Zeitschrift für philosophische Literatur 10. 2 (2022), 40–47

Bruns, Oliver: Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte. Freiburg/München: Karl Alber 2018. 451 Seiten. [978-3-495-48966-6]

Rezensiert von Sebastian Jaschke (TU Darmstadt)


Oliver Bruns untersucht in dieser zunächst als Dissertation geschriebenen Monographie die Rolle von universalen Rechten in der Philosophie und Politik der Antike, sowie die These einer kontinuierlichen Tradition der philosophischen Auseinandersetzung mit universalen Rechten bis in die heutige Zeit. Dabei bedient er sich insbesondere eines begriffsgeschichtlichen Ansatzes, durch den er aufzeigt, dass die für die Idee universaler, natürlicher Rechte wichtigsten Begriffe schon im Altertum einem Wandel unterworfen waren. Diesen Wandel verfolgt er chronologisch, von der Vorsokratik über die Sophisten, die attische Triade Sokrates-Platon-Aristoteles, bis hin zu den weiter ausdifferenzierten philosophischen Traditionen der Hellenistik und der römischen Herrschaft. Auf die Spätantike geht Bruns nur im Fazit ein. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Rezeption antiker Ideen seit dem Hochmittelalter erheblichen Einfluss auf die moderne Ideengeschichte der Naturrechtstheorien gehabt hat (413), dass aber von einer Kontinuität angesichts der großen Divergenz „zwischen antikem und neuzeitlichem Selbst- und Weltverhältnis“ (375) nicht gesprochen werden kann.

Begriffsgeschichte

Bereits in der Einleitung kritisiert Bruns Ansätze der Menschenrechtsgeschichte, die eine allzu einfache historische Teleologie annähmen, wenn sie von antiken oder mittelalterlichen ‚Quellen‘ oder gar ‚Meilensteinen‘ der Menschenrechte sprechen (51f.) – die titulären ‚Grundlagen‘ sieht er im Gegensatz dazu als den begrifflichen Rahmen, den die Antike der Welt hinterließ und an den die Moderne anknüpfte, ohne deren eigene Weiterentwicklungen jedoch der Begriff der Menschenrechte in heutiger Ausprägung nicht hätte zustande kommen können.

Die zentralen Begriffe, deren Wandel im Altertum Bruns untersucht, sind alêtheia, nomos/nomoi, physis, dikê und dikaiosynê, und metron. Von diesen ist wohl der alêtheia-Begriff der wichtigste. Bruns bedient sich hier der Heidegger’schen Übersetzung, die a-lêthê-ia liest, also Un-verborgen-heit. Dies sei die ursprüngliche, vorsokratische Lesart gewesen, im Lichte derer sich erst das spätere metaphysische Verständnis des Seins im Gegensatz zum Schein als eine eigene Lesart zeigt. Verbunden damit ist der metron-Begriff, den Bruns, auch nach Heidegger, mit ‚Weite‘ oder ‚Offenheit‘ statt ‚Maß‘ übersetzt: metron ist damit der Raum des Entborgenen, der alêtheia, „die Weite […] in der Seiendes erscheint.“ (77) Insbesondere aber zeige diese Übersetzung, dass der homo-mensura-Satz des Protagoras keinen modernen Subjektbegriff vorwegnimmt, der nach Bruns für die modernen Menschenrechte wichtig ist. Wir hätten es im metron anthrôpon einai also nicht annähernd mit einer Trennung von res extensa und res cogitans zu tun, durch die der Mensch vom Rest der Welt abgetrennt würde, sondern im Gegenteil mit einer Feststellung der Dingbezogenheit – ‚Offenheit‘ – des Menschen und somit seiner Eingebettetheit in die Welt.

Der Begriff der physis stehe bei den Vorsokratikern zunächst noch in Einklang mit dem des nomos. Nomos werde bei Heraklit und Hesiod noch im Sinne einer Art ‚Weltordnung‘ verstanden, die eher mit Regelmäßigkeit zu tun habe als mit moralischen Normen – die völlige Abwesenheit dieser bei den Tieren werde nämlich genauso als Teil des göttlichen nomos angesehen (83). Ebenso wenig sei dikê als der menschlichen Kontrolle unterworfen angesehen gewesen, sondern als Göttin Durchsetzerin ihrer selbst, d.h. „wird das Recht gebeugt und damit der Weltordnung zuwidergehandelt, dann drohen den Menschen Verderben, Krieg und Hunger“ (84). Das Recht wird also noch als unausweichlich verstanden. Da der Begriff der physis etymologisch dem Begriff des Wachsens entnommen ist, sei er bei den Vorsokratikern noch nicht als Bereich des Seienden, sondern als Art des Seins verstanden worden:

Jedes Seiende – Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen usw. – ist dem heraklitischen Verständnis entsprechend nur präsent, insofern es aus dem Verborgenen, aus der Verhüllung oder Unauffälligkeit heraustritt und sich in der Weise, wie es wesentlich ist, zeigt. Das für die Erläuterung des φύσις-Verständnisses in der Forschungsliteratur häufiger gewählte Blüten-Beispiel besagt, dass das Wesen der Blüte nur vom Blühen her gefasst werden kann, aber nicht, indem z.B. die Blüte als Fortpflanzungsapparat vorgestellt wird. (80)

Demnach bezeichne der Begriff nomos zunächst die Ordnung der Welt als Werdender, die dikê stehe als Garant für deren Aufrechterhaltung, nicht allein in dem, was später zu dem Bereich der Ethik gerechnet wird – Bruns nennt die Feststellung Heraklits als Beispiel, der zufolge dikê selbst an der Sonne Rache nehmen würde, sollte diese ihre himmlische Bahn verlassen (91).

Erst bei den Sophisten werden diese Begriffe spezifisch auf den Menschen bezogen und mit der polis in Verbindung gebracht. Im Gründungsmythos des Protagoras ist dikê die Gabe des Zeus an die Menschheit, die ein Gemeinwesen erst möglich macht. Dies, in Verbindung mit dem oben erwähnten Verständnis des homo-mensura, sei Grundlage dafür, dass überhaupt erst von nomoi im Plural gesprochen werden kann. Ein nomos besteht in diesem neueren Verständnis in den Moralvorstellungen der Einwohner einer polis. Die sophistische Tradition referiert im Kontrast dazu mit dem Begriff der physis auf einen Bereich des Seienden, dem eine höhere Verbindlichkeit als den nomoi zukommt, und an dem sich diese daher orientieren sollten – laut Bruns sind die Sophisten damit klare Vorläufer der Naturrechtstradition (120). Dabei spiele die Umdeutung des alêtheia-Begriffes eine zentrale Rolle: nicht mehr als Heraustreten aus dem Verborgenen, sondern, im Kontrast mit doxa, als Grad der Verbindlichkeit anhand dessen sich nomoi und physis gegeneinander abwägen lassen, bereite dieses neue Verständnis der alêtheia den Nährboden für die Relativierung der nomoi (111 ff.).

Erst in Auseinandersetzung mit diesem neuen Verständnis habe Platon „der Frage nach natürlichen Rechten des Menschen durch die Ideenlehre überhaupt erst einen philosophischen Horizont eröffnet“ (193). Indem er die dikaiosynê zur Haupttugend erhebt, an der sich alle anderen Tugenden orientieren müssen, und ihr zugleich einen Eigenwert zuweist, den der Mensch von Natur aus anstrebt, eröffne er als erster die Frage nach der allgemeinverbindlichen gerechten Ordnung. Kallipolis wäre somit der erste Entwurf einer naturgemäßen Rechtsordnung (203, 227, 371). So sehr er sich gegen die Trennung von physis und dikê/dikaiosynê durch die Sophisten wehrt, biete diese ihm ja erst die Grundlage, die Übereinstimmung beider zu artikulieren. Das neue Verständnis der alêtheia im Gegensatz zur doxa liefere die für den Platonismus und das moderne Naturrechtsdenken notwendige Unterscheidung zwischen Schein und Sein. Ebenso gebe bei Aristoteles das Naturrecht im Sinne eines naturgegebenen Systems der Zwecke vor, was als gute Verfassung gilt. Aristoteles spricht aber im Gegensatz zu Platon nicht von einer idealen Verfassung.

Einen weiteren großen Umbruch erlebte die Begriffsgeschichte der antiken politischen Philosophie, so Bruns, durch den Untergang der poleis und den Aufstieg der Großreiche gegen Ende des 1. Jahrtausends v.Chr. Zum einen werde erst hier eine Art Individualismus entwickelt. Sowohl die Stoiker als auch die Epikureer, trotz ihrer großen Unterschiede in der Ausgestaltung des individuell gelebten Glücks, setzen dieses an die Spitze ihrer Philosophie (374). Zum anderen lasse sich hier erstmals ein Universalisierungsbegriff in Bezug auf die ganze Menschheit aufzeigen. Bei den Stoikern wird statt der polis nun Megalopolis die Bühne des Handelns. Bei ihnen werde der Gedanke darüber hinaus mit dem Individualismus gepaart: sie „betrachten es als Aufgabe jedes Einzelnen, dieses Ziel [die Idee einer politisch geeinten Menschheit] im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten zu verwirklichen.“ (272)

