Sommer, Marc Nicolas/Schärli, Mario (Hg.): Das Ärgernis der Philosophie. Metaphysik in Adornos Negativer Dialektik. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. 326 Seiten. [978-3-16-156652-3]
Rezensiert von Till Seidemann (TU Darmstadt)
Der Begriff der Metaphysik ist ein Ärgernis, wie Adorno in einer Vorlesung bemerkt (Adorno 2006: 9), und dies gilt offenbar auch für seine eigene Philosophie. Wirft man einen Blick auf die Rezeption der Negativen Dialektik in Folge der kommunikationstheoretischen Aktualisierung der Kritischen Theorie, scheint Einigkeit in zumindest einer Hinsicht zu bestehen: Adornos Philosophie sei gescheitert und nur durch tiefgreifende theoretische Interventionen anschlussfähig zu machen. Die Frage, wie diese Interventionen auszusehen hätten, wurde mit unterschiedlicher Akzentuierung beantwortet. Negative Dialektik sei als Ontologie des falschen Zustands nicht rekonstruierbar und folglich von ihrem gesellschaftstheoretischen Fundament zu entkoppeln (vgl. Schnädelbach 1983: 86) oder könne nur durch einen sprachphilosophischen Paradigmenwechsel von ihrer Blindheit gegenüber den utopischen Potentialen der Alltagssprache geheilt werden (vgl. Wellmer 1983: 150). In seiner umfassenden Studie Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel hat Marc Nicolas Sommer den verdienstvollen Nachweis erbracht, dass Habermas’ Adorno-Kritik samt ihrer verkürzten Darstellung der Philosophie Adornos von einer ganzen Generation an Philosophinnen und Philosophen voreilig übernommen wurde (vgl. Sommer 2016: 3–18). Sommers eigene, um Systematik und Kohärenz bemühte Rekonstruktion der negativen Dialektik hat dabei zweifellos neue Maßstäbe in der Adorno-Forschung gesetzt.
Daran kann der im Jahr 2019 zusammen mit Mario Schärli herausgegebene und hier zur Besprechung vorliegende Sammelband in weiten Teilen anschließen. Die darin versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung anlässlich des fünfzigjährigen Erscheinens der Negativen Dialektik im Jahr 2016 zurück und behandeln im engeren oder weiteren Sinne Adornos Verhältnis zur Metaphysik. Zunächst gilt es, den philosophischen Sinnzusammenhang zu beleuchten, in dem die Herausgeber die Thematik des Bandes verortet sehen (I), um daraufhin die Beiträge vorzustellen und einige von ihnen weiterführend zu diskutieren (II). Fluchtlinienartige Bemerkungen beschließen die Besprechung (III).
I.
War die Ausgangslage für die Rezeption der Negativen Dialektik im Allgemeinen bereits denkbar ungünstig, so gilt dies im Besonderen für deren letztes Kapitel, die „Meditationen zur Metaphysik“. Sommer bemerkt in der Einleitung des Bandes, dass Adornos Reflexion auf das „Projekt der Metaphysik im Lichte der politischen und kulturellen Situation der Gegenwart […] bis heute kaum angemessen rezipiert und meistens nicht einmal als solche erkannt“ (1) wurde. Diese rezeptionsgeschichtliche Leerstelle ist eng mit dem Werk von Habermas verknüpft, dessen Diktum von der Alternativlosigkeit nachmetaphysischen Denkens (vgl. Habermas 1992: 36) jede Metaphysik als anachronistisch, wenn nicht sogar als reaktionär erscheinen ließ. Der Einleitung folgend gilt es jedoch, den schweren Stand der Metaphysik im 20. Jahrhundert in einem größeren philosophiegeschichtlichen Zusammenhang zu reflektieren.
