Liza Mattutat, Roberto Nigro, Nadine Schiel und Heiko Stubenrauch (Hg.): What’s Legit? Critiques of Law and Strategies of Rights. Zürich: Diaphanes 2020. 297 Seiten. [978-3-0358-0243-6]

Rezensiert von Imke Rickert

Einen Sammelband herauszugeben und dabei nicht Beliebiges aufzusammeln und in eine Reihe zu stellen, sondern Beiträge miteinander ins Gespräch kommen zu lassen, ist eine besondere Herausforderung. Den Herausgeber:innen Liza Mattutat, Roberto Nigro, Nadine Schiel und Heiko Stubenrauch von What’s Legit? Critiques of Law and Strategies of Rights ist es gelungen, die zwölf verschiedenen Rechtskritiken des Bandes, der im Rahmen der Tagung „Kritische Haltungen“ des DFG Graduiertenkollegs „Kulturen der Kritik“ an der Leuphana Universität Lüneburg entstanden ist, in einen produktiven Austausch treten zu lassen. Die Diversität der methodischen Herangehensweise und der theoretischen Fundierung der Beiträge illustrieren die Möglichkeiten von Rechtskritik. Sie zeigen auch, dass Rechtskritik mitnichten auf ein bloßes Erkenntnisinteresse hinsichtlich der normativen Funktionsweise oder ideologischen Einschreibungen von Recht reduziert werden kann, sondern selbst einen Begriff des Rechts gestaltet.

Zunächst stelle ich die dem Buch zugrundeliegende Struktur vor, die ich mit der überblicksartigen Präsentation der zwölf Beiträge verbinde (I). In einem zweiten Schritt zeichne ich die Auseinandersetzung einiger beispielhaft ausgewählter Beiträge mit ästhetischen bzw. politischen Formen der Rechtskritik nach und schließe hier einige Überlegungen zum Gelingen der jeweiligen Kritikstrategie an (II).

I.

Rechtskritiken variieren, so stellen die Herausgeber:innen in der Einleitung fest, grundlegend in ihrem Objekt und ihrer Funktionalität. Entweder ist das Material, der Inhalt des Rechts, oder die Form des Rechts, Gegenstand der Kritik, und je nach dem verändert sich die Zielrichtung der theoretischen Auseinandersetzung. Steht bei der einen die Reformulierung, Erweiterung und Veränderung einzelner Rechte im Fokus, so zielt die andere auf die Dekonstruktion, Transformation oder Überwindung des bürgerlichen Rechts als Form ab. Die zentrale Frage, die sich die Herausgeber:innen von What’s Legit? selbst und den Autor:innen stellen, ist dabei: „Which kind of critical practice and standpoint will emerge from which kind of theoretical model of law – and why?“ (8)

Aus den dazugehörigen Antworten ergibt sich die Unterteilung des Bandes in fünf Abschnitte, in denen jeweils zwei bis drei Aufsätze hinsichtlich ihrer methodischen Strategien und theoretischen Prämissen zusammengeführt werden: inventing rights, fighting for rights, overcoming law, deconstructing law und transforming law. In der Einleitung stellen die Herausgeber:innen die theoretischen Grundlagen der einzelnen Abschnitte vor.

Das erste Kapitel unter dem Titel inventing rights schließt an Gilles Deleuzes und Félix Guattaris gemeinsam geschriebenes Buch Was ist Philosophie? an. Deleuze und Guattari begreifen darin, so die Herausgeber:innen, die Philosophie nicht (nur) als Instrument der Reflexion oder Strukturierung von bereits Gegebenen, als begriffliche Reproduktion von Erfahrungen und Existenzweisen, sondern als Gestaltung eben dieser. Philosophie könne demnach nicht darauf beschränkt werden, in einer sich verändernden Welt Ewiges oder Universelles in Begriffen festzuschreiben. In der Festschreibung würde der philosophische Begriff zum Mittel von Herrschaft, Ordnung und Kontrolle (10).

