Gebhardt, Mareike (Hg.): Staatskritik und Radikaldemokratie. Das Denken Jacques Rancières. Baden-Baden: Nomos 2020. 228 Seiten. [978-3-8487-5918-7]

Rezensiert von Martin Oppelt (Technische Universität München)

Mit Band 140 der Reihe Staatsverständnisse legt Mareike Gebhardt einen Sammelband zum Denken Jacques Rancières vor und unterzieht es einer Verortung zwischen post-fundamentalistischer Staatskritik und radikaler Demokratietheorie. „Verortung“ ist dabei – gerade mit Blick auf Rancières Verständnis von Politik und Wissenschaft – ein Begriff, der mit äußerster Vorsicht zu verwendenden ist und so zieht Gebhardt es vor, Rancière als zwischen den Polen des Post-Marxismus und der Neo-Phänomenologie oszillierend zu situieren (10).

Die wesentlichen Aspekte seines Denkens fasst sie dabei wie folgt zusammen: „Erstens, politisch handeln können nur die Vielen, indem sie Gemeinsames unter dem Anspruch einer radikalen Gleichheit hervorbringen. Zweitens, hegemoniale, dominante oder norm(alis)ierende – in seinen Worten: polizeiliche – Regime können nur durch dieses Gemeinsame herausgefordert werden. Drittens, durch diese Herausforderung, die auch eine Forderung nach Gleichheit sein muss, erschaffen die Vielen Demokratie. Und schließlich wird, viertens, die marxistische Idee einer intellektuellen Avantgarde als eine anti-demokratische Überlegenheitsfantasie demaskiert“ (9).

„Post-Marxist“ ist Rancière, weil er sich gegenüber Marx und dem Marxismus in einer „zuwendenden Distanzierung“ (10) bewege. Als Neo-Phänomenologe hingegen fasse er Politik als Erscheinungsraum der Gleichen, Freien und Vielen, deren kollektives Handeln als „Politik“ im Sinne der Unterbrechung macht- und gewaltdurchtränkter Ordnungen, in Rancières Worten der „Polizei“, zu verstehen ist (10). Als Denker des „Postfundamentalismus“ lehne er dabei die Vorstellung letztgültiger Begründungen und Grundlagen des Sozialen ab.

In Abgrenzung zu den politischen Theorien Hannah Arendts, Chantal Mouffes und Isabell Loreys (15–18) stellt Gebhardt Rancière sodann als einen Denker des Dissenses, der Gleichheit und der insurrektionistischen Demokratie vor, für den das „radikale Nein“ (11) die gemeinsame Losung aller emanzipatorischen Kämpfe ist, die sich identitätspolitischen Festschreibungen sozialer und politischer Akteur*innen, Institutionen und Strategien seitens der Polizei im konkreten Handeln selbst entziehen.

So gewinnt die Herausgeberin* Rancières Methode der Uneindeutigkeit und Beunruhigung als Leitmotiv des Sammelbandes, dem sich elf Beiträge in drei Sektionen widmen.

I. Politik – Demokratie – Polizei. Begriffliche Aushandlungen

Der erste Teil nähert sich Rancière über die Rekonstruktion der Entwicklung zentraler Konzepte und Begrifflichkeiten. Lucas Sagnotti und Thomas Linpinsel heben jeweils die Bedeutung der Abkehr von Althusser hervor. Zu Beginn seiner Karriere habe Rancière laut Sagnotti noch dessen Vorstellung eines wissenschaftlichen Marxismus geteilt, der sich von jeder Praxis lossagen müsse, um die ideologiegetränkten Verhältnisse effizient unterwandern zu können. Mit der Erfahrung des Mai 1968 habe Rancière jedoch – in Abkehr von der elitistischen Vorstellung einer wissenschaftlichen Avantgarde – sein Begriffspaar von Politik und Polizei entwickelt. Mit letzterem habe er die Fixierung auf den Staat und dessen ideologische Apparate durch eine Analyse der Funktionsweisen von Herrschaft ersetzt, und zwar unter Rückgriff auf Foucault. So sei er zur Vorstellung von Gemeinschaft gekommen, welche über die „Aufteilung des Sinnlichen“ Identitäten zuteilt und zugleich Nicht-Zugehörige ausschließt und die dann durch „Politik“ verstanden als die Einforderung der Gleichheit durch die ausgeschlossenen „Anteilslosen“ in ebenjener Auf- und Zuteilung gestört wird (38). Mit diesem begrifflichen Instrumentarium könne Rancière jedoch nicht konkretisieren, wie die in der Praxis meist staatlichen Strukturen und Mechanismen die Aufteilung des Sinnlichen vollzögen und sich entsprechend verändern ließen.