Kants Kritik einer dogmatischen Metaphysik hatte das Ziel, Metaphysik ihrer unhinterfragten Selbstverständlichkeit zu entkleiden, ohne dabei die metaphysischen Fragen nach Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott zu verabschieden. Carnap war es schließlich, der im Zuge seines Versuchs, die Metaphysik durch logische Sprachanalyse zu überwinden, metaphysische Sätze nicht einfach nur für kontrovers, sondern für schlicht sinnlos erklärte. Seine These lautet, „daß die angeblichen Sätze der Metaphysik sich durch logische Analyse als Scheinsätze enthüllen.“ In ihnen werde entweder ein Wort verwendet, „von dem man nur irrtümlich annimmt, daß es eine Bedeutung habe, oder die vorkommenden Wörter haben zwar Bedeutung, sind aber in syntaxwidriger Weise zusammengestellt, so daß sie keinen Sinn ergeben“ (Carnap 1931/32: 220). Allerdings hat die Philosophiegeschichte gezeigt, dass metaphysische und in einem engeren Sinne ontologische Fragen auch in einem streng sprachanalytischen Rahmen nicht verstummen. Und mehr als das: Metaphysik ist schließlich zu einem bedeutsamen Aufgabengebiet der analytischen Philosophie avanciert. Sommer verdeutlicht dies exemplarisch an Heinrich Scholz, der in der durch Frege, Russell und Whitehead entwickelten neuen Logik „das Potential zur Ausbildung einer streng wissenschaftlichen Metaphysik“ (5) erblickte. Ebenso ließe sich als wohl prominentestes Beispiel Strawsons Projekt einer deskriptiven Metaphysik anführen, und einer Erweiterung der Reihe wären keine Grenzen gesetzt.
Es zeigt sich, dass der Begriff der Nachmetaphysik „nicht das Ende der Metaphysik markiert, sondern bloß das Ende ihrer unhinterfragten Selbstverständlichkeit“ (4). Die historische Entwicklung nötigt Metaphysik zur kritischen Selbstreflexion und eben dies ist das Programm der negativen Dialektik. Sie schließt „ausdrücklich an Hegels Gleichsetzung von Logik und Metaphysik an“, in der Adorno den Kerngehalt metaphysischen Denkens erblickt: „die Frage nach der Identität von Denken und Sein“ (7). Der in der Negativen Dialektik zentrale Begriff der Nichtidentität stellt diese Identität kritisch in Frage und folglich sind Adornos „Reflexionen über Nichtidentität und Identitätszwang des Denkens […] Reflexionen auf das Grundproblem der Metaphysik“ (8). Wie Sommer am Ende der Einleitung betont, geht negative Dialektik jedoch in entscheidender Hinsicht über die angeführten neueren Gestalten metaphysischen Denkens hinaus, indem sie sich nicht auf eine metaphysica generalis beschränkt, sondern sich als metaphysica specialis auch mit den letzten Dingen befasst: „mit der Ideentrias von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott“ (8). Adorno begreift die transzendentalen Ideen Kants als Bedingung der Möglichkeit, das Bestehende zu transzendieren, und entwickelt so einen Begriff der Utopie, der den Fluchtpunkt seiner gesamten Philosophie bildet. Weil ohne Metaphysik ein Begriff der Utopie also gar nicht denkbar wäre, ist negative Dialektik „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ (Adorno 2003: 400).
Die Einleitung des Bandes macht deutlich, dass die Rettung der Metaphysik als zentrale Intention der gesamten Negativen Dialektik zu verstehen ist (und Adorno hat dies gegenüber Scholem auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: vgl. Adorno/Scholem 2015: 413). Entsprechend beschränken sich die Beiträge nicht auf die „Meditationen zur Metaphysik“, sondern gruppieren sich um folgende vier Themenschwerpunkte: Begriffskritik, Materialismus, Wahrheit und Geschichte, das Absolute. Der erste und zugleich umfangreichste Teil untersucht grundlegende kategoriale Zusammenhänge in Adornos Philosophie, wobei ein gewisser Fokus auf den Begriff des Nichtidentischen erkennbar ist. Im zweiten Teil wird Adornos kritischer Materialismus rekonstruiert, der – auch das hat Adorno gegenüber Scholem betont – auf spezifische Weise mit seinem Begriff der Metaphysik koinzidiert (vgl. Adorno/Scholem 2015: 414). Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Bedeutung von Wahrheit und Geschichte in der Negativen Dialektik und der vierte Teil greift das in der Einleitung behandelte Verhältnis Adornos zur klassischen Metaphysik erneut auf.
II.
