Gunn, Richard, und Adrian Wilding: Revolutionary Recognition. London: Bloomsbury Academic 2021. 173 Seiten. [978-1-350-13739-4]

Rezensiert von Oliver Schlaudt (Universität Heidelberg)

„Anti-Honneth“

Der Titel gibt es bereits zu verstehen: Das Buch der beiden schottischen politischen Philosophen Richard Gunn und Adrian Wilding ist eine radikale Kritik an Axel Honneths Theorie der Anerkennung (Honneth 1992), ein „Anti-Honneth“, wie die Autoren selbst augenzwinkernd sagen (3). Die Besonderheit ihres Ansatzes liegt darin, den Begriff der Anerkennung nicht einfach zurückzuweisen (wie z.B. Lois McNay in Against Recognition [2008]), sondern ihn Honneth zu entwinden und zu neuen Ufern zu führen. Konkret gesprochen wollen Gunn und Wilding durch den Begriff der Anerkennung das gesamte Marx’sche Erbe rekonstruieren und diesen Begriff zur Grundlage einer Politik machen, die sich als radikal statt reformistisch versteht. Das Buch kommt zur rechten Zeit, da es verspricht, in Bezug auf gleich mehrere angestaute Probleme einen wichtigen Schritt weiterzukommen: einen Ausweg aus einigen Sackgassen der kritischen Theorie zu finden, sich den Herausforderungen der Identitätspolitik zu stellen und schließlich die ökologische Frage ordentlich in das politische Denken zu integrieren.

Hegels gefährliche Idee

Gunn und Wilding nehmen für ihre These historischen Anlauf und gehen im ersten Kapitel – „Hegel’s dangerous idea“ – zu Hegel zurück, und zwar zu dem in ihrer Interpretation revolutionären Hegel der Phänomenologie des Geistes, den sie gegen den politisch zurückhaltenderen Hegel der Rechtsphilosophie und somit auch gegen eine heute vorherrschende Tradition der Hegelinterpretation stark machen (die Autoren zitieren in diesem Zusammenhang Robert Williams, aber man kann für den deutschen Sprachraum vermutlich an Hegelforscher wie Quante, Horstmann und Vieweg denken).

Zwei Besonderheiten ihrer Interpretation sind dabei für den durch das Buch hinweg entwickelten Grundgedanken entscheidend. Erstens gehen Gunn und Wilding von einem wechselseitig konstitutiven Bezug von Anerkennung und Freiheit aus. Die gelingende Anerkennung muss nicht nur freiwillig – und somit aus Freiheit – erfolgen, sondern ist selbst Bedingung von Freiheit: Der andere wird als selbstbestimmendes Wesen anerkannt, und nur so kann seine Selbstbestimmung auch zum Tragen kommen (11). Freiheit erlangt jeder mithin erst durch die anderen. Dies ist der positive Pol von Gunns und Wildings analytischem Rahmen, der den konstruktiven Facetten ihres Projekts zugrunde liegt. Zweitens ergibt sich aus dieser Bestimmung gelingender Anerkennung sofort ein Modus defizitärer, misslingender Anerkennung, der als Grundlage der Kritik (insbesondere an Honneth) den negativen Pol des im vorliegenden Buch realisierten Projekts ausmacht. Gunn und Wilding sprechen von „widersprüchlicher Anerkennung“, „contradictory recognition“. Es handelt sich dabei nicht um eine Verweigerung von Anerkennung (oder gar eine aktive Missachtung), sondern um eine Form der Anerkennung, die aufgrund ihrer Verfasstheit strukturell mit der eigentlichen inhaltlichen Bestimmung von Anerkennung konfligiert. Es ist die Anerkennung des und der Anderen nicht als selbstbestimmendem Wesen, sondern als ‚bestimmtem’ Wesen, nämlich als VertreterIn oder Instanziierung einer bestimmten Eigenschaft. Sie erkennt das Individuum nicht in seiner Besonderheit (particularity) an, sondern nur in einer bestimmten Rolle (14). Es ist eine Anerkennung, die „does not and cannot achieve what it seeks“ (10). Anerkennung muss reziprok, frei und ganzheitlich sein. Damit ist sie insbesondere inkompatibel mit jedweder Form einer vorbestimmten (gruppenabhängigen) Identität (17). Gunn und Wilding sprechen hier von „institutioneller Anerkennung“, und ein Hauptargument im Buch lautet in der Tat, dass die Anerkennung durch Institutionen gerade ein Fall solch widersprüchlicher Anerkennung darstellt.