Analog dazu hebt Linpinsel hervor, dass Rancierè keine klassische Demokratietheorie, sondern eine „demokratische Praxis im Schreiben selbst“ (47) entwickelt habe. Institutionen hätten ihn nicht interessiert, weil er in Abkehr von Althussers Konzept des „Klassenkampfes in der Theorie“ einen „interventionistischen Begriffsapparat“ erarbeitet habe, durch den er demokratisch schreibend interveniere. Da die Aufgabe der Theorie nicht länger darin bestanden habe, politischen Akteur*innen ihre Identität und historische Bedeutung bewusst zu machen und Identitäten zum Kampfplatz der Politik selbst wurden, habe er das Verhältnis von revolutionärer Theorie und Praxis performativ, im Schreiben selbst, umgekehrt. Einer politischen Philosophie, die sich Rancières „Methode der Gleichheit“ (54) verpflichte, komme damit die Rolle der Zeugenschaft und der Hilfestellung bei der Artikulation von konkreten Erfahrungen zu, in der Akteur*innen sich schreibend und sprechend als Gleiche und damit als „Vollstrecker einer Desidentifikation“ (60) in Szene setzten.

Nicht über die Althusserschen Erbstreitigkeiten, sondern über den Anarchismus nähert sich Anna-Terese Steffner de Marco Rancières zentralen Begrifflichkeiten an. Sie fokussiert auf die Trias von Politik, Demokratie und Anarchie und hebt letztere als „Spezifikum“ von Rancières „anarchischer Radikaldemokratie“ hervor. Und zwar insofern sie Demokratie überhaupt erst zum Leben erwecke und diese dann die Politik als radikalen Einsatz der Gleichheit gegen die polizeiliche Ordnung ermögliche. Damit sei Rancières Denken anarchisch im Sinne von anti-staatlich, ohne anarchistisch auf die Überwindung von Staatlichkeit zu zielen. Dies veranschaulicht Steffner de Marco anhand der Rekonstruktion von Rancières Arendt-Lektüren und seiner Rezeption von Arendts Platon-Lektüre. Mit dem Losverfahren als „Geburtsstunde der Demokratie in Athen“ (73) sei der Zufall als Garant der Grundlosigkeit jeder Herrschaft in das demokratische Denken eingedrungen. Der damit verbundene „paradoxe Herrschaftstitel der Nicht-Herrschaft“ der Beliebigen (74) diene Rancière dazu, im Anschluss an den antiken Anarchie-Begriff jede Herrschaft als illegitim zu kritisieren, ohne Herrschaft als überwindbar zu behaupten. Damit könne er im Unterschied zum Anarchismus am anarchischen Prinzip der Demokratie festhalten, ohne eine herrschaftsfreie Gesellschaft als möglich oder wünschenswert ausweisen zu müssen.

II. Im dissensuellen Zwischenraum des Politischen

Teil zwei schärft Rancières zentrale Begrifflichkeiten, indem diese in Beziehung zu verwandten Denker*innen gesetzt werden. So schließt Kenneth Rösen Rancières Konzeption der Gleichheit mit Walter Benjamins Arbeiten zum Messianismus kurz, um trotz des Wissens um ihr notwendiges Scheitern eine „Hoffnung auf Gleichheit“ mit einer „Kritik der Ordnung“ (87) zu verbinden. Rancières Gleichheit fasst er mit Christoph Menke als „tragische Figur“ (90), die im Kampf gegen die polizeiliche Ordnung in actu eingefordert und im Moment ihres Erfolges notwendig in eine neue polizeiliche Ordnung der Ungleichheit überführt wird (91). Wie Benjamins Vorstellung des Messianischen stünde auch Rancières Gleichheit dabei außerhalb einer Ordnung, auf die sie zu ihrer Realisierung angewiesen sei. Beide würden sich jedoch insofern unterscheiden, als Rancières Gleichheit (mit Menke) jede Ordnung als „Formloses“ konfrontiere, wohingegen das „Messianische“ Benjamins (mit Agamben) die „Annullierung aller Ordnungen“ bedeute (96). Wo das Messianische Erlösung andeute, sei es mit Rancière lediglich der „kurze Moment, in dem sich Gleichheit realisiert, […] in der das Messianische potenziell erscheinen könnte“ (97). Damit böte Rancière eine wenigstens flüchtige formale Bestimmung der Gleichheit (97), die als politische Intervention jedoch Versprechen und „unendliche Aufgabe“ (98) bleibe, also niemals realisiert werden könne.