Analog müsse auch das Recht als eine Ordnung verstanden werden, die nicht bloß individuelle Erfahrungen subsumiert und das Daseiende verrechtlicht, sondern selbst subjektives Erfahren produziert und Realität als Lebensweisen erzeugt. Ein philosophisches, rechtskritisches Verfahren ist demnach immer auch die kreativ-schöpferische Auseinandersetzung mit und die (Neu)Gestaltung von Recht (10). Deleuze und Guattari resümieren programmatisch:

Uns fehlt nicht Kommunikation, im Gegenteil: wir haben zu viel davon, uns fehlt Schöpferisches. Uns fehlt es an Widerstand gegenüber der Gegenwart. Die Schöpfung von Begriffen verweist in sich selbst auf eine zukünftige Form […]. (Deleuze/Guattari 1996: 126)

Mit diesem Programm liefert Laurent des Sutter im ersten Beitrag des Bandes „Against Law: The 1960s Anti-Juridical Movement in France“ eine ideengeschichtliche Darstellung poststrukturalistischer Denkbewegungen und Rechtskritiken der 1960er Jahre in Frankreich. Er stellt biographische und intellektuelle Zusammenhänge zwischen einzelnen Theoretiker:innen her und verschafft damit den Lesenden einen Überblick über die zentralen Konfliktlinien eines scheinbar homogenen, avantgardistischen Diskurses, der sich die Frage nach der Wahrheit (von Recht), seinen sozial- und geschichtsphilosophischen, sowie ontologischen Bedingungen zum Kernanliegen macht (23–46).

Im Anschluss an die von De Sutter vorbereitete dekonstruktivistische Rechtskritik stellt Susanne Krasmann in ihrem Aufsatz „On Thinking and Feeling: The Law of Cultural Heritage“ die Frage nach dem Begriff der Rechtssubjektivität und diskutiert aus der Perspektive eines posthumanistischen Rechtsverständnisses die Möglichkeit, Kulturgütern eine eigenständige Rechtssubjektivität zu verleihen (47–62).

Fares Chalabi schreibt in seinem Essay „Intensive Listening: Unfolding the Notion of Justice Through Reading the Work of Lawrence Abu Hamdan“ über die Bedingungen der Partizipation des Subjekts im Recht durch Techniken des Hörens, oder eher: Zuhörens, des Rechts. Hierfür positioniert Chalabi die Arbeiten des Künstlers Lawrence Abu Hamdan im rechtstheoretischen Diskurs (63–94).

Den zweiten Abschnitt des Bandes, fighting for rights, bestimmen die Herausgeber:innen mit einer Denkfigur Jacques Rancières, wonach der Kampf um und für Rechte ein politischer Prozess der kollektiven Denaturalisierung, Neubestimmung und Veränderung des Ortes ist, der einem Körper zugewiesen wird (11). Die politische Tätigkeit „lässt sehen, was keinen Ort hatte, gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde“ (Rancière 2002: 41). Als politische Subjektivierung transformiert sie den Erfahrungsrahmen eines Gemeinwesens, in dem sich das politische Subjekt konstituiert, in ein demokratisches Gemeinwesen, das noch nicht ist (11). Der Kampf um Rechte ist demnach Rekonfigurierung von Bestehendem, „Neuordnung des Erfahrungsfeldes“ (Rancière 2002: 47). Politische Subjektivierung ist für Rancière nicht allein politische Bewusstwerdung der Position, die die Geschichte dem Subjekt zuweist, sondern „Gestaltung der gegebenen Erfahrung“ (Rancière 2002: 52), die das Anwesende mit dem Abwesenden zugleich verknotet und auflöst.

Die Herausgeber:innen heben hervor, dass es darauf ankomme, das Recht nicht unmittelbar im Zusammenhang mit Souveränität oder dem Staat zu denken, sondern Recht als eines zu verstehen, dass außerhalb von Institutionen in intersubjektiven Aushandlungen geformt wird: „Jurisprudence must not be confused with normativity.“ (13) Im Abschnitt fighting for rights beschäftigen sich zwei Artikel mit dieser Institutionalisierung von Recht:

Alisa Del Re begegnet in ihrem Essay „Women in Europe: A Variable Geometry Citizenship“ dem Rechtsinstitut der Europäischen Unionsbürgerschaft mit einem feministisch-materialistischen Begriff der Arbeit und stellt damit den mangelnden Zugang für reproduktiv-arbeitende Personen, insbesondere Frauen*, zu den aus der Unionsbürgerschaft erwachsenden Freizügigkeitsrechten heraus (97–110).

