Hoppe, Katharina/Lemke, Thomas: Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg: Junius 2021. 200 Seiten. [978-3-96060-322-1]

Rezensiert von Martin Küpper (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

In den 1980er Jahren traten im anglo-amerikanischen Raum Philosophien auf, die sich selbstbewusst das Etikett „Materialismus“ gaben. In deutlicher Opposition zu postmodernen Ansätzen und im Windschatten eines westlich apostrophierten Marxismus, der mit den Natur- und Technowissenschaften meist wenig anfangen konnte, entstanden materialistische Konzepte, die Fragen der Wissenschaftsforschung, der Ökologie und des Feminismus aufgriffen. Nachdem dem akademischen Marxismus mit dem Ende des historischen Sozialismus zunehmend die institutionelle Basis wegbrach und das postmoderne Denken sich in selbstreferenzielle Fragen verstrickte, fassten diese neuen Ansätze auch in Europa Fuß. Es entstanden auch diesseits des Atlantiks Philosophien, die den Dimensionen von Materialität und Stofflichkeit wieder vermehrt Aufmerksamkeit zu widmen versuchten und mit dem Schlagwort des „material turn“ umschrieben wurden. Als zum Ende der 2000er Jahre die internationale Finanzkrise die Weltökonomie erschütterte und die ökologische Seite der kapitalistischen Vergesellschaftung volle Aufmerksamkeit erhielt, fingen diese Philosophien an, regelrecht zu boomen. Diese Konjunktur hat sich in einer umfangreichen Publizistik und in regen Debatten niedergeschlagen, die bis heute in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und in den Künsten anhalten.

Was zunächst keine Strömung sein wollte und konnte, weil ihre Vertreter_innen viel zu heterogene Methoden und Theorien entwickelten, verdichtete sich allmählich zu dem, was heute Neuer Materialismus genannt wird, wenngleich er bereits etwas in die Jahre gekommen ist.

Da der Neue Materialismus, anders als etwa der dialektische Materialismus, „keinen homogenen Denkstil oder eine in sich kohärente Theorieschule“ (13) darstellt, kommt Katharina Hoppe und Thomas Lemke mit ihrer Einführung das Verdienst zu, im Dickicht der Konzepte Orientierungsschneisen zu schlagen und eine erste kritische Übersicht zu präsentieren. Hierfür haben sie sieben Vertreter_innen des Neuen Materialismus ausgewählt (Graham Harman, Jane Benett, Karen Barad, Rosi Braidotti, Elizabeth Grosz, Elizabeth Wilson und Donna Haraway), deren Konzeptionen sie in ihren Kerngehalten vorstellen, deren Schwachstellen sie benennen und durch eine eigene Position ergänzen.

Doch was zeichnet den Neuen Materialismus eigentlich aus? Hoppe und Lemke legen dar, dass allen Konzeptionen ein kritischer Impuls gemein ist, demzufolge das „komplexe und dynamische Zusammenspiel sinnhaft-symbolischer Prozesse und materieller Ordnungen“ nur unzureichend mit „primär semiotisch verfahrenden Ansätzen“ (10) analysiert werden könne. Ausgangspunkt der neumaterialistischen Philosophien sei daher eine negative Affirmation bestehender Prämissen. Sie wehren sich gegen die ihrer Meinung nach dualistischen Vorstellungen in den Geisteswissenschaften, die Kultur und Natur abstrakt gegeneinanderstellen und damit der Kultur Aktivität und der Natur Passivität zuschreiben. „Grundlegend für diese Bewegung“, so Hoppe und Lemke weiter, „ist die Ausdehnung der Konzepte von Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation auf nicht-menschliche Entitäten und die Infragestellung traditioneller Vorstellungen von Leben.“ (11). Der Neue Materialismus interessiere sich jedoch kaum für die soziale Genese und Funktionalität der vom Menschen hervorgebrachten Gegenständlichkeit. Materiellen Dingen kämen keine festen, unumstößlichen Eigenschaften zu, sondern sie würden als „flexibel und dynamisch begriffen“ (13). Schließlich gehe der Neue Materialismus von keinem die Wirklichkeit strukturierenden Substrat aus. Hierin meinen die Neuen Materialist_innen ein unterkomplexes und reduktionistisches Weltverständnis erblicken zu können. Sie schlagen daher eine Rekonzeptualisierung von Materie vor, die unterschiedlich vorgenommen wird, und fordern hierfür eine Neukonfiguration trans- und interdisziplinärer Zusammenhänge, sowie eine Ausweitung des Politischen. So ergibt sich über die Differenzen hinweg eine immer wieder auftretende Ideenarchitektur: Kritik an überkommenen wissenschaftlichen Paradigmen (z. B. am Natur-Kultur-Dualismus), Neuausrichtung des Denkens durch die Überwindung disziplinärer Schranken (z. B. stärkere Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Ergebnisse in den Kulturwissenschaften), Skizzierung einer Ethik, die im engen Zusammenhang mit einer posthumanistischen Politikauffassung steht (z. B. Aufgabe eines anthropozentrischen Gesellschaftsverständnis).