Wo Rösen nach dem Wie politischen Handelns fragt, widmet sich Anastasiya Kasko dem Wer der politischen Subjekte. Hierfür bringt sie Rancière gegen dessen Kritik mit dem Denken Hannah Arendts zusammen. Kasko stellt die Gemeinsamkeit über das geteilte phänomenologische Erbe her und zieht mit Arendts Machttheorie den Rahmen auf, innerhalb dessen sie „realhistorisch“ und „kontextsensibel“ einen „inklusiven und nicht-essentialistischen Begriff politischer Subjektivität“ entwickelt, wo es „zurzeit keinen normativ vertretbaren Begriff des demos [gibt], der einer kontemporären pluralen und handlungsorientierten politischen Landschaft adäquat entsprechen würde“ (106). Wo Subjektivierung mit Rancière dann als Ent-Identifizierung von polizeilichen Zuschreibungen und Subjektivität mit Arendt als eine von vielen gleichzeitig möglichen, jedoch je unterschiedlich stark durchschlagenden Wahrnehmungen des Selbst (als weiblich*, migrantisch, proletarisch usw.) zu verstehen sei, bekommt Kasko politische Subjekte als „die zu einem gegebenen Zeitpunkt un- oder auch mittelbar von Unrecht Betroffenen“ (108) in den Blick. Es sind die Anteilslosen, die konkretes Unrecht erfahren, dadurch zum Handeln motiviert werden (101) und dann im Prozess der kollektiven Ent-Identifizierung von der polizeilichen Ordnung Pluralität erleben. Weder nach Arendt noch nach Rancière lässt dabei jedoch eine normativ „gelungene“ Neuaufteilung des Sinnlichen bestimmen oder garantieren, geschweige denn politisches Handeln institutionalisiert auf Dauer stellen.

Johannes Haaf diskutiert im Anschluss den bei Rancière „undurchsichtig“ und in der Literatur oft unterkomplex bleibenden Begriff der Polizei und vergleicht diesen, einen expliziten Hinweis Rancières aufgreifend, mit Foucaults Arbeiten zur Regierungstechnik der Polizei, um so Rancières Politikbegriff zu problematisieren. Wo Polizei bei Rancière als ein Begriff politischer Ontologie fungiere, bezeichne Foucault mit diesem historisch verortbare und genealogisch rekonstruierbare Regierungspraktiken. Diese hätten jedoch die Kontingenz am und „als Grund des Sozialen“ nicht etwa stillgestellt oder verdeckt, sondern nach Foucault sogar selber eingerichtet (128), um als Regierungspraxis dann dadurch Einfluss nehmen zu können, dass sie die Unbestimmtheit des Sozialen, die natürliche Freiheit und eine als nicht-notwendig ausgewiesene plurale Gesellschaft bewahren. Die Kontingenzaffirmation und -instrumentalisierung liberaler Regierungspraktiken bringt Rancières Vorstellung von Politik dann notwendig in Schwierigkeiten, insofern jede Inszenierung von Kontingenz gegen die polizeiliche Ordnung somit ins Leere laufen muss. Haaf sieht einen möglichen Ausweg Rancières aus diesem Dilemma darin, die Kontingenz auch der liberalen Regierungspraktiken hervorzuheben, um sich so gegen Foucaults „Einwand historischer Reflexion zu immunisieren“ (130).