Begriffskritik
Der erste Beitrag des ersten Teils stammt von Guido Kreis, der eine systematische und in ihrer terminologischen Stringenz beeindruckende Untersuchung des Begriffs des Nichtidentischen vorlegt (13–47). Unter Rückgriff auf Hegel gelangt Kreis zu dem Ergebnis, dass der Widerspruch in einer negativen Dialektik sowohl als Kategorie als auch (entgegen Adornos oftmaliger Beteuerung) als Wesensstruktur der Wirklichkeit selbst verstanden werden müsse, um den Begriff des Nichtidentischen kohärent denken zu können. „Nur wenn die Einzeldinge wesentlich widersprüchlich sind und darin ihre Identität haben, können sie diejenige Nichtidentität, die Adornos Negative Dialektik intendiert, überhaupt entfalten“ (42). Negative Dialektik sei „in dieser Hinsicht sowohl Kategorientheorie als auch Ontologie“ (47). Nun ließe sich weiterführend argumentieren, dass Adorno „die unversöhnte Sache“ zwar tatsächlich als „widerspruchsvoll“ (Adorno 2003: 148) denkt, allerdings nur insofern, als sie der durch das Tauschprinzip konstituierten gesellschaftlichen Totalität unterliegt und dadurch auf ihren ökonomischen Wert reduziert, mithin unter Absehung ihrer nichtidentischen Eigenschaften identifiziert wird. Diese Widersprüchlichkeit ist keine ontologische, denn mit Marx betont Adorno, „daß die Herstellung einer widerspruchslosen Verfassung der Wirklichkeit eine Sache der menschlichen Praxis ist“ (Adorno 2010: 125). „Angesichts der konkreten Möglichkeit von Utopie“ ist negative Dialektik „Ontologie des falschen Zustands“ (Adorno 2003: 22) und darum keine Ontologie im strengen Sinne. Der Beitrag spricht also einen vieldiskutierten Aspekt der Philosophie Adornos an, denn bekanntlich ist dieser nicht müde geworden, die Ontologie zu kritisieren.
Christian Iber schließt an die entfaltete Problemstellung an, indem er Adornos Kritik des identifizierenden Denkens wissenschaftstheoretisch prüft (49–64). Das Ergebnis ist so vorhersehbar wie vernichtend zugleich: Adornos Philosophie münde in ein „Denken in Konstellationen, das Erkenntnis in ein unverbindliches Spiel transformiert, um sie so vor vermeintlicher Verwissenschaftlichung zu bewahren“ (64). Damit sollte sich „ein an Erkenntnis interessiertes Denken nicht gemein machen“ (64). Es bleibt jedoch fraglich, ob die Spezifik einer Philosophie, deren Anspruch darin besteht, die Grenzen der wissenschaftlichen Denkform aufzuzeigen, von einem rein wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus erfasst werden kann. Deshalb überrascht es auch nicht, dass Iber Adorno kurzerhand und trotz aller Unterschiede in eine Reihe mit Lyotard und Derrida stellt.
Der Beitrag von Tilo Wesche untersucht das Verhältnis von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik bei Adorno (65–76) und verdeutlicht, dass es sich dabei um eine dialektische Reflexionsfigur handelt, in der Grund und Folge identisch sind. Adornos Konzept der Dialektik könne demnach eine Erklärung dafür geben, „warum der Kapitalismus die positive Wertvorstellung ihm gegenüber selbst garantieren kann, die er für seine Funktionalität benötigt“ (65). Wesche entfaltet diese Dialektik ausgehend von der Keimzelle des Kapitalismus, dem Privateigentum, indem er dessen quasireligiöse Qualitäten bei gleichzeitig erzeugter Rationalitätssteigerung herausstellt. Das Eigentum schafft Möglichkeiten, die eigene „Verfügungsreichweite über den Tod hinaus zu erweitern“ und bietet damit „eine größere Gewissheit über ein Gelingen angesichts von Vergänglichkeit als bloße Glaubensgewissheiten“ (70). Um diese Wertvorstellungen und ihren die Verhältnisse affirmierenden Charakter als Erzeugnis und zugleich Bedingung des Kapitalismus zu dechiffrieren, bedarf Gesellschaftskritik immer der Erkenntniskritik.