So zeigen die Autor_innen anhand der Objektorientierten Ontologie (OOO) von Graham Harman, wie diese das Anliegen des Neuen Materialismus geradezu irrational verzerren kann. Die OOO frage nach der „wahre[n] Natur der Dinge jenseits des menschlichen Denkens“ (25), die sie im gleichen Atemzug aber als unerklärlich deklariere. Die Objekte ziehen sich in eine „Art ontologische Finsternis zurück […], auf eine Ebene unterhalb der Phänomene, die nie vollständig von Menschen erreicht werden kann.“ (28) Wie Harman und andere wissen können, was der Mensch nicht wissen könne, bleibt im Rahmen der OOO unerläutert. Objekte seien in dieser Vorstellung jedenfalls alles, „was eine einheitliche Realität“ (ebd.) besitze und mit „intrinsiche[n] Qualitäten“ (31) ausgestattet sei. Das umfasse den Menschen genauso, wie den Kieselstein. Hoppe und Lemke treffen den Nagel auf den Kopf, wenn sie neben den begrifflichen Schwächen, die ideologischen Konsequenzen klar benennen: „Die Ablehnung des Anthropozentrismus und die Affirmation des ontologischen Egalitarismus (…) zielen darauf, die Unterscheidungen zwischen den Objekten analytisch zu verflachen (statt sie zu vertiefen) – und verschleiern damit die de facto privilegierte Rolle und die planetare Macht des Menschen“ (39).

Auch wenn die Verfasser_innen einige Unterschiede zum Werk von Quentin Meillassoux herausarbeiten, erscheint die hergestellte Nähe (24–26) zu Harmans Projekt problematisch. Das Vorhaben Meillassoux’ – ungeachtet seiner spezifischen Ambivalenzen und Inkonsequenzen – zielt gerade auf die Erhöhung des „Geltungsanspruch[s] wissenschaftlicher Objektivität“ (26). Anders ist die Indienstnahme der Mathematik, die Harman ausschließt (ebd.), nicht zu verstehen. Meillassoux’ Angriff auf den Korrelationismus gilt nicht der Subjektivität schlechthin, sondern dem Subjektivismus, der den Schulterschluss mit den Naturwissenschaften blockiert.