Haken wir kurz ein. Ob die Phänomenologie des Geistes einen solchen zweiten Typ defizitärer Anerkennung (neben demjenigen, der im Herr-Knecht-Verhältnis exemplifiziert ist) hergibt – Gunn und Wilding beziehen sich hier auf Hegels Rede von „geistigen Massen“ in einer sehr dunklen Passage der Phänomenologie des Geistes –, müssen die Hegel-ExpertInnen entscheiden. Aber Ideengeschichte ist nicht der Zweck, sondern nur ein Mittel der vorliegenden Untersuchung, die auch dann, wenn Hegel nicht als Ahnherr der Kritik an „institutioneller Anerkennung“ gelten können dürfte, in Anspruch nehmen kann, diesen Gedanken konsistent und fruchtbar zu entwickeln. Was zum besseren Verständnis aber bemerkt werden sollte, ist, dass der Begriff der Anerkennung in der Lektüre von Gunn und Wilding eine spürbare – durchaus wohltarierte – anarchistische Färbung erhält (die sich später in Verweisen auf Guy Debord, Angela Davis und David Graeber auch deutlicher zu erkennen gibt). Angelpunkt der Theorie ist eindeutig das Individuum in seiner Besonderheit (particularity). Wohltariert ist dieser Schuss Anarchismus, da im Gegensatz zu liberalen und libertaristischen Traditionen das Individuum nicht einfach als vollgültige Einheit postuliert, sondern ganz im Gegenteil gerade in Abhängigkeit von den anderen gedacht wird: das Soziale ist konstitutiv für den Einzelnen, und Anerkennung macht wiederum das Wesen des Sozialen aus. Das Individuum existiert nach dieser Auffassung zwar nicht autonom, aber Autonomie ist das Ziel seiner sozialen Konstituierung. Dies findet insbesondere in einem positiven Freiheitsbegriff Niederschlag, wonach der Andere nicht die Grenze, sondern Bedingung und Medium der Freiheit ist.

Die kapitalistische Gesellschaft als Inferno

Nach diesen grundsätzlichen Weichenstellungen rekonstruieren Gunn und Wilding im zweiten Kapitel – „Marx as a thinker of recognition“ – die Philosophie von Karl Marx ganz vom Begriff der Anerkennung her. Dazu gehen sie komplementär zum ersten Kapitel vor: Basierte dieses auf der Unterscheidung zwischen einem frühen und einem späten Hegel, verwerfen sie genau diese Unterscheidung für Marx. Die ersten beiden Übungen – Marx’ Kritik am Markt und am Eigentum – gelingen den beiden Autoren mühelos, da der Bezug zur Anerkennung auf der Hand liegt (insbesondere in Marx’ wenig bekannten Kommentaren zu James Mill von 1844, welche Gunn und Wilding erst für die Leserschaft entdecken): (a) Markakteure müssen sich gegenseitig als Eigentümer anerkennen (womit alle strukturellen Zwänge ihres Handelns, insbesondere des Ausbeutungsverhältnisses in der Lohnarbeit ausgeblendet werden, wie die Autoren in einer wundervollen Binnenanalyse zeigen); (b) Eigentum ist für Marx ein Verhältnis, und zwar, wie die Autoren überzeugend zeigen, ein Verhältnis von widersprüchlicher Anerkennung, während wahre wechselseitige Anerkennung umgekehrt über Eigentumsverhältnisse und die Existenzweise des Habens hinausweist (40).

Am schwierigsten – dabei aber theoretisch zentral – ist die Rekonstruktion des Klassenbegriffs durch den der Anerkennung. Die Autoren benennen das Problem selbst: „Klasse“ scheint nach einer Definition im ‚harten‘, ökonomischen Vokabular zu verlangen, wofür „Anerkennung“ – im Schema von Basis und Überbau gedacht – kein plausibler Kandidat ist. Gunn und Wilding gehen hier aufs Ganze und verwerfen das Schema von Basis und Überbau: „the ‚base‘ is a pattern of recognition and the notion of a merely ‚ideological‘ superstructure is exploded“ (52).

