oder Rainer Forst zugeschrieben werden, hält an einem stark normativen Theorieansatz fest. Die zweite verfolgt einen konstruktivistischen Ansatz. Sie lehnte jegliche Form von Universalismus ab. Unter Rückgriff auf Nietzsche und Foucault zeichnet sie die Entstehung von Wahrheitsdiskursen nach, ohne dabei eine eigene normative Wertungsposition einzunehmen (317f.). Die Debatten zwischen diesen beiden Ansätzen hätten einerseits durchaus zu fruchtbaren Ergebnissen geführt. So habe die poststrukturalistische Kritik des Marxismus dazu beigetragen, gewisse paternalistische Tendenzen unter linken Intellektuellen zu korrigieren. Andererseits habe sie gleichzeitig dazu geführt, dass sich diese immer mehr in den universitären Elfenbeinturm zurückzogen: „Critical philosophers sought refuge in epistemology, almost as if to protect themselves and keep their hands clean.“ (8)

Laut Harcourt liegt darin der Grund, weshalb Kritische Theorie nur wenig zur Überwindung der aktuellen Krise beizutragen habe (11). Dennoch wäre es fatal, die Kritische Theorie abzuschreiben: „Rather than abandon, it is time to rejuvenate and reformulate critical theory, because, as I will show, it is the only theoretical tradition that pursues equality, social justice, and autonomy.“ (46) Angesichts der Klimakrise, der immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich und dem Erstarken der Neuen Rechten befinde sich die Welt an einem Scheideweg, der eine Neuausrichtung der Kritischen Theorie erfordere. Zuvor müsse jedoch der epistemologische Dissens innerhalb der Kritischen Theorie gekittet werden: „Critical theory itself is in crisis – and that has to be resolved first.“ (43)

Dem Autor zufolge ist es an der Zeit, sich auf das ursprüngliche Vorhaben der Kritischen Theorie zurückzubesinnen, nämlich die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern auch zu verändern. Doch will er keineswegs zu leninistischen Revolutionstheorien zurückkehren, generelle und universalistische Antworten lehnt er ab. Statt anderen den Weg zu weisen, sollten Intellektuelle lieber in der ersten Person schreiben und Diskursräume eröffnen. Folglich müsse die von Lenin im Titel seines 1902 erschienenen Hauptwerkes gestellte Frage „Was tun?“ umformuliert werden (17).

Laut Harcourt gibt es fünf Modelle, nach denen die verschiedenen Vorstellungen des Verhältnisses von Theorie und Praxis eingeteilt werden können. Das erste Modell begreift Theoriebildung bereits als eine Form der politischen Praxis und wird von Harcourt als zu kontemplativ verworfen (36). Dem zweiten Modell zufolge kommt der Theorie die Rolle zu, der Praxis die Richtung zu weisen. Dieses Modell, das sich stark an der Tradition der Aufklärung orientiert, begnügt sich nicht damit, Krisenphänomene zu beschreiben oder revolutionäre Ideen umzuformulieren, sondern macht auch Vorschläge für konkrete Handlungen und Aktionen. Diese Auffassung, die etwa von Hardt, Negri und Žižek vertreten wird, läuft nach Harcourts Einschätzung Gefahr, sich zu überschätzen und unglaubwürdig zu erscheinen (38). Am anderen Ende des Spektrums befinden sich Theoretiker*innen, die ihre Aufgabe in der Theoretisierung der Praxis sehen. Sie versuchen, von der Praxis zu lernen und ausgehend von der Beobachtung emanzipatorischer Protestbewegungen die Richtung gewisser Ereignissen herauszuarbeiten (39).

Vertreter*innen des vierten Modells gehen noch ein Stück weiter und attestieren der Praxis eine völlige Unabhängigkeit von der Theorie. Sie glauben nicht daran, dass Theorie einen Effekt auf die Praxis hat, und bemühen sich, die Autonomie der Praxis nachzuweisen (40). Das fünfte Modell schließlich, zu dem sich der Autor des Buches bekennt, geht von einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis aus. Die Theorie fordert die Praxis heraus, indem sie sie mit Konzepten konfrontiert. Gleichzeitig entwickelt sich die Theorie durch die Auseinandersetzung mit der Praxis weiter: „Collision, contradiction, and confrontation: this is where I would situate myself.“ (42) Harcourt sieht die Rolle der Theorie nicht darin, anderen die Richtung zu weisen. Nietzsche und Foucault hätten uns gelehrt, dass Wahrheitsdiskurse eng mit Machtverhältnissen verknüpft sind (95). Deshalb sollten sich Intellektuelle davor hüten, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen. Vielmehr geht es Harcourt darum, die eigene Praxis mithilfe der Theorie immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Gleichzeitig gilt es, ausgehend von der Praxis die eigenen Konzepte zu hinterfragen und weiterzuentwickeln (42).