Marvin Dreiwes geht einen entgegengesetzten Weg und arbeitet trotz Rancières expliziter Distanzierung von Lyotard Strukturanalogien des „Unvernehmens“ (mésentente) und des „Widerstreits“ (différend) heraus (133). Diese Möglichkeit sieht Dreiwes in den „Motive[n] des Dissenses und der Unabschließbarkeit jeder Politik“ (144) gegeben. Für beide Denker sei Sprache zudem hoch politisch, weil mit ihr um den „Eintritt in den öffentlichen Diskurs und die Artikulationsfähigkeit einer Subjektposition gerungen wird“ (144). Für Rancière sei letztere jedoch immer das Ergebnis von Herrschaftsverhältnissen (145) und damit der Politik prinzipiell verfügbar, wohingegen Lyotard in Frage stelle, ob das, worüber nicht gesprochen werden kann, wirklich „bloß […] gesellschaftlich unterdrückte Rede“ (146) sei oder aber prinzipiell „nicht vollständig artikuliert werden kann“ (146). Traumatisierenden Erfahrungen etwa könne nach Lyotard nicht allein mit der „Forderung nach politischer Teilhabe oder Rechtsgarantien“ begegnet werden. Vielmehr müsse das Schweigen angesichts nicht zu versprachlichender Erfahrungen mitunter ausgehalten, oder aber dem Anspruch der Betroffenen entsprochen werden, diese Erfahrungen in „neue Formen zu übersetzen“ (146), was „eine Art prädiskursives Gefühl“ (146–147) erfordere. Während für Lyotard die „Ränder der Sprache“ nicht allein Ergebnis einer spezifischen Aufteilung des Sinnlichen seien, bedeute dieser „ethische Zug der Sprache selbst“ (147) für Rancière eine „Neutralisierung des Politischen“ (147). Statt Alterität wie Lyotard in ein „ethisches Außen jenseits der Politik“ zu verschieben, würde Rancière auf die „restlose Politisierung der Sprache im Unvernehmen“ (148) und damit die prinzipielle Möglichkeit der gleichen Teilhabe aller Anderen bestehen, die bei Lyotard als unmöglich aufscheine. Politische Subjektivierung sei bei Rancière damit als „dissensuelle Egalität“ und treibende Kraft niemals abzuschließender Demokratisierung zu verstehen, wohingegen Lyotards Widerstreit als „dissensuelle Alterität“ auf einen nie zu versprachlichenden Überschuss und eine „ethische Unverfügbarkeit“ verweise, die Rancière nicht in den Blick bekomme (149).

Matthias Flatscher und Sergej Seitz widmen sich der (radikal)demokratischen Bürger*innenschaft. Dafür bringen sie Habermas „kosmopolitische Bürger*in“ mit Rancières „Plebejer*in“ in einen Dialog. Weil erstere „einseitig am juridischen Paradigma“ ausgerichtet sei und Habermas Freiheit und Gleichheit entsprechend als Voraussetzung und weniger als Ziel gemeinsamer Politik begreife, würden die Sichtbarmachung von Exklusionsmechanismen und die Eröffnung emanzipatorischer Alternativen nicht gelingen (154). Rancières Figur der Plebejer*in hingegen würde Freiheit und Gleichheit im dissensuellen Miteinander politisch hervorbringen und zugleich den nationalstaatlichen Rahmen sowohl in Richtung supranationaler und kosmopolitischer, als auch minimaler, etwa munizipaler, Kontexte überschreiten (155). Plebejer*innen seien dabei alle von der polizeilichen Ordnung zur Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit Verdammten, die sich im Namen der von der (bürgerlichen) Ordnung vorausgesetzten Gleichheit in diese einschreiben und sie dadurch verändern (164), also alle emanzipatorischen Bewegungen, die „im Namen der Gleichheit die tradierte Aufteilung des Sinnlichen in Frage stellen“. Diese Subjektivierungsform einer „radikalen Ent-Identifizierung“ (165) würden in gewisser Weise sowohl die kosmopolitische Bürger*in als auch die Plebejer*in vornehmen: Erstere von der exklusiven Mitgliedschaft einer national verfassten politischen Gemeinschaft, letztere von der Rolle der Anteillosen (168). Jedoch schreibe die Plebejer*in der etablierten Ordnung einen „Moment der Andersheit“ ein, welche die Bürger*in als unverfügbar begreifen müsse (168). Dennoch sei die Plebejer*in nicht Ersatz für die Bürger*in, schließlich habe die revolutionäre Bürger*in die Ideale der Freiheit und Gleichheit überhaupt erst erkämpft, die dann durch die „Plebejer*in in der Bürger*in“ (169) stets entnauralisiert, reaktualisiert und repolitisiert werden müssten.