Karan Barads Philosophie ist zwar Teil des neomaterialistischen Panoramas, unterscheidet sich aber wesentlich von der OOO. Ihr Agentieller Realismus postuliere eine relationale Ontologie, die sie mit der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie durch Niels Bohr und ethischen Überlegungen anreichere. Die Autor_innen zeigen, wie Barad eine performative Theorie der experimentellen Apparatur entwickelt, die als Modell der Dynamik materieller Wirklichkeit fungieren könne, insofern in der Apparatur die materiellen Phänomene der Wirklichkeit in ihrer flexiblen Dinglichkeit und Werthaftigkeit erzeugt werden. Dabei erhellen die beiden die Bedeutung von Neologismen wie Diffraktion, agentiellen Schnitten und Intraaktion (61–66) und zeigen deren Leistungsfähigkeit. Barads Überlegungen wurden bereits 2009 in ein empirisches Forschungsdesign umgearbeitet, um die Wissensproduktion in pränataldiagnostischen Untersuchungen zu analysieren (71–73). Wenngleich immer wieder deutlich wird, dass Hoppe und Lemke Sympathien für den Ansatz von Barad pflegen und teilweise auch ihre Begriffe übernehmen (z. B. 143), werden die Aporien dieser Philosophie herausgearbeitet. Barad schlägt nämlich vor, für alle Materialisierungsprozesse im Rahmen einer Ethik Verantwortung zu übernehmen (76). Da aber alles Folge, Voraussetzung und Grundlage von Materialisierung sei, bleibe die Frage offen, welche Kriterien „heranzuziehen sind, um zu entscheiden, welche Intraaktionen ‚gehaltvoller‘ oder ‚gerechter‘ sind als andere“ (77). Barad leite aus ihren epistemologischen und ontologischen Überlegungen unmittelbar normative ethische Haltungen ab, die einen Mangel an Gesellschaftstheorie offenbaren. „Mit anderen Worten: Barad fehlt ein Verständnis dafür, dass die von ihr hervorgehobene Offenheit der (Re-)Konfiguration der Welt immer auch ein politisches, das heißt, umstrittenes und umkämpftes Projekt ist.“ (78f.)

In Barads Agentiellem Realismus brechen sich neuartige Theorien des Subjekts und der Politik Bahn, was mit dem „schillernden Begriff des ‚Posthumanismus‘“ (81) umrissen werden kann. Laut Hoppe und Lemke formiert sich dieser Posthumanismus über zwei „Abgrenzungsbewegungen“ (ebd.). Erstens solle die Vorstellung bekämpft werden, der zufolge der Mensch Ausgangs- und Endpunkt theoretischer Überlegungen sei, wobei ein Verständnis vom „konkreten und unveränderlichen Wesen des Menschen“ (82) mitschwinge. Zweitens müsse der Idee eines Bioengineerings, das die Begrenzungen des Menschen durch Technik aufzuheben trachtet, etwas entgegengesetzt werden.

Rosi Braidotti versucht dieses Problem zu lösen, indem sie mithilfe der Bestimmung des Nomadischen, die „heterogene Verkörperung und prozesshafte Konstitution von Subjektivität“ (86) thematisiert und mit einer Affirmation gesellschaftlicher Dynamiken verbindet. Die Welt sei nicht zweigeschlechtlich eingerichtet, vielmehr sei alles Menschliche und Nicht-Menschliche untrennbar und dynamisch miteinander verwoben. Demnach liege im Werden zur Identität sowohl die Aufgabe, in einer sich wandelnden Umwelt zu bestehen, wie auch die Aufforderung äußerliche Impulse permanent zu integrieren. In diesem Sinne sei beispielsweise „Frau-Werden (…) ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt und ein anzustrebendes Ziel“ (87). Das bedeute nicht, dass auf eine Essenz des Frau-Seins zurückgegriffen werde. Vielmehr sei dieses Werden eine Reaktion auf die zunehmenden Verschiebungen und Entgrenzungen, die der globale Kapitalismus im Rahmen seiner Verwertungssucht vorantreibe. Dieser Umstand solle jedoch – nach Braidotti – nicht in eine Kritik der Verhältnisse führen, sondern in einen vermeintlich spielerischen Umgang mit diesen Voraussetzungen. Im Sinne einer Komplexitätssteigerung und Optimierung seien die Anforderungen und die Herausforderungen der Wirklichkeit anzunehmen. Das mit dieser Apologie die destruktiven Kräfte kapitalistischer Vergesellschaftung „marginalisiert“ (93) und politische Konflikte „harmonistisch“ (95) umgewertet werden, arbeiten die Verfasser_innen treffend heraus.