Paolo Napoli analysiert in seinem Aufsatz „Instituting Revisited: For a Materialistic Conception of the Institution“ die historisch-materialistischen Bedingungen des Institutionsbegriffs. Institution sei demzufolge kein überhistorischer Ort kollektiver Bewusstseinsformation, sondern das Resultat von (politischen) Auseinandersetzungen, wodurch die Grenzen des Rechts fluide werden (111–127).

Der dritte Abschnitt, overcoming law, hebt sich dadurch von den ersten beiden Kapiteln ab, dass die in ihm versammelte Rechtskritik sich umfänglich von einer bestehenden Ordnung verabschieden will und Recht jenseits des Seienden zu denken versucht (13). Die Herausgeber:innen beziehen sich hierbei auf Walter Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt, in dem Benjamin die dem Recht zugrundeliegende Unterscheidung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt einführt, um die dialektische Bewegung des Gewaltverhältnisses im Recht mit seinem Außen lesbar zu machen (Benjamin 1991).

Daniel Loick kritisiert in seinem Essay „…as if it were a thing: A Feminist Critique of Consent“ die Juridifizierung von Sexualität und Begehren durch das Prinzip des Konsenses, das eine geschlechter-gleichberechtigte und vor allem einvernehmliche Ausübung sexueller Praktiken ermöglichen soll, um patriarchalen Gewaltverhältnissen strukturell begegnen zu können. Dies muss Loick nach scheitern, weil die Vertragsförmigkeit bestehende Ungleichheiten fortschreibe (131–155).

In ihrem Beitrag „Rethinking the Law: Taking Clues from Ubuntu Philosophy“ untersucht Franziska Dübgen das Konzept „transformative justice“ unter Rückgriff auf die Ubuntu-Philosophie. Sie analysiert, wie uns intersubjektive Praktiken der Rechtsausübung in der Ubuntu-Philosophie eine Perspektive eröffnen, in der Recht nicht mehr von seiner Historizität gelöst, als kodifizierte Struktur eigener Gesetzlichkeit gedacht wird, sondern gesellschaftliche, politische, ökonomische und ästhetische Fragen unmittelbar Teil der Rechtspraxis werden (157–175).

Deconstructing law ist der Titel des vierten Teils, dem die Herausgeber:innen Derridas Lektüre von Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt in Gesetzeskraft zugrunde legen (16). Für Derrida muss, verfolgt man rechtspositivistisch die Normenhierarchie des Rechts, am Anfang des Rechts ein Rechtssetzungsakt stehen, der nicht mehr rechtlich legitimierbar, sondern reiner Gewaltakt ist. Dieser Mangel wird in jedem Vollzugs- und Anwendungsakt des Rechts wiederholt, erneuert, umgesetzt und bestätigt. Die Unmöglichkeit eines legitimen Rechtsgrundes muss uns immer wieder die Erschütterbarkeit des Rechts, aber auch seine Verstrickung als ursprüngliches Gewaltverhältnis vor Augen führen (Derrida 1991: 98).

Eingedenk dieses ursprünglichen Gewaltverhältnisses des Rechts aktualisiert Peter Goodrich in „Spectres of Critique. Hauntology and the Ghosts of Law“ die dekonstruktivistisch verfahrende Rechtskritik in Hinblick auf Medien der Visualität und Körperlichkeit. Phantasmagorische Formen haben in ihrer gespenstischen Anwesenheit, so Goodrich, das Potential, das Abwesende und damit die raum-zeitliche Situiertheit des Rechts und seiner Kritiker:innen sichtbar zu machen (179–196).

Manuela Klaut schaut sich in ihrem Text „On the Run from the Law. Alexander Kluge’s Yesterday Girl as Cinematic Institution of Subsumtion“ Kluges Film Abschied von gestern (1966) an. Klaut beschreibt, wie im Medium des Films Rechtskritik performativ umgesetzt und formal radikalisiert werden kann. Im Film zeigen sich die Grenzen ästhetischer und rechtlicher Repräsentation (197–215).