III. Den Anteil der Anteillosen ernst nehmen: Mit Rancière über Rancière hinaus

Der dritte Teil prüft Rancières Werk kritisch auf seine eigenen Ansprüche. Christian Leonhardt und Carolin Zieringer entwickeln eine queer-feministische Lesart von Rancières Theorie politischer Subjektivierung, die auf den Körper als Ort von „Verstrickungen“ ambivalenter Identifizierungen in Beziehung zu anderen Körpern fokussiert. Die Ambivalenz bestehe darin, dass jede Ent-Identifizierung eine polizeiliche Identität voraussetze, das politische Subjekt im Moment des Bruchs jedoch notwendig wieder in polizeiliche Identitäten verstrickt werde. Dies führe zu einer „ironische[n] Gleichzeitigkeit von Ordnung und Unordnung“ (173–174), insofern das Subjekt „nur mit bestimmten Identitäten [breche] – gerade unter der Voraussetzung, dass andere davon unberührt bleiben“ (173).

Unter Rückgriff auf Sara Ahmed, Judith Butler und Audre Lorde konstatieren Leonhardt und Zieringer, dass Rancière diesen Ambivalenzen zu wenig Beachtung schenke, insofern er Körper „funktional“ als „von Subjekten bewegte, uneigenständige Materialsammlungen“ (174) fasse, statt sie in ihrer Sinnlichkeit zu thematisieren. Dagegen denken die Verfasser*innen Identität als „Identitätsweisen von Verkörperung“ in Beziehungen zu anderen Körpern (175). Da „[w]as wir sehen, tun, fühlen, was wir sind, […] immer schon diskursiv vermittelt und materiell in der Beziehung unserer Körper zur Welt sedimentiert“ (181) sei, würden Polizei und Politik notwendig immer „unter die Haut“ gehen. Mit Ahmed formen also Emotionen und Affekte in der körperlichen Begegnung mit anderen unsere Grenzen und können diese zugleich aufheben und verändern (181). Da jede Identität in ihrer konkreten „Fleischlichkeit“ auf Beziehungen zu anderen Körpern angewiesen sei, würde totale Durchdringung verunmöglicht (182). Erst unsere körperlichen und verkörperten Verstrickungen mit anderen Identitätspositionen ermöglichen also alternative Beziehungsweisen (184). Für die Politische Theoretiker*in, wegen ihrer Verstrickung mit der Polizei letztlich selbst eine „kleine Aufteilungsmaschine“ (184), empfehle sich entsprechend eine „selbst-ironische Haltung“ im Sinne des Einlassens auf ein Gestörtwerden durch andere Körper und mitunter auch die Aufgabe von Souveränität.

Niklas Plätzer nimmt die sozio-historische Bedingtheit von Rancières Politikverständnisses kritisch in den Blick, die dieser selber übersehe. Sein Gleichheitsverständnis rufe einen „Universalismus der Zwischenräume“ (193–194) auf, dessen provinziell-partikulare Herkunft aus einer spezifisch französisch-republikanischen Tradition Rancière weder willens noch in der Lage ist zu erkennen oder anzuerkennen. Aus einer postkolonialen Perspektive zeigt Plätzer am Beispiel von „La cause de l ´autre“ (Das Anliegen der Anderen), inwiefern Rancière spezifische Leid- und Emanzipationserfahrungen unter einer philosophisch zwar als nicht letztbegründbar eingeführten, politisch jedoch als universell gültig gesetzten abstrakten Gleichheit begräbt. Damit reduziere Rancière eine Vielzahl an Des-Identifikations-Diskursen auf einen einzigen Diskurs einer „universellen Gleichheit“ und rücke seinen Politikbegriff damit „in die Nähe eines differenzblinden Universalismus à la française“ (200). Statt konkrete situierte Erfahrungen als Grundlage singulärer emanzipatorischer Akte anzuerkennen, suche sich Rancière dabei gezielt diejenigen Beispiele heraus, die er plausibel als Ausdruck einer solchen Gleichheitsforderung interpretieren kann, wohingegen er Aufstände wie die in den Pariser Banlieues 2005 als unpolitisch, weil identitär verurteile. Die von Rancière vorgenommene universalistische Gleichsetzung von Des-Identifikation und Politik verfällt sodann selber in eine polizeiliche Logik (205), wenn er darunter zwar „Identifizierung mit Anonymität“, nicht aber mit einem „Anders-Selbst-Sein“ akzeptiert (202). Besser sei es daher, mit Spivak und Fanon die Konfrontation mit Selbst-Affirmationen von Nicht-Weißen als Bedingung eines dialektischen Abstand-Nehmens von einer als weiß konstruierten Identität anzuerkennen (203), um dadurch Praktiken der Solidarität in der Postkolonie analysieren und diesen in ihren Einzigartigkeiten auch wirklich gerecht werden zu können.