Erst unter der Herrschaft Roms entsteht jedoch der Begriff der Menschenrechte (ius hominum/ius humanum), hatten doch die Griechen noch gar keinen Begriff für die Menschheit als Weltgemeinschaft (123, 365). Dieser sei allerdings noch bloße Idee, politisch geltend gemacht werden zunächst ‚nur‘ ius civile und als dessen Erweiterung, durch die Expansion Roms nötig gemacht, das ius gentium. Mit dem lateinischen ius-Begriff sei allerdings etwas sehr viel Verbindlicheres und Verbindendes in die Welt gekommen, als der griechische nomos-Begriff je habe leisten können. Zum einen habe das römische Rechtssystem mehr Rechtsstaatlichkeit garantieren können (so z.B. nulla poena sine lege, audiatur et altera pars, etc.) zum anderen sei im Laufe der römischen Geschichte immer mehr auf eine Vereinheitlichung von ius civile und ius gentium hingesteuert worden, wodurch zumindest innerhalb des Herrschaftsgebietes mehr und mehr gleiches Recht für alle gegolten habe. Hier verweist Bruns immer wieder auf Parallelen zu modernen Menschenrechtserklärungen, erklärt aber, dass hier von Menschenrechten schon allein deshalb nicht gesprochen werden kann, da den antiken Prinzipien der Anspruch der Unteilbarkeit fehle. (350–357)

Divergenzen zwischen Antike und Neuzeit

Damit kommt Bruns letztlich auch zur Beantwortung der Frage nach antiken Menschenrechten. Zum einen könne in der Antike zu keinem Zeitpunkt von Menschenrechten gesprochen werden, da einige begriffliche Entwicklungen, die sich erst in der Neuzeit vollziehen, für universelle, einklagbare Rechte unerlässlich seien, zum anderen sei selbst die Konstatierung einer Kontinuität angesichts der großen mittelalterlichen Lücke bezüglich eines universalistischen Rechtskorpus schwierig (368f.).

Zu den besagten begrifflichen Neuerungen der Neuzeit gehört für Bruns insbesondere der moderne Subjektbegriff, der maßgeblich erst durch die cartesianische Trennung eingeführt wird, durch die die res extensa durch die res cogitans berechenbar und beherrschbar werden. Deshalb war es Bruns auch so wichtig zu zeigen, dass der Homo-mensura-Satz nicht diesen Gedanken gleichsam schon vorwegnimmt (100f.). Zwar wäre der moderne Prozess der Subjektivierung ohne die Rezeption antiker Quellen nicht möglich gewesen (369), aber ebenso habe der Platonismus ja auch nur in Auseinandersetzung mit der Sophistik entstehen können.

Darüber hinaus identifiziert Bruns mit Georg Lohmann drei ‚Dimensionen‘ der Menschenrechte: die moralische, juridische und die politische Dimension. Er legt es der Forschung zur Last, die vermeintliche Abwesenheit juridischer Menschenrechte in der Antike überbetont zu haben. Da es Staatlichkeit im Sinne einer bedrohlichen Macht, gegen die die Rechte des Einzelnen verteidigt werden müssten, so in der Antike nicht gegeben habe, sei eine solche Feststellung müßig (52–54). Erst der römische ius-Begriff könne überhaupt als dem modernen Rechtsbegriff ähnlich angesehen werden, da erst dieser wirklich im modernen Sinne juridisch verstanden wird, d.h. einklagbares Recht bedeutet, das von Politik und Moral unabhängig ist.

Durch einen sehr ausführlichen Exkurs zur Arendt’schen politischen Phänomenologie zeigt der Autor auf, wie in der griechischen Antike Politik und Herrschaft getrennt wurden und letztere in staatlicher Form als illegitim und somit außerhalb vernünftigen Überlegens über Rechte liegend angesehen wurde (174). Nach juridischen Rechten im Sinne von Schutzrechten zu fragen wäre also in der antiken, zumindest der griechischen, Philosophie so sinnvoll gewesen wie für uns heute nach Menschenrechten in einer Diktatur. Darüber hinaus, so Bruns, zeige Arendts Bestehen auf der Notwendigkeit von Pluralität für den griechischen Politikbegriff, dass eine Universalität, wie sie für die modernen Menschenrechte notwendig ist, im Politikverständnis der poleis noch gar nicht vorkommen kann:

Während Menschenrechte einen Begriff von dem Menschen voraussetzen, kann politisch nur von den Menschen gesprochen werden, insofern die Pluralität eine Grundbedingung des Handelns ist. (171)

Dabei übersehe die moderne Tradition auch immer wieder die Wichtigkeit der politischen Dimension, hier verstanden im Arendt’schen Sinne von Politik als Raum des gemeinsamen Handelns: Rechte im juridischen Sinn garantieren nur die Möglichkeit, nicht aber die Tatsache politischer Teilhabe (168).