Hervorzuheben ist der Beitrag von Philip Hogh (77–101), der bereits in Kommunikation und Ausdruck eine längst überfällige Untersuchung der Sprachphilosophie Adornos vorgelegt hat (vgl. Hogh 2015) und nun nach dem Verhältnis von Philosophie, Rhetorik, Alltags- und Wissenschaftssprache bei Adorno fragt. Der Beitrag rekonstruiert zunächst Adornos Versuch, gegen Platons Verwerfung der Rhetorik „die Undiszipliniertheiten des sprachlichen Ausdrucks für die Erkenntnis der Sache zu retten“ (83). Weil sich Adorno zufolge im noch nicht objektivierten sprachlichen Ausdruck Momente gesellschaftlicher Objektivität bemerkbar machen, gilt es, die Potenziale der Alltagssprache gegen eine Verwissenschaftlichung der Philosophie in Stellung zu bringen, die Adorno prototypisch bei Carnap und dem frühen Wittgenstein vollzogen sieht. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Philosophie zur Erkenntnis der Welt nur fähig wird, „wenn sie sich in ihrer eigenen sprachlichen Praxis etwas von dieser Welt aneignet, statt sich als ein geschlossenes normatives System dieser Welt gegenüberzustellen“ (93). Hogh eröffnet zuletzt – freilich nur skizzenhaft – eine Diskussion zwischen Adorno und der zeitgenössischen analytischen Sprachphilosophie, die es weiter zu verfolgen lohnt. Dem Beitrag kommt eine interessante Stellung innerhalb des ersten Teils des Bandes zu, da er auf Aspekte von Adornos Philosophie aufmerksam macht, die der zuvor von Iber eingenommenen wissenschaftstheoretischen Perspektive notwendig verborgen bleiben.
Dies gilt ebenso für den Beitrag von Emil Angehrn (103–117). Ausgehend von Adornos Forderung, „[g]egen Wittgenstein zu sagen, was nicht sich sagen läßt“ (Adorno 2003: 21), argumentiert Angehrn, dass die Darstellung des Nichtsagbaren und damit das zentrale Erkenntnisproblem negativer Dialektik „mit dem Problem der Erinnerung verschränkt“ ist; genauer: mit den „Figuren der Leidenserinnerung und der Glückserinnerung, die beide Grenzen der Darstellung berühren“ (108). Die absolute Negativität, für die die Chiffre Auschwitz steht, lähmt die Fähigkeit zur Erinnerung und dadurch auch die philosophische Erkenntnis. Zugleich artikuliert sich in der kindlichen Glückserinnerung ein uneingelöstes Versprechen und „im Wachhalten, Erwecken eines Nichtrealisierten berührt sich die Glückserinnerung mit dem Leidensgedächtnis“ (114). Indem negative Dialektik diesen Berührungspunkt zum Ausdruck bringt, bleibe sie „in Distanz zur affirmativen Metaphysik und deren negativer Unterlaufung gleichermaßen“ und gebe eine Antwort auf die „Forderung, zu sagen, was nicht sich sagen lässt“ (117).
Materialismus
Der zweite Teil des Bandes wird von Gunnar Hindrichs eröffnet (121–144), der die Struktur negativer Dialektik als Verbindung zweier Denkformen beschreibt: „Auf der einen Seite steht eine Konzeption konstellativer Gegenstandsartikulation. Sie entspringt Adornos Kritik des identifizierenden Denkens. Auf der anderen Seite steht eine Platzhaltergestalt revolutionären Klassenkampfes“ (121). Weil negative Dialektik sich in Abgrenzung zu Hegel einer Positivierung der Negation widersetzt und dennoch beansprucht, die Sache zu bestimmen, führt sie eine aus der Selbstreflexion des Denkens gewonnene „Negation mit Eigensinn ein“ (123). Folglich darf – und hier nimmt Hindrichs eine Gegenposition zu Kreis ein – „die Nichtidentität nicht aus irgendwelchen Gegebenheiten des Gegenstandes abgeleitet“ (124) werden. Auf paradoxe Weise verschränke Adorno diese dialektische Logik mit dem Unternehmen der materialistischen Gesellschaftskritik, wodurch seine Theorie „Einsicht über ihre Eigenbedingtheit und die Bedingtheit dessen, was ist,“ (130) erlange. Adornos kritischer Materialismus biete folglich „keine Lehre von der Wirklichkeit. Vielmehr fällt er über die Wirklichkeit das Urteil: dass sie von Herrschaft bedingt ist“ (139). Was bedingt ist, ist jedoch veränderbar, und in diesem Bewusstsein überlebt die revolutionäre Hoffnung.