Abschließend bringt Alexander Kurunczi Rancière in einen „dissonanten Dialog“ (209) mit anarchistischen Theoremen, um „rancièrschen Kadenzen“ (210) in gegenwärtigen sozialen Bewegungen nachzuspüren. So kann er deren kontestatorische Praktiken als Kritik an der neoliberalen Zurichtung der Demokratie herausstellen und den Behauptungen der Wirkungslosigkeit anarchistischer sozialer Bewegungen entgegensetzen. Zugleich weist er Rancière über den Begriff der Utopie eine gewisse Affinität zum Anarchismus nach, wo dessen Politik ja Polizei und damit Herrschaft eigentlich voraussetze. Wenn man mit Rancière Herrschaft als prinzipiell überwindbar betrachten und über die Möglichkeit einer nicht-polizeilichen Zukunft nachdenken möchte (217), dürfe man Anarchismus dann nicht als reine Lehre missverstehen, sondern müsse diesen als „Horizont in einer unreinen Welt, charakterisiert von Politik wie Polizei“ (217) und als „Vielzahl freiheitsstrebender Begehren“ (218) begreifen. Entsprechend dürfe man von und mit Rancière keine „Blaupauseutopie“ (218) erwarten, die selber Polizei würde. Vielmehr müssten die zu schaffenden Verhältnisse in den sozialen Bewegungen selbst praktisch entwickelt, erprobt und vorweggenommen werden. Somit seien es Prozesse der „Anarchisierung“, in denen Theorie und Praxis, von „Zerschlagen und Erneuern“ (221) dialektisch zusammenfänden und die Verbindung des Denkens Rancières mit anarchistischen Praktiken ermöglichten.

Fazit

Der Band bietet Einsteiger*innen einen hervorragenden Überblick über die zentralen Begrifflichkeiten und Theoreme Jacques Rancières. Darüber hinaus empfiehlt er sich trotz der in der Gesamtschau mitunter redundanten, wenngleich im Rahmen eines Sammelbandes wohl kaum zu verhindernden, Rekonstruktionen der politischen Theorie Rancières in den einzelnen Beiträgen für ideengeschichtlich wie systematisch vertiefende Beschäftigungen und Überträge von Rancières unruhigem und beunruhigendem Werk auf aktuelle Debatten der politischen Theorie und Praxis. Wo sich progressive Debatten gegenwärtig in einer harten Frontstellung zwischen „Identitätspolitik“ und „Klassenkampf“ festfahren und aufreiben, zeigen die Beiträge anschaulich und kompetent, inwiefern sich ein Denken des Politischen solchen Einseitigkeiten entziehen muss, um notwendig jede Politik immer schon als einen Kampf auch um Identitäten vor allen und gegen alle Zuschreibungen begreifen und gestalten zu können.

Dies eröffnet sodann eine Perspektive auf „die Demokratie“, die weder in der Verteidigung des Bestehenden aufgehen, noch sich in der Hoffnung auf ein konkret zu schaffendes Zukünftiges auflösen kann und darf. Weder kann mit Rancière also das Ideal einer wie auch immer gefassten spezifischen Form demokratischer Politik vorausgesetzt werden, noch lassen sich konkrete Formen, Akteur*innen und Strategien als deren Erfolgsbedingungen identifizieren und apriori auszeichnen. Vielmehr, das lässt sich als zentrale Leseerkenntnis festhalten, gilt es gerade im Rahmen emanzipatorischer Theorie und Praxis mit, gegen und über Rancière hinaus auf begrifflicher, systematischer und praktischer Ebene das komplexe und dialektische Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, Freiheit und Unfreiheit, Privilegierung und Ausschluss anzuerkennen und weiterzudenken. Dies bedeutet dann aber vor allem die grundsätzliche Bereitschaft, sich in den eigenen Überzeugungen verunsichern und provozieren zu lassen, um sich gegenüber Erfahrungen öffnen zu können, die nicht die eigenen sind und sein können, es aber eben auch nicht notwendig sein müssen. Zu dieser Beunruhigung und Irritation als Bedingung emanzipatorischer und demokratischer Kämpfe lädt der Band ein und bietet dabei Inspiration und Anschlussmöglichkeiten für politische wie theoretische Allianzen, die ein zu starkes Festhalten am status quo auch im progressiven Lager gegenwärtig noch verhindert.

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