Ein letzter Punkt, der hier noch angemerkt sein soll, in dem Bruns eine Unvereinbarkeit des Menschenrechtsbegriffes mit der Philosophie der Antike sieht, ist die Abwesenheit einer Seins-Sollens-Differenzierung, die den ‚Durchbruch‘ zu einer Normethik verhindere. Im Griechischen habe es nicht einmal ein Wort für ethisches Sollen gegeben (371).

Kritik

Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte ist ein in vielerlei Hinsicht zur Vorsicht mahnendes Werk. Es mahnt zur Vorsicht in Bezug auf die zu leichtfertige Übertragung moderner Debatten auf die Antike, zur Vorsicht auch in Bezug auch auf die Konstatierung einer antiken Philosophie, die nicht genauso reich an Widersprüchen wäre und so vielen tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt gewesen sei, wie die der Neuzeit. Viele Argumentationsstränge greifen Kontinuitätsbehauptungen an, die beispielsweise in der Sophistik eine frühe Aufklärung oder im Platonismus einen „Durchbruch zu einer Normethik“ (371) sehen wollen. Dem versetzt das Buch einen klaren Dämpfer, der schon im Zitat von Christian Meier auf der Buchrückseite angedeutet ist: „Die Erkenntnis der Antike beginnt mit der ihrer Fremdheit.“

Zu diesem Zweck ist ein begriffsgeschichtlicher Ansatz natürlich sehr sinnvoll, der aufzeigt, wie sehr schon im Altertum die Worte des philosophischen Gebrauchs im Wandel waren und zu welchen Missverständnissen es führen kann, unvorsichtig mit modernen oder auch nur moderneren Interpretationen an philosophische Texte heranzutreten. Auch der Exkurs in Kapitel III demonstriert die Fremdheit der Antike gut, denn am Arendt’schen Politikverständnis wird sehr anschaulich die Übertragung moderner Begrifflichkeiten auf die Antike problematisiert.

Im letzten Kapitel – Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie sowie in der römischen Jurisgenese –bricht Bruns allerdings mit der Hauptthese seines Buches. Dieses Kapitel wird als einziges durch ein Zitat eingeleitet, in dem nach Reinhard Brandt der Hellenismus als ‚Moderne der Antike‘ bezeichnet wird. Das ist natürlich in Anbetracht der bisherigen Herausarbeitung der Divergenzen zwischen Antike und Neuzeit problematisch. Zwar spricht Bruns auch der stoischen, epikureischen und der römischen Rechtstradition, die er in diesem Kapitel behandelt, ab, Menschenrechte gefordert oder etabliert zu haben. Man merkt aber schon recht deutlich, dass der Autor die römische Herrschaft für ein den Umständen entsprechend gelungenes Projekt der Universalisierung des Rechts hält, das späteren Generationen zur Grundlage gedient habe, sich aus dem Mittelalter herauszuarbeiten. Dieses eher negative Mittelalter-Bild taucht so nur einmal explizit auf (368), aber schon aus der Strukturierung des Buches, das einen Prozess zunehmender Rechtsuniversalisierung bis in die Hellenistik nachzeichnet, dann aber schon die zunehmend christliche Spätantike kaum mehr behandelt, lässt die Annahme einer in der heutigen Geschichtswissenschaft nicht mehr so gern gesehenen Idee des ‚finsteren‘ Mittelalters durchscheinen.

Dies geht einher mit Bruns Fokus auf die griechisch-römische Philosophie unter Ausschluss anderer, zum Beispiel der judeo-christlichen Tradition. Die christliche antike Philosophie taucht bei Bruns ausschließlich in Konjunktion mit dem Stoizismus auf. Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden ist zur Genüge besprochen worden. Eine eigene Behandlung universalistischer Thesen der frühchristlichen Philosophie, sowie eine Beschäftigung mit der jüdischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Zuständigkeit eines einzigen Gottes für alle Völker als religiöse Auseinandersetzung mit dem Universalismus, der dem Polytheismus natürlich fremd ist, wäre für die These des Buches noch interessant gewesen, da ja gerade diese beiden religiösen Traditionen bis in die Neuzeit weiterbestehen und beide Einfluss auf die Entwicklung moderner Menschenrechte ausüben. Aber natürlich muss man den Rahmen einer Untersuchung irgendwo setzen, und Bruns wählt hier einen weithin akzeptierten räumlich-zeitlichen Rahmen für die Antike Philosophie.