Im letzten Abschnitt des Bandes, transforming law, werden rechtskritische Ansätze zusammengeführt, die in Anschluss an Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung eine Kritik der Kontamination des Rechts in der warenproduzierenden Gesellschaft und seines Gleichheitsmythos im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung suchen, eine emanzipierte Gesellschaft jedoch nicht ohne Recht denken wollen (18). Radikal transformiert werden müsse das Recht, um sein Laster bürgerlicher Ideologie loszuwerden. Dies könne nicht innerhalb der liberalen Rechtslogik erfolgen, jedenfalls nicht, indem Rechte erweitert oder einer bestehenden Rechtsordnung neu hinzugefügt werden.

Nach Christoph Menke kann eine radikale Veränderung nur dann erfolgen, wenn das Recht eine andere Form erhält, die Form der „Gegenrechte“. So schreibt er in seinem Beitrag „Genealogy, Paradox, Transformation: Basic Elements of a Critique of Rights“, dass die Naturalisierung des Sozialen durch die Form des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft allein durch eine Neukonstituierung, eine Denaturalisierung des Nicht-Rechts im Recht vollzogen werden könne (219–244).

Benno Zabel befragt in seinem Aufsatz: „The Anarchy of Rights: On the Dialectic of Freedom and Authority“ die Idee der Gegenrechte kritisch nach ihrem Transformationspotential und zweifelt, ob ästhetische Erfahrungen in den Bereich des Rechts derart übertragen werden können, dass sie ein Modell für Gegenrechte bieten können, oder ob sie nicht auf eine Fiktion des Politischen hinauslaufen müssen (245–261).

In „Deforming Rights: Arendt’s Theory of a Claim to Law“ rekonstruiert Jonas Heller Hannah Arendts Konzept des Rechts, Rechte zu haben und ihre Anthropologie der Sozialität als Kritik der (bestehenden) Menschenrechte (263–291).

II.

Viele der hier kurz dargestellten Beiträge beschäftigen sich mit dem transformativen Potential von Recht bzw. der Aufgabe, die der Rechtskritik in einem transformativen Prozess zukommt. Zentral ist dabei die Frage, welche gestalterischen Fähigkeiten und praktischen Dispositionen eine Kritik des Rechts hat. Im Folgenden möchte ich mir beispielhaft für dieses gestalterische Potential drei Beiträge anschauen, die Rechtskritik mit Blick auf ästhetische oder politische Gestaltungsweisen denken. Die Kerngedanken der ausgewählten Beiträge fasse ich zusammen und schließe mit der Frage an, unter welchen Bedingungen eine ästhetische oder politische Gestaltung des Rechts jeweils gelingt.

II.1 Ästhetische Gestaltung von Recht in den Begriffen der Kritik

Fares Chalabi und Manuela Klaut betrachten ästhetische Gestaltungsweisen der Rechtskritik. Das Verhältnis von Kunst und Recht bestimmen sie in ihrer Analyse aber auf sehr unterschiedliche Weise.

Die Verschränkung von Kunst und Recht liegt für Chalabi darin, dass er sowohl Kunst als auch Recht unmittelbar als Politik versteht. Abgesehen von den analytischen Problemen, die diese Identifizierung verursacht, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehe, entstehen dadurch auch politische und ästhetische Probleme, wie sich an einigen von Chalabis politischen Aussagen zeigt. Chalabi nimmt sich in seinem Beitrag einiger Arbeiten des Medien- und Konzeptkünstlers Lawrence Abu Hamdan an, die in Kooperation mit dem Institute for Forensic Architecture entstanden sind, unter anderem der Videoarbeit Rubber Coated Steel (2016).1 Thematisch setzt sich die Arbeit mit den Strafprozessen gegen zwei israelische Soldaten vor dem israelischen Militärgericht auseinander. Die israelische Staatsanwaltschaft klagte die Soldaten wegen Mordes an zwei palästinensischen Jugendlichen an. Einer der Soldaten wurde 2018 wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Abu Hamdan führte eine ballistische Untersuchung der Geschehnisse durch, um den Tathergang zu ermitteln (vgl. 86). Die Erkenntnisse wollte er als Beweismittel im Strafprozess einbringen. Das Gericht lehnte dies jedoch ab. Daher machte Abu Hamdan sie zur Grundlage des fiktiven Tribunals gegen die Soldaten, das er in der Videoarbeit inszenierte (vgl. 83). Der künstlerische Beitrag trete, so Chalabi, klar als Rechtskritik hervor. Er schaffe es, zu kompensieren, was das israelische Recht versäume:

[…] I think the theoretical and artistic work of Abu Hamdan is clear: the refusal of the Israeli trials even if they are fair is not a juridical question but a political one, and it is in this refusal of Israeli justice that Palestinians can build a collective individuality incarnated in one body and a thousand names as the expression of a whole people fighting oppression. (84)

Chalabi bezeichnet in seiner Analyse der Arbeit Abu Hamdans den Staat Israel als „Kolonialstaat“ (81), der durch die Einbeziehung der Familien der palästinensischen Opfer in die strafprozessuale Aufarbeitung, eine kolonialistische Aneignung der politischen Subjektivierung der Familien betreibe (81). Indem der Staat Israel Palästinenser:innen das Recht verleihe, an einem (demokratischen) Strafprozess teilzuhaben, verhindere er ihre politische Ausdrucksweise im „silent protest“ (85), also der „stillen“ (Rechts)Verweigerung. Mit der strafrechtlichen Individualisierung verkenne der israelische Staat das kollektive Moment des Widerstandes (82). Insofern werde das Recht durch den Staat dafür missbraucht, den politischen Kampf der Palästinenser:innen auf Individualschicksale zu reduzieren. Der Tod der Jugendlichen stehe als Märtyrertod für den Tod von tausenden Palästinenser:innen (83). Im individuellen Strafprozess bliebe diese Symbolhaftigkeit außer Acht (83). Erst Abu Hamdan verleihe dem politischen Kampf mit seinem Tribunal rechtliches Gehör.

Chalabi scheint es nicht darum zu gehen, Kritik an der Teilhabe von Nebenkläger:innen in Strafprozessen zu üben, sondern explizit den Staat Israel für eine Praxis anzugreifen, die dem bürgerlichen Strafrecht an sich inhärent ist. Er erläutert nicht, worin die Besonderheit der Rechtspraxis des Staates Israel im Vergleich zu anderen bürgerlichen Rechtsstaaten liegt. Somit bleibt nicht nachvollziehbar, ob sein Anliegen eine philosophische Rechts- und Staatskritik oder nicht eher eine rein politische Kritik an Israel ist. Chalabi lässt in seinem Beitrag offen, warum gerade die Verleihung (und nicht etwa die Entziehung) von Rechten an Palästinenser:innen kolonialistisch (80ff.) sein soll.

Chalabi verklärt die kollektiven, politischen Rechte von sogenannten Märtyrer:innen als schützenswerter gegenüber dem Sühnebedürfnis einer Familie, die ihren Sohn in einem bewaffneten Konflikt verloren hat (vgl. 83). Dieser Zynismus weist einmal mehr darauf hin, dass eine Kritik des bürgerlichen Rechts stets Gefahr läuft, das Individuum unter die Interessen des Kollektivs zu ordnen (vgl. 83f.) und einen rechtsfreien Naturzustand zu hypostasieren, der dem Realitätsprinzip liberaler Rechtsapologetik zuarbeitet.

Chalabi fordert eine „higher form of listening“ in der juridischen Praxis ein, die sich im Hören dem Inkommensurablen nähert, ihm seinen Raum gibt. Dies sei allein als historisch und politisch informierte Analyse möglich (79). Diese Form des „higher listenings“ vermag er selbst leider nicht einzulösen: Wird Israel als Ausdruck eines westlichen Kolonialismus begriffen, so wird damit gleichzeitig die historische Realität der Shoah in Zweifel gezogen. Diese Position Chalabis scheint nicht mehr im Zusammenhang mit seiner Rechtskritik zu stehen, weshalb fraglich bleibt, warum er überhaupt diese Bezeichnung wählt.