Für die Beschreibung seines Entwurfs eines Modells der ständigen Konfrontation zwischen Theorie und Praxis bemüht Harcourt die Metapher des Teilchenbeschleunigers am CERN: „My goal, in effect, is to collide theory and praxis as if in the Large Hadron Collider.“ (34) Wie diese Konfrontation aussehen soll, illustriert Harcourt anhand der eigenen Biografie. Er beschreibt ausführlich, wie er die Gelbwesten-Bewegung in Paris wahrgenommen hat und vergleicht seine Haltung mit jener Sartres gegenüber der kommunistischen Partei in den 1950er Jahren. Lange habe er darüber nachgedacht, was ihn zögern ließ, sich den Protesten anzuschließen und ihn stattdessen dazu führte, die Rolle des „compagnon de route“ anzunehmen. Schließlich hätte ihn die Konfrontation von Theorie und Praxis zu der Erkenntnis verholfen, dass es gewisse identitäre und nationalistische Tendenzen waren, die sein Unbehagen hervorriefen (454).

Die wichtigste Aufgabe einer erneuerten Kritischen Theorie besteht Harcourt zufolge in der Demaskierung von Machtdiskursen. Eine auf diese Weise neu ausgerichtete Kritische Theorie umschreibt er als „radical critical philosophy of illusions.“ (202) Laut Harcourt soll Theorie keine absoluten Wahrheiten und Glaubenssätze postulieren, sondern immer wieder Wahrheitsdiskurse entlarven, die zum Erhalt bestehender Macht- und Ausbeutungsverhältnisse beitragen. Angestrebt werde eine permanente Demaskierung aller Diskurse, ohne dabei für sich in Anspruch zu nehmen, die eigene Interpretation entspreche der absoluten Wahrheit:

My political positions and political actions are not determined by a claim to truth, but by temporary assessments of how, after critically unmasking illusions like the myth of free market, practices and institutions interpreted through a next-best theory are likely to redistribute resources in society. I know that even better interpretations will need to be revisited—that I will undoubtedly be wrong. (221)

Vermeintliche Wahrheiten und Werte sind nichts als Illusionen, von denen wir vergessen haben, dass es sich um solche handelt.

An dieser Stelle sei ein erster Einwand gestattet. Für Harcourt besteht der zentrale Unterschied zwischen der Frankfurter Schule und dem Poststrukturalismus in einer diametral entgegengesetzten Auslegung von Wahrheit. Es erstaunt, dass Harcourt der Frankfurter Schule ein positivistisches Weltbild attestiert, wenn er beispielsweise schreibt, Horkheimer hätte seine Sozialphilosophie nach dem Vorbild der Naturwissenschaften entwickelt (58). Wie beispielsweise Martin Jay in The Dialectical Imagination betont, haben Horkheimer und Adorno jeglichen absoluten Wahrheitsanspruch negiert. Für Horkheimer bestand die eigentliche Aufgabe des Marxismus nicht in der Aufdeckung unveränderlicher und statischer Wahrheiten, sondern in der Stärkung von sozialer Veränderung (vgl. Jay 1996, 46f.).

Das Problem kann also nicht darin bestehen, dass die frühe Frankfurter Schule einen positivistischen Wahrheitsbegriff vertreten hätte. Zwar hat Harcourt nicht ganz unrecht, wenn er feststellt, dass die Ideologiekritik der Frankfurter Schule auf einem wackeligen Fundament beruht. Horkheimer und Adornos haben nirgends wirklich expliziert, wie genau ihr Vernunftbegriff zu verstehen ist. Sie unterzogen die bürgerliche Gesellschaft einer immanenten Kritik, indem sie die liberale Freiheitsideologie mit der sozialen Realität konfrontierten. Doch legten sie nirgends offen, auf welcher Grundlage ihre eigenen normativen Annahmen und Werte fußten (vgl. Jay 1996, 63). Mal scheinen sie ihre Wurzeln innerhalb, mal außerhalb der Gesellschaft zu haben. Sie scheinen mit der Praxis verwoben und doch zu einem gewissen Grad unabhängig von ihr zu sein. Allerdings macht Harcourt es sich etwas einfach, wenn er kurzerhand jede Form von Werten und Normen als „proto-scientism“ und „foundationalism“ (220) wegwischt.