Es gelingt Hoppe und Lemke, ihre Darstellung und ihre Kritik der einzelnen Philosophien zu einem Plädoyer „für einen relationalen Materialismus“ (141) zusammenzubinden, indem sie die Aporien des Posthumanismus, des latenten Positivismus und der „Ökologisierung der Macht“ (154) herausstellen. Sie monieren, dass trotz der aufgebotenen Erneuerungs- und Innovationsrhetorik „Tendenzen der Re-Essenzialisierung“ (143) sichtbar seien. Durch die häufig anzutreffenden Strohmann-Argumente, die von einem voluntaristischen und beinah kenntnislosen Zugriff auf die Philosophiegeschichte zeugen, verbaue sich der Neue Materialismus die Chance, sich „Errungenschaften der humanistischen Tradition und deren innere Spannungen kritisch anzueignen und zu bewahren“ (ebd.). Sie zeigen, wie Neue Materialismen häufig abstrakte, zur Homogenisierung neigende Vorstellungen des Humanismus und des Menschen pflegen (146–149). Dagegen setzen sie den relationalen Materialismus und fordern ein, dass einerseits „menschliche Individuen und Kollektive zur Rechenschaft gezogen werden für die Herrschaft, die Ungerechtigkeit und das Leid, das sie menschlichen wie auch nicht menschlichen Körpern zufügen“ (149). Und andererseits stellen sie die Aufgabe, „neue Figuren des Menschlichen zu entwickeln, die gerechtere und egalitärere Normen des Zusammenlebens ermöglichen“ (ebd.). In Anlehnung an Foucault gehe es um die Markierung eines „‚Wir‘ (und dessen Grenzen) als einen experimentellen Raum der Untersuchung und Verhandlung“ (150). Letzteres unterliegt der Gefahr, den zuvor als zu allgemein kritisierten Begriff des Menschen nur zu pluralisieren und letztlich dem Zusammenleben ontologisch induzierte Werte zum Zwecke der Normierung zu applizieren. Ersteres fokussiert hingegen auf die Analyse von Macht und Herrschaft. Hoppe und Lemke geht es um die „spezifische Textur dieser Relationalitäten“ (155). Damit versuchen sie die zwischen Politik und Onto-Epistemologie offen gebliebene gesellschaftstheoretische Lücke mithilfe eines am Recht orientierten Normenbegriffs zu füllen. So soll der Neue Materialismus ins Soziale zurückgeholt werden, indem der programmatische Fokus auf „die spezifischen Materialisierungen des Menschlichen in [seinen] häufig rassifizierten, vergeschlechtlichten und auch in Bezug auf die soziale Herkunft differenzierten Ausschlussdynamiken“ (146) gelegt werden soll. Das lässt zwei Fragen offen: Inwiefern können die „kritische[n] Impulse“ (155) der Neuen Materialismen ihrer Absorption und Entschärfung entzogen werden? Und wie muss eine Operation aussehen, durch die den Neuen Materialismen ein revolutionäres Politikverständnis (165) induziert werden könnte? Diese Fragen können m. E. nur geklärt werden, wenn die Diskussion in und um den Neuen Materialismus um zwei Aspekte erweitert wird: 1) Wo steht diese Richtung im historischen Strom des Materialismus? Inwiefern ist die Verschränkung von Ontologie, Epistemologie und Ethik respektive Politik ein Alleinstellungsmerkmal? 2) Durch welche sozioökonomische Entwicklung werden diese Philosophien hervorgebracht, d. h. auf welche gesellschaftliche Praxis versuchen sie eine weltanschauliche Antwort zu formulieren? Und wie prägt sich der Widerspruch zwischen anderen Erkenntnis- und Wirklichkeitsmodellen und dem konkreten Material, das sowohl die geschichtliche und kulturelle Erfahrung und die einzelnen Wissenschaften vermitteln, in die Struktur der Philosophie ein?

Hoppe und Lemke weisen immer wieder daraufhin, dass diese Philosophien mit den neoliberalen Momenten kapitalistischer Vergesellschaftung korrelieren. Im nächsten Schritt könnte gezeigt werden, inwieweit der Neue Materialismus der Versuch ist, die globalkapitalistische Wissenschafts- und Technikentwicklung mit einem auf deren Bedürfnisse ausgerichteten Bewusstsein zu verkuppeln. Hieran ließe sich der politische Horizont des Neuen Materialismus – fern aller überschäumender Rhetorik und aller Neologismen – bestimmen.

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