Eine tiefere Auseinandersetzung mit der Tugendethik wäre für ein Buch zur antiken Philosophie auch noch wichtig gewesen. Bruns sieht meines Erachtens zum Beispiel das Tugendverständnis des platonischen Sokrates zu starr, wenn er, von der Politeia ausgehend, ihm zuschreibt, die dikaiosynê als Haupttugend bestimmt zu haben. Noch im Gorgias erklärt Sokrates die anderen Tugenden als bestimmte Ausprägungen der sôphrosynê (Platon: 507, a-c). In der platonischen Tugendethik steht keine der Tugenden über den anderen, da sonst auch, wie Carr anmerkt, diese eine Tugend die aretê als Ganzes bedeuten würde, und ein eigener Begriff für sie unnötig wäre (Carr, 1988: S. 190).

Darüber hinaus verkennt Bruns die Wichtigkeit der Psychologie des tugendethischen Ansatzes, oder überbewertet ihm gegenüber zumindest politische Aspekte, wie die Staatlichkeit der Moderne:

Eine nach innen gerichtete, polizeiliche Gewalt, die die Bürger zur Einhaltung der Gesetze zwingen könnte, kennt die politische Gemeinschaft [der Poleis] nicht. Es verwundert daher nicht, wenn sowohl für Aristoteles als auch für Platon die tatsächliche Tugendhaftigkeit oder Schlechtigkeit der Bürger für die Wahl der Verfassung entscheidend ist. Die moralische Empörung darüber, dass es Despotien oder Oligarchien gibt, wäre demgegenüber so sinnvoll, wie die Empörung darüber, dass es überhaupt Schlechtigkeit gibt. (270)

Ich halte diese These der Abhängigkeit der Verfassung eines Staates von der Tugend seiner Einwohner heute noch für sinnvoll. Moderne Staatlichkeit tut einem solchen tugendethischen Ansatz keinen Abbruch – andernfalls müsste man behaupten, es sei der Staat, der seine Bürger schlecht mache und nicht umgekehrt. Die Problematik sehe ich hier darin, dass Bruns die Ethik von der Politik her zu verstehen scheint und ihr somit keinen Eigenwert zumisst. Dies zeigt sich in vielen Aussagen, in denen er, ganz mit dem Thrasymachos der Politeia, moralische ‚Sanktionen‘ allein in der Empörung der anderen (144) oder der Dysfunktionalität der Gesellschaft (139–142) sieht. Gerade deshalb verkennt Bruns, denke ich, auch die monumentale Wichtigkeit der platonischen Erkenntnis, dass Unrechttun schlimmer ist als Unrechtleiden.

Diese Kritikpunkte können aber dem Buch als Ganzem keinen Abbruch tun. Als Antwort auf die Frage nach den Grundlagen universaler Rechte in der Antike ist das Werk nicht nur sorgfältig und ausführlich argumentiert, sondern auch spannend geschrieben. Bei aller Tiefe der Untersuchung bietet Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte darüber hinaus einen interessanten Überblick über die Philosophie der Antike allgemein. Die Kapitel zur Vorsokratik und zur Entwicklung der attischen Demokratie sind dabei auch geschichtlich sehr lesenswert; so zeigt zum Beispiel letzteres die große Dynamik in der Auseinandersetzung der Athener mit ihrer Verfassung und damit Politik als konstant im Werden begriffen. Das Kapitel zu Platon und Aristoteles beginnt die beiden Unterkapitel jeweils mit einem gut zugänglichen und recht ausführlichen Einstieg in deren Philosophie. Das Buch bietet damit auch für Unerfahrene einen interessanten Einstieg in die antike Philosophie und Politik.

Anmerkung zu den Gräzismen

Die griechischen Begriffe wurden der Authentizität halber nicht übersetzt, der besseren Zugänglichkeit halber jedoch – außer in wörtlichen Zitaten – ins lateinische Alphabet transkribiert; dabei wurde auf Diakritika verzichtet, Η/η mit Ê/ê und Ω/ω mit Ô/ô wiedergegeben.

Literatur

Platon. Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Ursula Wolf. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg: Rowohlt, 2019.

Carr, David. „The Cardinal Virtues and Plato’s Moral Psychology.“ The Philosophical Quarterly 38.151 (1988) 186–200.

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