Daran anschließend verdeutlicht der Beitrag von Dirk Braunstein, Julia Jopp und Ansgar Martins die materialistische Stoßrichtung der Negativen Dialektik (145–172) und plädiert dafür, Adornos Rede von einem „Primat der Ökonomie“ (Adorno 2003: 306) ernst zu nehmen. Entsprechend wird das vieldiskutierte und von Adorno zeitlebens unterbestimmte Verhältnis von Tausch- und Identitätsprinzip und deren Vermittlung mit gesellschaftlicher Herrschaft entfaltet. „Die Trias von Äquivalent, Identität und herrschaftlicher Repression scheint bei Adorno unabdingbar durch einander vermittelt“ (151). Ständiger Gesprächspartner ist Alfred Sohn-Rethel, dessen Ableitungsversuch zwischen Warenform und Denkform „tiefe Spuren bis in Adornos Spätwerk hinein hinterlassen“ (155) habe. Die Frage, wie hoch man den Einfluss Sohn-Rethels auf Adorno einschätzt, hat tatsächlich weitreichende Konsequenzen für die Rekonstruktion seiner Philosophie, weshalb es den Beitrag ernst zu nehmen gilt, trotz möglichem Unbehagen gegenüber der Ausbuchstabierung einer bei Adorno nur vage angedeuteten Gattungsgeschichte.
Wahrheit und Geschichte
Der dritte Teil des Bandes fragt nach der Bedeutung von Wahrheit und Geschichte in Adornos Negativer Dialektik, wobei die beiden Themenkomplexe in jeweils einem Beitrag behandelt werden. Brian O’Connor zufolge (175–188) wird Wahrheit in Adornos Philosophie „durch ‚singuläre’ philosophische Erfahrung realisiert“ (176). Weil die idealistische Erkenntnistheorie Partikularität nicht zu erfassen vermag, sei „die erhöhte Beteiligung der Subjektivität des Einzelnen im philosophischen Verfahren“ (180) von fundamentaler Bedeutung. Der Beitrag untersucht Adornos Verständnis von Rhetorik und Textkritik, gelangt jedoch nicht über vage Hypothesen hinaus. Dass dies Schwierigkeiten in Adornos Wahrheitsbegriff selbst geschuldet sein mag, soll hier nicht in Abrede gestellt werden.
Anhand des zweiten Modells der Negativen Dialektik „Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel“ untersucht Peggy H. Breitenstein die Geschichtsphilosophie Adornos und zeigt, dass diese ein Zentrum seiner Philosophie bildet (189–216). Die Stärke des Beitrags besteht vor allem in der Rekonstruktion der kaum beachteten Auseinandersetzung Adornos mit Gehlen und Tillich, deren Bedeutung für die geschichtsphilosophische Dimension negativer Dialektik nachdrücklich herausgestellt wird.
Das Absolute
Den letzten Teil des Bandes eröffnet Axel Hutter (219–236), der ausgehend von Horkheimers Beschäftigung mit dem katholischen Existenzialisten Theodor Haecker zeigt, inwiefern Adornos „Meditationen zur Metaphysik“ eine Radikalisierung der Kritischen Theorie darstellen. Während Horkheimer „ein Denken, das den Tod als ‚das schlechthin Letzte’ akzeptiert, zum Inbegriff eines kritischen Bewußtseins erklärt“ (224), richtet sich Adorno gegen eine Verabsolutierung des Todes. Hutter verdeutlicht dies mit einer einschlägigen Passage aus der Negativen Dialektik, wonach „der Gedanke, der Tod sei das schlechthin Letzte, unausdenkbar“ (Adorno 2003: 364) sei. In kritischer Distanz zu Adornos eigener Begründung der angeführten These und unter Bezug auf Benjamins Theorie des Eingedenkens sucht der Beitrag einen eigenen Weg, „um zu zeigen, daß Adornos These von der Unausdenkbarkeit des Todes berechtigt ist“ (225). Hutter argumentiert, dass die Offenheit der Zukunft und damit die Hoffnung auf einen besseren Zustand gegenüber der Verzweiflung die Oberhand nur zu gewinnen vermag, „weil der Sinn des Geschehenen nicht ein für allemal fixiert ist, sondern sich im Laufe der Geschichte vermittels des kritischen Eingedenkens ändern kann und soll“ (232). Deshalb – so ließe sich weiter argumentieren – erlaubt sich negative Dialektik die „Abschaffung des Leidens […] bis zu einem Grad“ zu denken, „dem keine Grenze anzubefehlen ist“ (Adorno 2003: 203); und eben hierin besteht ihre Radikalisierung der Kritischen Theorie.