Lassen wir uns an dieser Stelle etwas weiter auf die Überlegungen von Gunn und Wilding ein. Wir dürfen, so fordern die beiden Autoren uns auf, uns die Gesellschaft nicht als einen geschlossenen Kreis vorstellen, wobei die Kreislinie die Grenze erfolgreicher Integration markiert: soziales Sein innen, a-soziales, natürliches Sein außen. Vielmehr sei sie eine nach unten offene Parabel: Die Gesellschaft entlässt niemanden aus ihrem Schoß (Sein ist für den Menschen immer soziales Sein), aber oben stehen jene, die sich gut durchschlagen und in „ihrer Entfremdung wohlfühlen“, während nach unten hin die Verhältnisse immer unerträglicher, vor allem aber dinghafter werden:

Life as represented in the lower half of our diagram remains through-and-through social but is a realm of hell. […] The thought which our image of an open parabola attempts to capture is not that of social life in accordance with a natural order. It is that of social life where individuals are regarded as though they were merely natural and where, as a result, unimaginable horror – unimaginable social horror – is the result. (50)

Der Clou dieses Bildes besteht darin, dass Klassenverhältnisse plötzlich in Begriffen von Status und Identität (den Marx’schen „Charaktermasken“) – sprich: widersprüchlicher Anerkennung – ausbuchstabiert werden können. Gunn und Wilding fassen dies erneut in einer wahrhaft dantesken, kosmisch-beunruhigenden Metapher zusammen (die ich aus diesem Grund wörtlich zitiere):

For Marx, role definitions float on a raft of recognition; the recognition is contradictory and dynamic. [...] Although role definitions present themselves as fixed and static and with clearly established boundaries, a deep and powerful current of one-sided and unequal recognition flows beneath them: issues of domination and struggle lie not beyond their boundaries but (changing the metaphor) beneath the role-defined individual’s feet. (51f.)

Dem Zweifel, dass damit der Kern des Klassenverhältnisses wirklich benannt ist, können Gunn und Wilding auf der Grundlage ihrer Analysen geschickt den Wind aus den Segeln nehmen: Natürlich haben Klassenverhältnisse auch etwas mit Besitz an Produktionsmitteln zu tun. Aber Eigentum ist ja selbst schon als Verhältnis von widersprüchlicher Anerkennung kenntlich gemacht.

Monismus der Anerkennung

Es ist verblüffend, wie gut es gelingt, Marx’ Grundbegriffe in denjenigen von (gelingender und defizitärer) Anerkennung zu übersetzen. Fraglich ist dabei lediglich, ob man den anerkennungstheoretischen Klassenbegriff wirklich nur akzeptieren kann, wenn man gleichzeitig das Schema von Basis und Überbau in Bausch und Bogen verwirft. Auch wenn man Anerkennung als die Essenz des Sozialen begreift, wie es die Autoren – hierin mit Honneth einig – in ihrem „Monismus der Anerkennung“ tun (47, 79), lässt sich doch der Idee, dass sich die Vorstellungswelt einer Gesellschaft in einem Gleichgewicht mit der konkreten Organisationsweise ihres Lebensprozesses einstellt, noch einiges abgewinnen. Gerade als Essenz des Sozialen ist Anerkennung doch keine „bloße Vorstellung“, sondern soziale Praxis. Und ebenso, wie es karikaturesk war, die Basis-Überbau-Determinierung als einsinnig zu begreifen (in welchem Fall Max Webers Protestantismusthese, wäre sie denn historisch korrekt, als Einwand gelten könnte), so kann es sich nun im Licht der Analyse von Gunn und Wilding als nicht minder überzeichnet erweisen, dass die Basis im ‚harten‘ ökonomischen Vokabular spezifiziert werden muss. Anerkennung, verstanden als soziale Praxis, wäre ‚hart‘ genug.