Abgesehen von diesen politischen Problemen wirft sein Beitrag die interessante Frage auf, inwiefern die Fiktion von Recht und Gerechtigkeit (am Beispiel der Arbeiten Abu Hamdans) Recht ersetzen kann bzw. ob das Kunstwerk nicht die gleichzeitige Unmöglichkeit von Kunst und Recht thematisiert. Chalabi versteht Kunst in seinem Text weder als Illustration von Rechtskritik noch begegnet er der Kunst hermeneutisch. Er betrachtet die künstlerischen Arbeiten Abu Hamdans als juridische Praxis, die zwar aus der herrschenden Jurisdiktion ausgeschlossen ist, sich aber ihrer Mittel bedient (87). Dabei beschränkt er sich darauf, das künstlerische Werk als „theoretische Arbeit“ zu analysieren, was bei ihm heißt, es als politische Aktion innerhalb eines rechtlichen Rahmens zu lesen (63). Auf das vertrackte Verhältnis von Kunst und Politik geht er nicht ein und beurteilt Abu Hamdans Arbeiten nicht in ihrem ästhetischen Gehalt. Insofern nimmt sich Chalabi einer ästhetischen Gestaltungsweise der Rechtskritik an, ohne das Ästhetische zu betrachten. Zwar ist diese Rezeption formal in den forensischen Investigativarbeiten Abu Hamdans angelegt, verkennt jedoch, dass die Arbeiten suggerieren, einer gänzlich anderen Sphäre zu entstammen und dadurch besondere Freiheiten proklamieren. Dieser Anspruch sollte in der rechtsphilosophischen Analyse nicht außer Acht gelassen werden, da er die Arbeiten im Wesentlichen in ihrer Formsprache und ihrem kritischen Potential determiniert.

Anders als Chalabi setzt sich Manuela Klaut mit einer ästhetischen Gestaltung von Recht auseinander. Gegenstand ihres Aufsatzes ist Alexander Kluges Film „Abschied von gestern“ (1966),2 in dem Kluge das Leben der Anita G. erzählt. Die Protagonistin versucht, sich einer Verurteilung wegen Diebstahls zu entziehen, scheitert aber in ihren mühevollen Kampf gegen das deutsche Rechtssystem und den Verwaltungsapparat. Klaut untersucht, wie Kluge künstlerisch sowohl das Recht als auch den Film an seine erzählerischen Grenzen bringt und eine Sprache der Kritik findet, die nicht bloß den ideologischen Gehalt des Rechts freilegt. Kluges kinematographische Sprache sei es, die subsumiert und das Recht interpretiert, so arbeitet Klaut es heraus (198). Doch könne der Film nicht als unmittelbare Intervention in das Recht gelesen werden, sondern nehme dessen Form an.

Die Krise der Institution, die Unmöglichkeit der Subsumtion und der Anpassung der Lebensverhältnisse an die Rechtsform erkennt Klaut nicht als durch den Film geäußerte Kritik an den bürgerlichen Verhältnissen, sondern als Motive, die von der Hauptprotagonistin selbst markiert werden. Die Unmöglichkeit der Repräsentation bestimmt das Handeln von Anita G. (200ff.). Das Scheitern der Protagonistin weist uns darauf hin, so formuliert es Klaut, dass sie das Recht personifiziert darstellt: überdeterminiert und interpretierbar (201).

Um die ganze Geschichte der Anita G. zu erzählen, baue Kluge ein eigenes kinematographisches Rechtssystem, das, indem es in der Sprache des Rechts agiert, über es hinausweist (vgl. 202). Kluges Rechtssystem bewege sich im Spalt zwischen der Unbestimmbarkeit der Lebenswelt der Protagonistin und dem Recht, das krampfhaft zu bestimmen versucht: ein Konflikt zwischen Recht und Nicht-Recht, der unüberbrückbar scheint und uns in der Dekonstruktion des Rechts auf die Fiktion seiner Ansprüche weist (205).

Als Rechtskritik funktioniert Kunst hier weder so, dass sie sich von Wahrheit dekonstruierend verabschiedet und versucht, uns gleichsam skeptizistisch an die Schranke unseres Wertesystems zu drängen. Noch versucht sie, den Platz des Rechts einzunehmen, von dem sie das Recht zuvor verdrängt hat. Anders als viele der zeitgenössischen Inszenierungen von Tribunalen an den Theatern treibt Kluge uns in den Widerspruch von Begriff und Welt und macht erfahrbar, wo Versöhnung zweier miteinander im Konflikt stehender Systeme, möglich wird. Klaut lässt dies in ihrer Analyse wunderbar hervortreten. Die Auseinandersetzung mit Kluges Arbeit ermöglicht es ihr, eine eigene Sprache der Rechtskritik zu entfalten, die weit mehr ist als die Interpretation eines künstlerischen Werkes und das Recht selbst der Krise der Repräsentation überführt.