Die schablonenhafte Gegenüberstellung von Frankfurter Schule und Poststrukturalismus anhand von epistemologischen Fragen verleitet Harcourt dazu, voreilig jegliche Normativität mit krudem Positivismus und Szientismus gleichzusetzen. Zumindest hält Harcourt es nicht für nötig, Leser*innen diesen Schritt näher zu erläutern. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Kritik überhaupt möglich ist, ohne einen (wie auch immer begründeten) normativen Standpunkt zu beziehen. Auch Harcourt scheint gewisse Werte wie Solidarität, Autonomie, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit anzuerkennen (vgl. 230). Doch selbst wenn eine rein immanente Kritik der Gesellschaft denkbar sein sollte, ohne dass man selbst für bestimmte Werte Stellung bezieht, so bleibt offen, wie daraus Rückschlüsse für das eigene Verhalten abgeleitet werden sollen.

Harcourt betont, dass die Theorie keine universellen Antworten geben kann, sondern die jeweilige spezifische Situation für das eigene Handeln maßgeblich ist (436). Es scheint so, als ginge das Eintreten für Werte und Normen dem Autor zufolge automatisch mit der Bevormundung anderer einher. Deshalb wird die Frage, was zu tun ist, von Harcourt umformuliert und auf die eigene Person bezogen: „What more shall I do?“ (17) Hier möchte ich einen weiteren Einwand erheben: Harcourts radikale Theorie der Illusionen mündet in einem ebenso radikalen Individualismus, dessen Schwäche besonders an einer Stelle im Buch deutlich wird. Er schildert die Szene, wie ihn ein Student bei einer Diskussionsveranstaltung zu den Gelbwesten mit einer Frage konfrontiert, die er offensichtlich nicht erwartet hatte: Die Frage lautete, ob er, Harcourt, nicht den Rechten das Feld überlassen würde, indem er sich auf die Rolle des „compagnon de route“ beschränke, statt sich selbst eine Gelbweste überzuziehen. Nur als Teil der Bewegung könne er ihre politische Ausrichtung beeinflussen und verhindern, dass sie von den Rechten dominiert werde (460).

Der Student legt hier den Finger in die Wunde. Harcourt kann sich die Position des „compagnon de route“ als Professor leisten. Er ist nicht direkt von den Auswirkungen der Politik betroffen, gegen die sich die Gelbwesten-Bewegung auflehnt. Darüber hinaus zeigt die Frage des Studenten aber auch, dass Harcourts Theorie in gewisser Weise an der Realität scheitert. Unser Verhalten hängt auch immer vom Verhalten anderer ab. Deshalb kommen wir nicht umhin, miteinander um politische Entscheidungen zu ringen. Unsere Demokratie lebt von der Debatte. Wie will man die Politik verändern, wenn man nicht versucht, andere von der eigenen Position zu überzeugen? Auch Harcourt hofft schließlich, dass seine Bücher gelesen werden. Wozu überhaupt Bücher schreiben, wenn nicht um andere für den eigenen Standpunkt zu gewinnen? Wie soll verhindert werden, dass Rechte den Raum besetzen, der durch den eigenen Rückzug frei wird?

An mehreren Stellen im Buch beklagt Harcourt, dass die Kritische Theorie nur noch ein sehr begrenztes Fachpublikum erreicht (9; 350). Er scheint also zu hoffen, dass Theorie einen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs hat. Alles in allem erscheint Harcourts „radical philosophy of illusions“ als zu bescheiden. Der Marxismus in seiner autoritären und dogmatischen Form spielt schon lange keine relevante Rolle mehr. Angesichts der vom Autor beschriebenen Krise kann die Kritische Theorie durchaus eine gewisse Portion an Paternalismus wagen, wenn er gut begründet ist. Der Politikwissenschaftler Marshall Berman weist in All that is Solid Melts into the Air (2010) darauf hin, dass Hannah Arendt erkannt hat, was liberale Kritiker*innen von Marx immer übersehen haben: Das Problem bei Marx liegt nicht darin, dass er einen drakonischen Autoritarismus propagieren würde, sondern ganz im Gegenteil in der fehlenden normativen Basis für jegliche Form von Autorität.