Der Mitherausgeber Mario Schärli schließt an den entfalteten Problemhorizont an, indem er die Bedeutung des ontologischen Gottesbeweises für Adornos Philosophie umfassend rekonstruiert (237–278). Der Gottesbeweis könne als eine Reflexion der Vernunft auf ihre eigene Begrenztheit und Reichweite verstanden werden. Insofern „kreist […] wohl eine jede“ Philosophie, wie es in den „Mediationen zur Metaphysik“ heißt, „um den ontologischen Gottesbeweis“ (Adorno 2013: 378). Diese Formulierung nimmt Schärli zum Anlass der Untersuchung und zeigt, dass Adorno die Geltung des Gottesbeweises zwar dementiert, ohne jedoch die darin ausgedrückte „Utopie der Vernunft als inkonsequenten Gedankengang zu verstehen“ (269). Adorno fasst den Gottesgedanken als Utopie, was bedeutet, „ihn als metaphysische Möglichkeit aufgehobenen Leids“ (269) und zugleich als „materialistische Begründung der Hoffnung“ (266) zu denken. Schärli betont diese materialistische Stoßrichtung der Argumentation Adornos nachdrücklich und darin besteht schließlich die Stärke des Beitrags.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Sommer (279–313), in dem dieser die These entfaltet, dass Adornos negative Dialektik „als Entfaltung des Programms einer kritischen Theorie und als Reflexion auf das Absolute“ (279) zu verstehen sei. Dabei rückt Adornos Urteilstheorie ins Zentrum der Untersuchung, die Sommer unter Rückgriff auf Emil Lask rekonstruiert. Die Reflexion auf die Urteilsform zeigt, dass im Geltungsanspruch eines jeden Urteils die Idee einer absoluten Wahrheit als Implikat enthalten ist, das Absolute also „ein notwendiger Begriff urteilenden Denkens und damit des Denkens als solchen ist“ (304). Weil das Urteil jedoch dieser Idee des Absoluten nicht gerecht werden kann, übersteigt das Denken sich selbst. Hegel hatte versucht „die Idee des Absoluten noch in den Gesamtzusammenhang identifizierenden Denkens ein[zu]holen“ (305). Dieser Anspruch jedoch, der die Vernünftigkeit des Wirklichen implizieren würde, scheitert Adorno zufolge an der Erfahrung sinnlosen Leidens in der Welt. Negative Dialektik beharrt deshalb auf der Nichtidentität von Denken und Sein und projiziert das Absolute „ins Jenseits des identifizierenden Denkens […]. Dies gelingt, indem das Absolute als bloße Erscheinung des wahrhaften, dem identifizierenden Denken entrückten Absoluten gedacht wird“ (310). Indem negative Dialektik auf das Absolute als ein Intelligibles und zugleich Nochnichtseiendes reflektiert, hält sie „an der Idee fest, die Horkheimer ursprünglich als Aufhebung der Klassenherrschaft gedacht hatte: an der Verwirklichung der Philosophie durch eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft“ (312). Als Phänomenologie des Absoluten ist sie „die konsequente Zuspitzung der von Horkheimer skizzierten kritischen Theorie“ (313).
III.
Adornos Festhalten am Begriff des Absoluten und damit die Weigerung, von der Beschäftigung mit den letzten Dingen abzulassen, verleiht den „Meditationen zur Metaphysik“ wohl ihren anachronistischen Charakter. Im Zeitalter der Nachmetaphysik mag diese Weigerung als Affront wahrgenommen werden – auch von denjenigen, die der Metaphysik noch nicht abgeschworen haben. Nicht ohne Grund grenzt Strawson seine deskriptive Metaphysik streng von einer revisionären ab, als deren Vertreter er Leibniz und damit einen der bedeutendsten Denker des Absoluten nennt (vgl. Strawson 2003: 9). Freilich ist zu fragen, ob Adornos „Meditationen zur Metaphysik“ auf unzeitgemäßen Annahmen beruhen. Als eine solche ließe sich sicherlich die Hypostasierung der kindlichen Glückserinnerung anführen (vgl. Adorno: 2003: 366). Diese dem bürgerlichen Denken des 19. Jahrhunderts entstammende Vorstellung kann als romantisches Erbe in Adornos Philosophie dechiffriert werden, aber kaum als Versicherung der Möglichkeit eines versöhnten Zustands dienen.