II.2 Politische Gestaltung von Recht in den Begriffen der Kritik

Das hier mit der Kunst benannte Spannungsverhältnis von Norm und Tatsächlichem bereitet der Rechtskritik auch im Verhältnis von Recht und Politik Schwierigkeiten. Zur Debatte steht in diesem Kontext, ob und wie mit dem Recht politische Umstände verändert werden können. Franziska Dübgen fragt in ihrem Beitrag nach politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts und tritt damit in den kontroversen Diskurs um das Konzept der „transformative justice“ ein.

Man könnte Dübgens Essay als Antwort lesen auf Fragen, die sich in Anschluss an Daniel Loicks Essay in diesem Band ergeben. Er unterbreitet den Vorschlag, Fälle von sexualisierter Gewalt mit Prozessen wie etwa „transformative justice“ zu begegnen, welche die Entstehungsbedingungen patriarchaler Strukturen angreifen anstatt sexistische Gewaltverhältnisse als individuelles Fehlverhalten im bürgerlichen Strafprozess zu verhandeln (151). Dübgen nimmt sich mittels eines transkulturellen Verfahrens den Rechts- und Gesellschaftsprinzipien der Ubuntu-Philosophie an, die in vielen Gesellschaften der Region Subsahara verbreitet sind. Mit Ubuntu schlägt sie vor, die Apriori der westlichen Rechtsphilosophie kritisch zu hinterfragen und einen Begriff von „transformative justice“ zu formulieren, der auf seine praktische Umsetzung zielt. Die Interdependenz und Intersubjektivität des Menschen, also seine Eingebundenheit in einen sozialen Raum, wird hier als anthropologisches Konstituens für Subjektivität gedacht. Diese Prämisse stehe im Gegensatz zum Autonomieprinzip, der uneingeschränkten Willensfreiheit des Subjekts und der damit einhergehenden Naturalisierung, die westlicher Rechtstheorie und Rechtspraxis zugrunde liege (162).

Nach Dübgen ist Ubuntu als Rechtsprinzip prozessual zu denken; als Prinzip, das sich stets in seiner sozialen und historischen Bestimmtheit erneuert. Besondere Auswirkungen habe dieser Rechtsgedanke auf das Strafrecht. Ein Verbrechen werde vor diesem Hintergrund nicht als individuelles Vergehen betrachtet, für das ein Subjekt die Schuld trägt (163). Die Verantwortlichkeit für ein Verbrechen, das ein Individuum begangen hat, verorte sich vielmehr im Gewebe aus sozialen Normen, ökonomischen Bedingtheiten, psychologischen Erfahrungen, sprachlicher Verwiesenheit und (sexuellen) Begehrensstrukturen, kurz also: in dem gesellschaftlichen Ganzen, in dem sich das Individuum als Subjekt entwickelt. Um Verbrechen rechtlich zu begegnen, sei daher ein Ansatz notwendig, der dieses Ganze miteinbeziehe; das erfordere mehr als den anklagenden Staat, die richtende Institution und das zu verurteilende Individuum. Der Prozess müsse auf die Komplexität der sozialen Situation derart reagieren, dass alle an der Konstitution der Gesellschaft teilhabenden Akteur:innen miteinbezogen werden (165f.). Die Idee der Bestrafung müsse daran anschließend anders gedacht werden. Haftstrafen haben in diesem Rechtssystem keine Legitimität, da sie die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Beziehung behindern.

Mit Ubuntu wird, in der Darstellung Dübgens, ein Strafkonzept sichtbar, das ein emanzipatorisches Potential hat, solange individuelle Handlungen dadurch nicht in Kausalitäten aufgelöst werden und damit letztlich wieder der Herrschaft der Vernunft unterworfen werden. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, ist, wie Subjektivität als das Besondere gedacht werden kann, das im Allgemeinen aufgehoben ist und nicht im absoluten Determinismus unter die Räder der Vergesellschaftung kommt. Dübgen behandelt diese Frage nach der Vermittlung von Subjektivität und Gesellschaft im Begriff der Solidarität. Materielle Gleichheit, entsprechend den Bedürfnissen der Individuen, sei dabei eine Grundvoraussetzung für die Ermöglichung von Recht in dieser Form (169f.).

Dübgen beschreibt am Ende des Textes, dass ein Begriff des Rechts mit Ubuntu trotzdem nicht frei von Herrschaft und Unterdrückung sei. Cis-heteronormative Strukturen würden in diesem Rechtssystem reproduziert und Menschen mit davon abweichenden Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen strukturell verfolgt (172). Rechtstheoretisch interessant wäre es, die Ursprünge dieser Verflechtung näher zu untersuchen. Denn es scheint nach den Ausführungen Dübgens so, als sei „transformative justice“ nicht per se geeignet, patriarchale Strukturen im Recht abzubauen. Daraus lässt sich schließen, dass einer unmittelbaren Integration des Konzepts in die bürgerliche Rechtsordnung mit Vorsicht zu begegnen ist und eine (individuelle) Umsetzung von „transformative justice“ misslingen kann. Daran knüpft die Frage an, ob mit „transformative justice“ stets die Gefahr besteht, die patriarchalen Verhältnisse zu verfestigen, sofern das Konzept seiner historischen Situiertheit entrissen und schematisch in hiesige politische Kontexte zur eigenmächtigen Kollektivaufarbeitung von sexualisierten Übergriffen und Gewaltakten transplantiert wird. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine Retraumatisierung der Betroffenen in der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld des Falls nicht ausgeschlossen werden kann.

Dübgen liefert einen wichtigen Beitrag zum Denken politischer Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts im Diskurs um „transformative justice“. Eine Übertragung der Rechtsgedanken aus der Ubuntu-Philosophie fehlte zumindest im europäischen Rechtsdiskurs bisher.

III. Fazit

Selbstverständlich muss sich Rechtskritik die Frage stellen, wie dem Recht in einer Gesellschaft, die Fortsetzung der Katastrophe ist, zu begegnen ist. Kein Wort, kein Gegenstand ist unschuldig im gesellschaftlichen Ganzen und der Versuch, dem blind zu entrinnen, muss vereinnahmen, wogegen er opponiert. Eine praktisch werdende Kritik ist demnach immer gefährdet, sich entsprechend der bürgerlichen Unterwerfungslogik zu deformieren. Der ideologiekritische Anspruch verflüchtigt sich, sofern Rechtskritik isoliert versucht aus dem Gegebenen auszubrechen, sei es mit politischen oder ästhetischen Mitteln. Kritik würde hier, wie Benno Zabel es formuliert, zur „Politik des Als ob“ (260), zur Simulation von Gerechtigkeit herabgewürdigt.

Wenn die Herausgeber:innen den Band What’s Legit? mit dem Hinweis einleiten, dass dem Recht immer schon eine Ambivalenz eingeschrieben ist, zum einen als kulturelle Errungenschaft und Möglichkeit von Emanzipation, zum anderen als Instrument staatlicher Unterdrückung, so wird den Lesenden am Ende des Bandes deutlich, wie herausfordernd es für die verschiedenen rechtskritischen Verfahren ist, diese Ambivalenz nicht in die eine oder andere Richtung aufzulösen. Mehr als der einzelne Beitrag ist es der Dialog der Kritik in dem Band, der, mit Deleuze und Guattari gesprochen, gestaltend einen Begriff des Rechts – oder Nicht-Rechts – entwickelt und sich nicht auf die Reflexion, Kontemplation oder Kommunikation beschränkt (Deleuze/Guattari 1996: 10). Die Gestaltung der Verhältnisse ist jedenfalls nicht allein Aufgabe der Philosophie, darin werden sich die Rechtskritiken in What’s Legit? einig.

Literatur

Benjamin, Walter. Zur Kritik der Gewalt. In Gesammelte Schriften. Band II 1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix. Was ist Philosophie?. Übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.

Derrida, Jacques. Gesetzeskraft. Der „mythische Grund der Autorität.“ Übers. von Alexander García Düttmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.

Rancière, Jaques. Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Übers. von Richard Steurer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.


  1. Lawrence Abu Hamdan, Rubber Coated Steel, 21: 49 Min., 2016, https://www.youtube.com/watch?v=lFIvUV5vmMU, zuletzt aufgerufen am 23.06.2021.↩︎

  2. Alexander Kluge, Abschied von gestern, 1:24 h, 1966, https://www.youtube.com/watch?v=EhOrizrkNyE, zuletzt aufgerufen am: 23.06.2021.↩︎

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