Berman zufolge mündet der Individualismus, der Marxens Vorstellung vom Kommunismus zugrunde liegt, im Nihilismus. Wie soll im Kommunismus der Gemeinsinn erhalten bleiben, wenn es keine gesellschaftliche Arbeit mehr gibt? Wodurch soll eine Gesellschaft, in der die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung aller ist, zusammengehalten werden? Was verbindet dann all diese freien Individuen? (Berman 2010, 128) Hier zeichnet sich ab, welche Funktion eine stärker an der Praxis orientierten Kritischen Theorie in der heutigen Krisensituation zukommen könnte. Denn zur ökologischen und sozialen Krise kommt eine gewisse Sinnkrise in den industrialisierten Ländern hinzu. Der französische Soziologe Gilles Lipovetsky beschreibt in seinem berühmten Essay „L’ère du vide“ (1983) die zunehmende Individuation im postmodernen Zeitalter und eine damit einhergehende Apathie und Gleichgültigkeit in großen Teilen der Gesellschaft. Nur scheinbar gewährt der hedonistische Kapitalismus, der den autoritären Kapitalismus ab den 1970er Jahren ablöst, dem Individuum mehr Freiheiten. In Wahrheit haben Frustration und Unsicherheit in der Moderne noch nie solche Ausmaße angenommen. (vgl. Lipovetsky 1983, 48; 82).

Will die Kritische Theorie den Anspruch nicht aufgeben, die Welt zu verändern, darf sie vor utopischem Denken nicht zurückschrecken. Es gibt keinen übergeordneten Sinn in der Geschichte, die Zukunft ist offen. Es liegt nicht in der Hand von Expert*innen, sondern von jeder und jedem einzelnen, welche Richtung die Gesellschaft einschlägt. Doch kann die Kritische Theorie durch die Konfrontation der Realität mit dem Möglichen Perspektiven aufzeigen, wie ein von Narzissmus und Hedonismus geprägten System überwunden werden kann, in dem Klassengegensätze durch Konsum beschwichtigt werden. Ernst Bloch, Henri Lefebvre oder André Gorz haben beispielhaft gezeigt, wie fruchtbar utopisches Denken sein kann. Um mit Marshall Berman zu sprechen, ermöglicht erst der Blick auf das große Ganze die Betrachtung des Spezifischen: „The paradoxical reality […] is that in modern society only the most extravagant and systemic ‚thinking big‘ can open up channels for ‚thinking small‘.“ (Berman 2010, 83)

Dieser Einwände zum Trotz ist die Lektüre von Harcourts Buch durchaus empfehlenswert. Man muss dem Autor zugutehalten, dass er sich aus der Deckung wagt, nicht davor zurückschreckt, Stellung zu beziehen, und die Leser*innen an seinem Erkenntnisprozess teilhaben lässt. Die Fülle der Literatur, die er für sein Projekt ausgewertet hat, ist bewundernswert. Sicher hätte die Vermeidung der ein oder anderen Wiederholung den Lesefluss verbessern können. Dennoch bietet das Buch eine anschauliche und informative Darstellung der Theorie-Debatten der letzten Jahre und vermittelt den aktuellen Stand der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Theorie und Praxis innerhalb der Kritischen Theorie.

Literatur

Berman, Marshall. All that is Solid Melts into the Air. The Experience of Modernity. New York/London: Vero, 2010 [1982].

Harcourt, Bernard E. Exposed: Desire and Disobedience in the Digital Age. Cambridge: Harvard University Press, 2015.

Harcourt, Bernard E. Gegenrevolution: Der Kampf der Regierungen gegen die eigenen Bürger. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2019.

Jay, Martin. The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and Institute of Social Research, 1923-1950. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1996 [1973].

Lipovetsky, Gilles. L’ère du vide. Essais sur l’individualisme contemporain. Paris: Gallimard, 1983.

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