Die schwindelerregenden Fresken der nach unten offenen Gesellschaft sowie des rauschenden Stromes der Anerkennung unter unseren Füßen und hinter unseren Identitäten ist fraglos der Höhe- und damit auch architektonische Wendepunkt des Buches. Von hier gelingt der Abstieg ziemlich reibungslos, aber durchaus mit schönen Aussichten in die Ebene, die sich vor den LeserInnen ausbreitet. Zum Abschluss des Marx-Kapitels wird gezeigt, dass sich auch Marx’ Vorstellung von Kommunismus (in seinen spärlichen Andeutungen) in Begriffen gelingender wechselseitiger Anerkennung ausbuchstabieren lässt, die der notwendig widersprüchlichen Anerkennung durch die Institutionen der liberalen bürgerlichen Gesellschaft gegenübersteht, allen voran dem Markt (59). Die im dritten Kapitel „Revolutionary or less-than-revolutionary recognition“ erfolgende Kritik an Honneth, die die Autoren noch durch eine kurze Analyse von Charles Taylors Verständnis der Anerkennung vorbereiten, gelingt ziemlich mühelos, und daher auch sehr sachlich unter weitgehendem Verzicht auf Polemik. Gunn und Wilding zeigen, wie unter den Voraussetzungen der Multikulturalismus-Debatte der 1990er Jahre die Anerkennung immer mehr als eine knappe Ressource begriffen wurde, um deren Verteilung die Gruppen streiten, die sie „verlangen“, „erstreben“ können, die ihnen „gewährt“ oder „verweigert“ werden kann. Kurz: Anerkennung wurde ein Ding statt ein Existenzmodus (68). Damit war aber der politische Horizont schon auf die falsche, unvollständige, entfremdende Anerkennung, nämlich die „Anerkennung als …“ verengt (63–66). Diese Diagnose, sofern korrekt, enthält eine bittere Pointe, da Taylor die Anerkennung ursprünglich ja als egalitäres Pendant zur „Ehre“ in hierarchischen Gesellschaften positionierte, wobei es zur spezifischen inneren Logik der Ehre gehörte, dass nicht jeder an ihr teilhaben kann: „For some to have honor in this sense, it is essential that not everyone have it“ (Taylor 1992: 27). Durch die implizite Deutung von Anerkennung als knapper Ressource bei Taylor geht aber genau dieses Unterscheidungsmerkmal verloren.

Identitätspolitik

An dieser Stelle entfaltet der analytische Rahmen von Gunn und Wilding übrigens auch ein enormes kritisches Potential gegenüber den aktuellen identitätspolitischen Debatten. Dieser Bezug ist wichtig, da Identitätspolitik – ungeachtet der Skurrilität ihrer konkreten Praxis, die von vielen KritikerInnen dankbar ausgeschlachtet wird (z.B. Fourest 2020) – nichtsdestotrotz auch eine grundsätzliche Position in der Frage nach dem Politischen und der Legitimität politischer Intervention bereithält. Sie stellt also – ob man dies möchte oder nicht – eine formal vollgültige Theorie des Politischen dar, auf die jede konkurrierende Theorie eine gute inhaltliche Antwort parat haben sollte. Gunn und Wilding überlassen es allerdings ganz den LeserInnen, das enorme Potential ihres Ansatzes zu nutzen, obwohl die Autoren hier mit ihren Pfunden hätten wuchern können. Einen mit Gunn und Wilding weitgehend konvergierenden Ansatz findet sich aktuell z.B. in Todd McGowans Universality and Identity Politics (McGowan 2020), insofern hier der Zusammenhang zwischen Identität und institutioneller Anerkennung, den z.B. Shi nur andeutet (Shi 2018), deutlicher expliziert wird.

Die bei Taylor diagnostizierte Verengung der Anerkennung sollte auch für Honneth verbindlich bleiben, wodurch sein Werk zwangsläufig einen „sozialdemokratischen“ – nämlich reformistischen, amelioristischen und an Institutionen orientierten (81) – Charakter annahm. Gunn und Wilding kritisieren bei ihm sowohl den engen politischen Horizont der Anerkennung durch Institutionen (also wiederum ‚Anerkennung als (bestimmtes) x‘ statt ‚Anerkennung als selbst-bestimmend‘) als auch die als solche hingenommene Teilung der drei anerkenntungstheoretisch relevanten Sphären von Familie, Gesellschaft und Staat bzw. von persönlichen Beziehungen, marktwirtschaftlichem Handeln und demokratischer Willensbildung (Honneth 2011), die mit der idealen Anerkennung unvereinbar ist (71f.). Dies ist der Kern der Kritik an Honneth, und wie die Autoren zeigen, bleibt das grundsätzliche Problem auch ungeachtet späterer theoretischer Wendungen Honneths (Historisierung der Sphären, Methode der „normativen Rekonstruktion“) bestehen.

Die Kritik an Honneth ist wertvoll, weil sie auf unpolemische, konstruktive und überraschende Weise zeigt, wie man der – so heute ein weit geteilter Eindruck – spätestens mit Habermas, vielleicht aber auch schon in der Dialektik der Aufklärung „gezähmten kritischen Theorie“ (Thompson 2016) wieder lebendigen Geist einhauchen kann, ohne dabei darauf verzichten zu müssen, ihre positiven Leistungen fruchtbar zu machen. Dies meint bei Honneth vor allem die beiden Einsichten, dass Anerkennung konstitutiv für gelingende Individualität ist und umgekehrt fehlende Anerkennung nicht nur einen ‚äußerlichen‘ Schmerz des Individuums darstellt, sondern seinen Konstitutionsprozess bedrohen kann. Mit dem Glauben an die Institutionen und ihre „domestizierte“ Form der Anerkennung scheint tatsächlich der springende Punkt in Hinsicht auf die heutige kritische Theorie der Anerkennung benannt zu sein. Diese Einsicht kann sich auch in der Auseinandersetzung mit den aktuellen identitätspolitischen Debatten als sehr hilfreich erweisen. Mit Gunn und Wilding kann man die Hypothese aufstellen, dass ein Verständnis des Politischen und politischer Legitimität, das in „geteilten Ungerechtigkeitserfahrungen von Mitgliedern bestimmter gesellschaftlicher Gruppen“ fußt (Heyes 2020), nicht nur de facto auf institutionelle (und somit im Verständnis von Gunn und Wilding entfremdende) Anerkennung setzt, sondern dies auch genau in dem Maße tun muss, in welchem die Gruppenidentität in der Artikulation der Ungerechtigkeitserfahrung verbindlich bleibt und nicht überschritten wird (siehe dazu wiederum McGowan 2020).

Permanente Revolution, rot und grün

In den beiden abschließenden Kapitel 4 und 5 fragen die Autoren nach den konkreten politischen Konsequenzen von Hegel’s „gefährlicher Idee“. Das mit „Mutual recognition in practice“ übertitelte vierte Kapitel beginnt bei den sozialen Bewegungen der Gegenwart. Wenn Institutionalisierung keine Option ist, dann stellt sich die schon zu Beginn des Buches klar identifizierte Herausforderung, Anerkennung auf eine andere Weise zu verstetigen: „The cost of mutual recognition is that it must continually be re-projected“ (28). Konkret – und durchaus in Phase mit einer wachsenden Literatur zu dieser Frage, z.B. Varvarousis und Kallis (Varvarousis/Kallis 2017) – optieren die Autoren für David Graebers Modell „horizontaler“ und Raul Zibechis Modell „rhizomatischer“ Organisation und versuchen, diese Vorstellung durch den Ansatz der Allmendewirtschaft (in Elena Ostroms Analyse) zu substanziieren. Ein verpasster Anknüpfungspunkt stellt hier sicherlich der Begriff der „insurgent universality“ Massimiliano Tombas dar (Tomba 2019), der mir nahtlos zu Gunns und Wildings Kritik institutioneller Anerkennung zu passen scheint. Der Vorteil von Tombas Untersuchung ist, dass er das Problem, mit dem Gunn und Wilding sich de facto auseinandersetzen, begrifflich auf den Punkt bringt: Wie ist eine Kritik des Universalismus möglich, ohne in einen Partikularismus und seine identitätspolitischen Fallstricke abzurutschen? Diese Frage ist z.B. mit Mbembes Aktualisierung der grundsätzlichen Kritik am Universalismus der Menschenrechte, der in mythischer Form die eigenen uneingestandenen Voraussetzungen verdränge, virulent geworden (Mbembe 2016), stellt sich aber auch schon, wenn man wie z.B. Hopgood lediglich das prononcierte top-down-Verständnis der Menschenrechte kritisiert (Hopgood 2015), wie es die internationalen Institutionen verkörpern (womit auch der Zusammenhang ‚falscher Universalismus = Institutionen = falsche Anerkennung‘ unmittelbar deutlich wird). Gunn und Wilding haben erwägenswerte Antworten auf diese Frage, aber dass dies so ist, wird viel deutlicher, wenn man ihr Buch mit an Tomba geschulten Augen liest.

Kapitel 5, „Recognition’s Environment“, schlägt abschließend die Brücke von der sozialen zur ökologischen Frage, um zu zeigen, dass auch diese adäquat durch den Begriff der Anerkennung eingerahmt werden kann. Gestützt auf die einschlägigen Vorarbeiten der öko-marxistischen Theorie (Paul Burkett, John Bellamy Foster, Kohei Saito, Jason W. Moore), erschließen sich die Autoren die ökologische Frage im Wesentlichen durch die schon von Marx im Kapital angedeutete Engführung von Ausbeutung und Unterdrückung von Mensch und Natur (110). Die Angleichung beider Phänomene erlaubt natürlich einerseits die Anwendung desselben analytischen Werkzeugs. Andererseits aber verschärft die ökologische Frage das ursprünglich soziale Problem der Anerkennung: „acknowledgement of the finite and fragile character of the Earth System make mutual recognition between humans an even more urgent priority“ (117). Gunn und Wilding argumentieren erneut überzeugend, aber leider in diesem letzten Kapitel durchweg in relativ abstrakter Weise, während das Programm einer Versöhnung von sozialer und ökologischer Frage ja eigentlich dazu einlädt (oder geradezu fordert), zu zeigen, wie sich der entscheidende Grundkonflikt vermeiden lässt: Wie ist eine Teilhabe der ärmeren Mehrheit der Weltbevölkerung am materiellen Reichtum mit einer ökologischen Wende, gar einer Post-Wachstums-Orientierung vereinbar?

Gunn und Wilding belassen es hinsichtlich dieser Frage bei relativ allgemeinen Hinweisen auf abstraktem Niveau. Insgesamt haben sie aber einen inspirierenden Beitrag zur politischen Theorie geliefert, der seinem eigenen Anspruch durchaus gerecht wird, nicht punktuell nachzubessern, sondern im Grund einen ganz neuen Horizont zu eröffnen. Hervorzuheben ist insbesondere der äußerst klare Stil. Die Autoren legen an jeder Stelle die Prämissen ihrer Überlegungen offen und argumentieren mit vollkommener Transparenz. Nur an wenigen – aber den zentralen – Stellen wird der Ton metaphorischer (wie das obige Zitat des „deep and powerful current of one-sided and unequal recognition“ zeigt), was allerdings keine Schludrigkeit oder gedankliche Unschärfe anzeigt, sondern für den Leser eher mit der Verheißung verbunden ist, an einem neuralgischen Punkt angelangt zu sein, an welchem noch weiter zu denken ist.

Literatur

Fourest, Caroline. Génération offensée: De la police de la culture à la police de la pensée. Paris: Grasset, 2020.

Heyes, Cressida. „Identity Politics.“ In The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward N. Zalta, 2020. ‹https://plato.stanford.edu/archives/fall
2020/entries/identity-politics/›.

Honneth, Axel. Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt. a.M.: Suhrkamp, 1992.

Honneth, Axel (2011). Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp, 2011.

Hopgood, Stephen. The End Times of Human Rights. Ithaca: Cornell University Press, 2015.

Mbembe, Achille. Politiques de l’inimitiés. Paris: La Découverte, 2016.

McGowan, Todd. Universality and Identity Politics. New York: Columbia University Press, 2020.

McNay, Lois. Against Recognition. Cambridge: Polity Press, 2008.

Shi, Chi-Chi. „Defining My Own Oppression: Neoliberalism and the Demands of Victimhood.“ Historical Materialism 26.2 (2018), 271–295.

Taylor, Charles. „The Politics of Recognition“ In Multiculturalism, hg. von Amy Gutman, 25–73. Princeton: Princeton University Press, 1992.

Thompson, Michael J. The domestication of critical theory. London und New York: Rowman & Littlefield, 2016.

Tomba, Massimiliano. Insurgent Universality. An Alternative Legacy of Modernity. Oxford: Oxford University Press, 2019.

Varvarousis, Angelos, und Giorgos Kallis (2017). „Commoning Against the Crisis.“ In Another Economy is Possible: Culture and Economy in a Time of Crisis, hg. von Manuel Castells et al., 128–159. Cambridge: Polity Press, 2017.

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