Dennoch gilt es (und hierzu leistet der vorliegende Sammelband einen wichtigen Beitrag), das in der Negativen Dialektik erreichte Problembewusstsein metaphysischen Denkens unter nachmetaphysischen Bedingungen ernst zu nehmen. Die stärksten Argumente für die Rettung der Metaphysik ergeben sich aus der Logik negativer Dialektik selbst. Weil es Adorno gelingt, das Absolute als notwendigen Begriff des Denkens herauszustellen, den das Denken selbst jedoch nicht einzuholen vermag, kann negative Dialektik als eine Theorie der Andersheit charakterisiert werden, die gegen Carnaps logischen Empirismus zeigt, dass Metaphysik aus reinem Denken möglich ist. Dabei eröffnen sich philosophische Fluchtlinien, die den solitären Status der Negativen Dialektik relativieren. Der zeitgleich mit Adorno in Frankfurt lehrende Philosoph Wolfgang Cramer hat eine Theorie der Andersheit entwickelt, die ebenso am Absoluten festhält. Die Gemeinsamkeit der Theorien – Hindrichs hat erstmals auf sie aufmerksam gemacht (vgl. Hindrichs 2019) – besteht darin, dass beide Absolutes und Andersheit denken, ohne das Andere spinozistisch oder hegelianisch in einer Alleinheit aufzulösen. Anders als Adornos negative Dialektik versucht Cramers Theorie das Andere jedoch nicht mittels einer Analyse der Urteilsform zu artikulieren, sondern vom Absoluten her zu denken, zu dem sich das Denken durch Reflexion auf einen Nichtgedanken hindenkt (vgl. Cramer 2019). Sie ist in einer spekulativen Ontologie fundiert. Freilich sind solche Unterschiede immer auch welche ums Ganze, und würde eine Untersuchung zur Konturierung der jeweiligen Konzeptionen beitragen, wäre schon viel gewonnen. Zuletzt trifft sich Cramer mit Adorno jedoch in der Einschätzung des eigenen Projekts: Eine Philosophie, die das Absolute zu denken versucht, „wird wahrscheinlich Widerspruch hervorrufen, zumal in einer Zeit, die so zeitbewußt ist, daß sie ängstlich bedacht ist, sich vom Unzeitgemäßen abzusetzen“ (Cramer 2019: 8).
Literatur
Adorno, Theodor W. Negative Dialektik. In Gesammelte Schriften Bd. 6, hg. von Hermann Schweppenhäuser, 8–409. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.
Adorno, Theodor W. Einführung in die Dialektik. In Nachgelassene Schriften IV Bd. 2, hg. von Christoph Ziermann. Berlin: Suhrkamp, 2010.
Adorno, Theodor W. Metaphysik. Begriff und Probleme. In Nachgelassene Schriften IV Bd. 14, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006.
Adorno, Theodor W./Scholem, Gershom. Briefwechsel 1939–1969. In Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel Bd. 8, hg. von Asaf Angermann. Berlin: Suhrkamp, 2015.
Carnap, Rudolf. „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache.“ In Erkenntnis 2 (1931/32), 219–241.
Cramer, Wolfgang. Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2019.
Habermas, Jürgen. „Motive nachmetaphysischen Denkens.“ In Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, 35–60. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992.
Hindrichs, Gunnar. „Letztbegründung als Theorie der Andersheit.“ In Wolfgang Cramer. Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff, 119–134. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2019.
Hogh, Philip. Kommunikation und Ausdruck. Sprachphilosophie nach Adorno. Velbrück: Weilerswist, 2015.
Schnädelbach, Herbert. „Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno.“ In Adorno-Konferenz 1983, hg. von Ludwig von Friedburg und Habermas, Jürgen, 66–93. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983.
Sommer, Marc Nicolas. Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel. Tübingen: Mohr Siebeck, 2016.
Strawson, Peter F. Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics. London/New York: Routledge, 2003.
Wellmer, Albrecht. „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität.“ In Adorno-Konferenz 1983, hg. von Ludwig von Friedburg und Habermas, Jürgen, 138–176. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983.
© 2021 Zeitschrift für philosophische Literatur, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE