Hindrichs, Gunnar: Zur kritischen Theorie. Berlin: Suhrkamp 2020. 267 Seiten. [978-3-518-29902-9]

Rezensiert von Benedikt Rittweiler und Jonas Schmitt (Universität Tübingen)

Der Suhrkamp-Band Zur kritischen Theorie scheint nicht zufällig einen ambigen Titel zu tragen, denn er enthält einerseits Antworten auf die grundsätzliche Frage danach, was kritische Theorie ist. Andererseits bietet er eine Sammlung mehr oder weniger zusammenhängender Motive und Aspekte zur bibliographischen Tradition der kritischen Theorie. Was alle im Band versammelten Texte von Gunnar Hindrichs vereint, sind mindestens zwei Prämissen: erstens die philosophiehistorische Annahme, dass die kritische Theorie (im Folgenden: KT) ihre paradigmatische Form in der Adorno-Horkheimer-Tradition erhält, im „Fehlgang“ (9) der neueren Ansätze jedoch abgeschwächt, umgedeutet und letztlich missverstanden wird; zweitens die methodologische Voraussetzung, dass sie erst aus der Tradition des Deutschen Idealismus und dessen Rezeption durch Karl Marx verständlich wird. Die vorliegende Textsammlung ist insofern über weite Strecken auch als intertextueller Dialog zu Kant, Hegel und Marx lesbar.

Hindrichs Konzeption der KT als negatives ‚spekulatives Denken‘

Der Kritikbegriff gehört zu den viel diskutierten Themen innerhalb der Frankfurter Schule (vgl. Schmidt 2012: 54). Im ersten Aufsatz „Kritik – Theorie – Krise“ will Hindrichs durch dessen Klärung eine begriffliche Präzisierung der KT erarbeiten: In welchem Sinn ist diese kritisch? In welchem Sinn ist sie eine Theorie? Die Antworten werden in Auseinandersetzung mit philosophischen Klassikern entwickelt, oft gestützt durch eher assoziative und etymologische Erwägungen. Somit vererbt sich das eklektizistische Vorgehen aus der Dialektik der Aufklärung (DA) auf die Argumentation ihres Exegeten. Zugleich ist es für Hindrichs charakteristisch, systematische Gedanken mit einem philosophiehistorischen Anspruch zu versehen.

Als wichtige Vorentscheidung für sein Verständnis von KT grenzt er diese von konkurrierenden Philosophiekonzeptionen ab und definiert sie als Kritik im Sinne der kantischen Metapher der „Vernunft als oberstem Gerichtshof“ (14). Während sich Kritik als abwägendes Prüfverfahren auf Rechtssachen beziehe – im Sinn aller Arten argumentativ verhandelbarer Geltungsansprüche –, habe eine Theorie Tatsachen zum Gegenstand, d.h. systematisch beschreibbare und nicht verhandelbare Sachverhalte. Um die Rede von einer KT nicht auf ein fraglich bleibendes „Oxymoron“ (7) zu reduzieren, wendet sich Hindrichs ad hoc Parmenides’ Lehrgedicht Peri physeos zu: Mithilfe des sog. griechischen Theorieverständnisses wird das Verfahren der Kritik in einer wahrheitsorientierten Reflexionspraxis integriert und konfligiert nicht mehr mit dem Theoriebegriff. Hindrichs’ Parmenides-Deutung ist nicht nur motivisch und terminologisch von seiner Hegel-Lektüre inspiriert, sondern leitet auch zu dieser über. KT wird auf diese Weise als Sonderform spekulativen Denkens bestimmt und gleichzeitig auf „eines der Gründungsdokumente des europäischen Denkens“ zurückgeführt (20). Kritisches Denken wird zum spekulativen Denken, wenn es sich einer Art holistischer Grundorientierung der Wahrheitssuche verpflichtet, d.h. wenn es sich „auf etwas Ganzes, Eines, Zusammenhängendes“ richtet, das sich durch eine „inwendige Gliederung“ auszeichne (24). Für die Idee einer in sich gegliederten Ganzheit finden sich Formulierungen wie der „Gesamtzusammenhang von Widerspiegelungen“, das in sich gespiegelte „Reflexionsgesamt“ oder die positive/negative „Totalität“ (32).

Überlegungen zu theoretischen Konsequenzen dieses Konzepts sind eher kurzgehalten: Dem spekulativen Denken wird ein relationaler Wirklichkeitsbegriff zugeschrieben, der der von Heinrich Rombach (1966: 219ff.) als Funktionalismus oder Relationalismus bezeichneten Position ähnelt, die als Rahmenkonzept einer Ontologie der exakten Wissenschaften jedoch kaum für die KT in Frage käme. Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob die Spiegelmetaphorik auch der Sache nach in eine Widerspiegelungstheorie mündet (vgl. HWPh: 685). Sollte es tatsächlich das Ziel sein, Parmenides in die skizzierte Traditionslinie zu integrieren, wäre der Gesamtzusammenhang von Widerspiegelungen mit Blick auf seine philosophiehistorische Funktion wohl zu weit bestimmt. Denn um den Übergang zur KT zu leisten, muss der allgemeine Begriff von der Wirklichkeit im Ganzen auf den Spezialfall der gesellschaftlichen Wirklichkeit reduziert und unter dem Gesichtspunkt ihrer Krisenförmigkeit gedacht werden, was mit einschlägigen Hegel- und Marx-Deutungen in Hindrichs’ Argumentation auch geschieht.

Der erste Aufsatz fragt nach den Grundbegriffen der KT und expliziert ihre eigentümliche Reflexionsform als Verneinung des Gesamtzusammenhangs von Widerspiegelungen. Der zweite Aufsatz über „Die Idee einer kritischen Theorie und die Erfahrung totalitärer Gesellschaften“ konkretisiert diese Denkfigur in zwei wichtigen Hinsichten. Erstens wird der Vollzug der KT in Anschluss an Hegel als Versuch gedeutet, die eigene „Zeit in Gedanken“ zu fassen (51). Insofern lässt sich die KT als spezifischer Typus philosophischer Zeitdiagnose verstehen, die sich von verwandten sozialwissenschaftlichen Projekten durch ihren spekulativen und holistischen Charakter unterscheiden soll. Zweitens wird der Gesamtzusammenhang von Widerspiegelungen zum Gegenstand kritisch-spekulativer Zeitdiagnose. Hierbei ist es das Ziel, die gesellschaftliche Gesamtwirklichkeit in der „Zeit des Behemoth“ (47) in Gedanken aufscheinen zu lassen, als deren paradigmatisches Phänomen der Totalitarismus gilt. Spekulativ sei die KT hierbei durch den „Selbstüberstieg des natürlichen Denkens“ (61), d.h. des tatsachenfixierten Denkens, wie es – nach Horkheimers berühmtem Aufsatz von 1937 – für traditionelle Theorien charakteristisch ist. Ihre spezifischen Leistungen würden in der Kritik dieses Denkens liegen, z.B. indem sie die gesellschaftliche Gemachtheit und Funktionalität von Tatsachen aufdeckt. Entscheidend ist dabei das Argument, dass die KT ein Problembewusstsein über den Status quo der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt erst möglich mache und auf diese Weise eine radikale revolutionäre Einstellung wachhalte. Wenn Hindrichs das Bild einer mitleidenden Schau der Schiffbruch erleidenden Gesellschaft entwirft, betont er ein affektives Moment, das aber unterbestimmt bleibt.

Hindrichs’ bemerkenswerte Deutungsanstrengungen sollen die KT als negatives spekulatives Denken profilieren und als einen philosophiegeschichtlich radikalen Sonderweg in der Rezeption des Deutschen Idealismus aufwerten. Seine Grundintuition scheint in Sätzen wie „Das Ganze ist das Unwahre“ (MM: 54) zum Ausdruck zu kommen. Im Sinne der parmenideischen Haltung der theoria postuliert die KT zwar noch ein in sich gegliedertes Ganzes, aber sie geht nach Hindrichs davon aus, dass es nicht „darstellbar“ (41) ist – weder in Form einer dialektischen, auf ein philosophisches System zielenden Theorie (Hegel) noch in Form der Praxis einer Revolution (Marx), die dieses Ganze als Lebenswirklichkeit konstituieren und insofern als etwas die Theorie Transzendierendes darstellen würde. KT sei insofern „ein spekulatives Denken nach seiner mißglückten Überführung in die Tat“ (57). Die gesellschaftliche Wirklichkeit müsse nach der KT als eine unwahre gedacht werden; es verbleibe nur die Möglichkeit, ihr undarstellbares Wahrsein ex negativo „im Darstellbaren aufzuweisen“ – und zwar auf der „Ebene des Partialen und Kontingenten“ (42). Der negative Wahrheitsbegriff wird hier offenbar nicht allein im praktischen Sinne als These über das nicht positiv artikulierbare richtige Leben ausgelegt (vgl. z.B. Bittner 2009). Sei es, dass Hindrichs die KT ein ‚Oxymoron‘, einen „scharfsinnigen Unsinn“ (7) oder eine vom Klassenkampf beschmutzte Theorie nennt – es geht ihm vor allem um den Gedanken, dass sie im Spannungsfeld von radikaler Kritik, aussichtslos anmutender Zeitdiagnose und der wachgehaltenen und deswegen paradox erscheinenden (Rest-)Hoffnung auf ein revolutionäres Noch-Nicht (Bloch) anzusiedeln ist.

Adornos Spätwerk als konsequente Erweiterung der DA

Nach Hindrichs ist eine konsequente Erweiterung der KT vor allem in Adornos Denken zu finden, das er als kontinuierliche Entwicklung darzustellen versucht:

Adornos Philosophie entwickelt zwei Wege, den Ausgang zugleich als versperrt anzuerkennen und ihn dennoch zu suchen. Der begriffliche, theoretische Weg soll als negative Dialektik ausbuchstabiert werden; einen zweiten, ebenbürtigen Weg aber bildet die Theorie der ästhetischen Erfahrung. (164)

Im dritten Aufsatz über „Die Modernitätsbestimmung der Dialektik der Aufklärung“ wird zunächst das Ausgangsproblem entfaltet: Sofern ein jeglicher Ausgang – gemeint ist aus dem „stählerne[n] Gehäuse neuzeitlicher Rationalität“ (165) – als versperrt ausgewiesen wird, erscheint jede Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung als verloren. Jedoch ist die wesentliche Leistung der DA hinsichtlich optimistischer Wissenschaftlichkeit im Zeitalter der Extreme (Hobsbawm) nach Hindrichs gerade dadurch charakterisiert, aufzuzeigen, dass das Strukturproblem der Moderne in die Aporie führt. Die abhandengekommene Aussicht auf eine systematische Reaktivierung der in Schuld und Herrschaft verstrickten Vernunft – eben dies ist das Skandalon der DA (92). Wenn Hindrichs Habermas von einer ‚hemmungslosen Vernunftskepsis‘ (92) sprechen lässt, so betrachtet er gerade im Kontrast hierzu „[d]as unreine Verharren in der Aporie“ als die eigentliche Stärke des Werks (110).

Seine Interpretation ist erhellend, weil sie die wesentlichen Motive der DA aufgreift und in einen schlüssigen Gesamtzusammenhang fügt. Auch wenn die transzendentale Idee der Erlösung bzw. des Absoluten (108f.) denknotwendig ist, weil sie die hegelianische Operation der bestimmten Negation erst ermöglicht, kann sie doch nicht als Positivum hegelianisch begriffen, d.h. philosophisch eingeholt werden. Gerade das versuche Habermas’ mit seinem Vorwurf eines „performativen Widerspruch[s]“ (106) zu problematisieren, der die Inkonsistenz der DA unterstreichen und ihre Argumentation ins Leere laufen lassen will. Hindrichs widerspricht, denn das bewusste Aufsichnehmen einer problematischen Befangenheit des Denkens schafft die Vernunft nicht ab, sondern wird ihr erst gerecht. „Es geht ihnen gerade nicht um eine säuberliche Trennung von guter und schlechter Rationalität, sondern um eine radikale Kritik der neuzeitlichen Rationalität schlechthin.“ (109)

Hindrichs versucht, die regulative Idee eines unerreichbar bleibenden versöhnten Zustands am Beispiel des Geschichtsverständnisses der DA zu entwickeln. Deren geschichtsphilosophische Kernthese sei es, Geschichtlichkeit überhaupt als unendliche Vorgeschichte zu verstehen und so den Modernitätsbegriff radikal umzudeuten. Anders als Marx gehe die DA nicht von der Möglichkeit eines Übergangs von der Vorgeschichte qua Naturgeschichte in eine Geschichte freier Menschen aus. Was nach dem Aufgeben des ersehnten Erlösungsmoments bleibe, sei das Eingedenken (Benjamin) ins menschliche Leid im Kontext der Aufklärung, welches Hindrichs paradoxerweise als möglichen Umschlag hin zu einer Neugestaltung der Geschichte wertet.

Im vierten Aufsatz über die „Kulturindustrie“ versucht Hindrichs, die spezifische Rationalitätskritik der KT mit ihrer Kulturkritik zu verbinden. Die Kulturindustrie erscheint dabei als neue Form totaler Herrschaft, die den Einzelnen zur „Einübung der Unmündigkeit“ zwingt (144). Entgegen der allgemeinen Kritik, dass Popkultur und Massenmedien in der DA totalitären Herrschaftsformen gleichgesetzt würden, besitze das vermutlich bekannteste Fragment des Werks (120) einen geheimen Subtext. Hindrichs rekonstruiert, wie zentrale Kategorien der bürgerlichen Kultur und Ästhetik (Versöhnung, Stil, Katharsis, Schein, Tragik, Autonomie und L’art pour l’art) in der kulturindustriellen Gesellschaft transformiert werden. Sie alle werden unter dem „Primat ihrer Verwertbarkeit“ (121) in wirtschaftliche Kategorien übersetzt und integrieren das konsumierende Subjekt in ein totales Verblendungs- und Herrschaftsgefüge, in dem alles einer Funktionslogik und letztlich der Konsumtion und dem Tauschwert untergeordnet ist. In Hinblick auf die Stabilisierung dieses Systems sind beide Aspekte des Widerspruchspaares von Kultur und Industrie ineinander verschränkt. Die industriell beherrschte Wirklichkeit wird kulturell abgebildet und inflationär reproduziert – was bleibt ist die Integration aller Lebensbereiche „in ihre Funktionalität“ (143). Dies bezeichnet die totale Herrschaft des in sich gespiegelten Gesamtzusammenhangs, welcher sich schließlich dem Subjekt einbrennt und die Entfaltung der eigenen Autonomie verhindert.

Hindrichs’ philosophiehistorisch angelegte Deutungen zur Kulturindustrie können insgesamt als Versuch gelten, die KT als einen Beitrag zur Geschichte der Ästhetik ernst zu nehmen. Dieses Ziel wird auch im fünften Aufsatz fortgeführt, und zwar mit dem Fokus auf die Kunst im Kontrast zur Kulturindustrie und als mögliche Lösung der aporetischen Ausgangslage der DA. In der ästhetischen Erfahrung als Erschütterung, in der nach Adorno ein ‚Durchbruch von Objektivität‘ (145) stattfindet, erkennt Hindrichs den Zentralbegriff der Ästhetischen Theorie. Im Hintergrund steht hier die nachvollzogene, aber nicht problematisierte Vorstellung, dass das (eigentlich) Wirkliche inkommensurabel sei, d.h. nicht durch das identifizierende Denken bestimmbar, aber durch gelingende ästhetische Erfahrung ex negativo zugänglich. In der Verschlingung von Objektivität und Subjektivität (Kunstgegenstand und Betrachtung) erlebe das Subjekt seine eigene Versehrtheit durch die Erfahrung der eigenen Begrenzung im Objekt (vgl. 146). Adorno vertritt nach Hindrichs eine Ästhetik, welche die Erfahrung von Kunst als unendliche Prozessualität versteht. Gerade weil die (echten) Kunstgegenstände nicht vollständig „in den Griff“ (161) zu bekommen sind, muss das Subjekt an der Bestimmung des Objekts scheitern.

Voraussetzung ist allerdings, sich angemessen auf das Objekt einzulassen. Diese Arbeit der Erfahrung am Kunstgegenstand schließt auch die „Negation des identifizierenden Zugriffs“ ein, d.h. das Aussetzen des alltäglichen, außerästhetischen Weltzugangs (154f.). Hindrichs unterscheidet dabei streng ästhetische Erfahrungen von bloßen ästhetischen Erlebnissen, wie etwa dem Schock oder anderen emotionalen Zugängen zu Kunstwerken. Ebenso stellt die staatshygienisch erleichternde Katharsis der aristotelischen bzw. lessing’schen Tragödienlehre ein Gegenmodell zu Adornos Konzept der ästhetischen Erfahrung dar, weil hier Subjektivität wiederhergestellt und letztlich affirmiert wird, statt diese nachhaltig zu erschüttern.

Entscheidend ist, dass Hindrichs die Ästhetische Theorie als Transformation von Kants „Analytik des Erhabenen“ deutet. Adorno wende sich gegen die „Apotheose der Vernunft“ (159f.) in Kants Ästhetik, die im Zuge der Unfähigkeit der Einbildungskraft überhöht werde, und er begreife Vernunft demgegenüber nicht als etwas Über-der-Natur-Stehendes. Nicht das „Große im Erhabenen“ führe zum Scheitern der Einbildungskraft und damit zur Erschütterung, sondern das Nicht-Identische, das sich der Vernunft erwehre (161). Adornos Beitrag zu der Frage, warum ästhetische Erfahrungen für uns wertvoll sind, erklärt Hindrichs mit dem Begriff des Inkommensurablen. Wertvolle Kunstwerke lassen unsere Subjektivität scheitern und machen uns unsere (romantisch gefärbte) Sehnsucht nach dem Nicht-Identischen bewusst (vgl. 168).

In Hinblick auf die praktische Wirksamkeit bedeute die ästhetische Erfahrung eine „Rettung aus dem Käfig neuzeitlicher Subjektivität“ (169). Insofern bezeichne der Begriff der Erschütterung das Ausbruchsmoment aus einer verhärteten Subjektivität, die sich der rein funktionalen Vernunft zunächst unterworfen hat. Zur Profilierung von Adornos Position führt Hindrichs den von Walter Benjamin stammenden Aspekt der Rettung durch die Kunst ein. Diese Rettung sei bei Adorno aber keine messianische Rettung von außen, sondern müsse als immanente Kritik verstanden werden. Die autonome und nicht der Philosophie untergeordnete Kunst biete der ästhetischen Erfahrung die Möglichkeit, Subjektivität scheitern zu lassen und „Identifikationsmechanismen zu sprengen“ (177). Sie negiere die Identifikationszwänge neuzeitlicher Rationalität und berge das Nicht-Identische, indem das Individuum aus dem Immanenzzusammenhang perspektivisch ausbreche (179).

Im sechsten Kapitel mit dem Titel „Adornos kritischer Materialismus“ geht Hindrichs der These nach, inwieweit KT und Negative Dialektik (ND) sich „im Fluchtpunkt des Materialismus“ vereinen (181). Sofern die ND in der bis in die Antike zurückreichenden dialektischen Tradition steht, wendet sie sich durch den Bruch mit jeglicher Positivierung gegen diese. Hegels bestimmter Negation folgend, wende sie sich gegen die Einseitigkeit von Tatsachenfeststellungen und darüber hinaus auch gegen Hegels Schlussfolgerung, dass die Darstellung des dialektischen Prozesses von Verneinungen im Ganzen selbst ein Positivum sei. Adorno ziele in der ND auf eine „eigensinnige Negation“: „eine Negation, die Sachbestimmungen nicht nur verneint, sondern als solche die Sache bestimmt, ohne sie in einen positiven Gesamtzusammenhang von Verneinungen zu integrieren.“ (184) Damit ist die Auflösung des Strukturproblems der ND keine bloße Affirmation des Negativen, was als eine praktische Fixierung auf „Leid, Unterdrückung, Tod“ verstanden werden könnte (186). Vielmehr werde die auf den Gegenstand gerichtete und von ihm abprallende Denkbestimmung der Nicht-Identität über sich hinausgetrieben. Die ND artikuliere das Andere, indem die Negation der Sachbestimmungen selbst negiert wird und so der Eigensinn Geltung erfährt. Hindrichs verweist auf den Terminus Konstellation als Bezeichnung für diesen Eigensinn, arbeitet jedoch die damit gemeinte Verfahrensweise nicht heraus, die einzelne Momente oder Begriffe in ein konkretes Verhältnis zueinander bringt, statt sie gewissermaßen abstrakt aus einem auf ihren allgemeinen Oberbegriff ausgerichteten Stufengang herauszudeduzieren (vgl. ND 164f.).

Hindrichs bestimmt Adornos Materialismus der ND als eine aus den logischen Identifikationsmechanismen ausbrechende Bewegung. Im Anschluss an Feuerbach, Marx und Horkheimer verstehe Adorno den Materialismus als Einspruch gegen einen Idealismus, der die Wirklichkeit verzerrt. So vollende Adorno die skizzierte Tradition, „indem er den Materialismus ausschließlich als Kritik konzipiert“ (202f.). Dabei mache Adorno zwar auch von der negativ-dialektischen Logik Gebrauch, übersteige diese jedoch gleichzeitig in der Hervorbringung des nicht-identischen Anderen. Dieses von Hindrichs auch als „metalogisches“ und „leibhaft-materielles“ bezeichnete Andere könne mit logischen Kategorien nicht mehr greifbar gemacht werden und bilde als immanente Kritik „den logischen Ort von Transzendenz“ (205f.). Im Vollzug der ND sprenge die von Hegel kommende dialektische Notwendigkeit der Begriffsentwicklung ihren eigenen logischen Operationsrahmen und finde sich insofern in einer transzendenten Kritik wieder (205). Ob aber damit wirklich ein Ausbruch aus einem immanenten Zusammenhang stattfinden und eine andere Perspektive abseits aller Herrschaftsaffirmation etabliert werden kann, muss offenbleiben. Zwar gelingt es Hindrichs, seine Ausgangsthese von der ND als Fortführung der KT einzulösen, doch bleibt hierbei die genaue Herleitung des Leibhaft-Materiellen als das Andere des identifizierenden Denkens genauso im Unklaren wie die Gründe für die Privilegierung des Leidens innerhalb des postulierten Prozesses der Selbstartikulation.

Hindrichs Kritik an Habermas und an der neueren ‚Frankfurter Schule‘

Insbesondere im zweiten Aufsatz arbeitet sich Hindrichs in einer Tour de Force an prominenten Namen der Texttradition (Marcuse, Honneth und Jaeggi) ab. All diese Unternehmungen würden die KT in eine Form traditioneller Theorie oder traditioneller Kritik umdeuten. Nach Hindrichs ist es Habermas, der diesen Bruch in der Geschichte der KT eingeleitet habe. Bei ihm und seinen NachfolgerInnen sei die KT letztlich zur „Ideologie des liberalen Staates“ geworden (84). Hindrichs’ kaum entfalteter Ideologievorwurf setzt Kriterien voraus, die er zuvor dem spekulativen Denken zugeschrieben hat. So werde ein bestimmter Status quo wie die liberale Demokratie nicht einfach als gegeben gesetzt, sondern mithilfe der stets auch selbstreflexiv gewendeten Zeitdiagnose einer radikalen Kritik unterzogen. Der Vorwurf scheint darauf hinauszulaufen, dass die neueren Ansätze mit „ihrem nachmetaphysischen Zuschnitt“ (89) gesellschaftliche Veränderungen nurmehr noch als Lern- oder Reformprozesse eines letztlich affirmierten Ganzen deuten würden. Hindrichs hält der KT der Adorno-Horkheimer-Tradition zugute, einen Begriff für wirklich radikale gesellschaftliche Veränderungen zu verteidigen und diesen zugleich in Hinblick auf deren Realisierbarkeit zu problematisieren. Auch wenn man Hindrichs hierin folgen mag, dürfte die Fundierung des besonderen Problembewusstseins in einer spekulativen Zeitdiagnose Kritikern der KT zu weit gehen (vgl. Hastedt 2019: 24).

Hindrichs’ vorletzter Aufsatz mit dem unscheinbaren Titel „Habermas und die neuzeitliche Subjektivität“ ist im Kern eine große Provokation. Während an anderer Stelle die Theorie des kommunikativen Handelns (TkH) als „umfassende Neubegründung“ der KT gewürdigt wird (Forst 2008: 286), beinhaltet sie in Hindrichs’ Deutung nur „Erwägungen über das, was man eben brauchen mag, um sich miteinander zu verständigen“ (232f.). Der Aufsatz soll die wunderliche Rezeptionsgeschichte für „ein derart einfaches, ja schlichtes Konzept“ (212) erklären und zugleich korrigieren. Habermas’ Denken verstehe sich selbst als „das ‚unvollendete Projekt der Moderne‘“ (9). Hindrichs möchte einen damit verbundenen doppelten Anspruch destruieren. So sei die TkH weder eine Legitimationsquelle zur Wiederaufnahme eines emanzipatorischen Projekts nach der DA, noch könne sie die traditionelle Subjektphilosophie überwinden oder überbieten. Um zu zeigen, dass die TkH dem Problemstand der Subjektphilosophie verhaftet bleibe, macht Hindrichs – im Stil einer internen, nicht streng durchgehaltenen Kritik – stillschweigend vorausgesetzte Prämissen in der Metapher vom ‚Projekt der Moderne‘ geltend. Ziel dieser Kritik ist es, Habermas’ Anspruch auf eine überlegene Version der KT als alten Wein in neuen Schläuchen auszuweisen: „Der Moderne neue Kleider wären dann: Verständigung, Zwanglosigkeit, Intersubjektivität.“ (233) Den Paradigmenwechsel von der Subjektphilosophie zur Kommunikationstheorie (vgl. z.B. TkH I: 518f.) versteht Hindrichs so, dass Habermas den von Kant und Hegel entfalteten Subjektbegriff völlig verwirft. In seinem jüngsten Buch unterstreicht Habermas, dass er auf die unter Schlagwörtern wie Apperzeption oder Synthesis diskutierten „Leistungen einer weltkonstituierenden und gesetzgebenden Subjektivität“ nicht verzichten will, sondern die kantische „Trennung zwischen der intelligiblen und der erscheinenden Welt“ hinterfragt (Habermas 2019: 1232). Damit würde Hindrichs’ aufwendiger Nachweis einer latent bleibenden Prämisse des Subjekts ins Leere laufen. Hindrichs dürfte die genannte Klarstellung allerdings als längst überfällige Revision von Habermas’ früheren Arbeiten werten.

Im abschließenden Aufsatz deutet Hindrichs den Begriff „Kommunikative Macht“ als Schlüssel zu Habermas’ Denken. Das gesamte Werk laufe auf eine politische Philosophie hinaus, die die Gesellschaft an einer rein formalen „Idee des Guten“ (258) auszurichten vorschlägt. Die kommunikative Vernunft soll als legitim erwiesen und durch die ebenfalls als legitim erwiesene rechtsstaatliche, liberale Ordnung konsolidiert und ausgedehnt werden. Hindrichs’ Hauptinteresse liegt auf dem „Zugleich von Faktizität und Geltung“ (254), d.h. auf dem Zusammenhang zwischen der normativen Begründungsfunktion des Diskursprinzips und den Behauptungen über dessen faktische Wirksamkeit im Handeln. Sein Anspruch ist es, Habermas’ Philosophie in ihrem „Grundgedanken“ (259) zu kritisieren. Unbegründet sei das Diskursprinzip, weil unklar bleibe, warum die Teilnahme an Diskursen ihrem Austritt vorzuziehen sei, und ideologisch sei es im Sinne Adornos, weil „die Infragestellung eines Inhaltes durch dessen Bestehen ersetzt wird“ (262). Der Vorwurf fehlender Begründung ist möglich, da Hindrichs das instrumentelle Handeln als Alternative zum Diskurs deutet. Der Ideologievorwurf ist möglich, da Hindrichs das Postulat der Unhintergehbarkeit des Diskurses als dogmatische Setzung eines Pseudofaktums und somit als Sein-Sollen-Fehlschluss versteht. Im Zuge dieser Kritik werden allerdings weder die Versuche berücksichtigt, den methodologischen Stellenwert von Diskursen zu begründen, noch die Erwiderungen zum sog. intellektualistischen Fehlschluss, in denen die Trennung zwischen diskursiver Praxis und nicht-diskursiver Praxis hinterfragt wird (vgl. Werner 2011: 143). Vielmehr endet Hindrichs mit einer wortmächtigen Kritik, die mit den negativen Konnotationen des Machtbegriffs spielt: Die Menschen würden zu „Kommunikationsfunktionen“ (263) und die rationale Kommunikation übe „Macht über die Einzelnen“ aus (254f.). Wäre dies so gemeint, dass Menschen zur Durchführung von rationalen Diskursen verpflichtet werden sollten, würde es sich um ein verbreitetes Missverständnis handeln (vgl. Werner 2011: 146). Vielleicht um Eindrücke wie diese zu vermeiden, hat Hindrichs der Neufassung des Aufsatzes anerkennende Worte über Habermas’ Lebenswerk nachgeschaltet. Zwar bleibt er dabei, dessen Theorie als Ideologie zu bezeichnen, aber er hält sie für „das Beste, was wir haben“ (263).

Hindrichs’ Aufsatzsammlung Zur kritischen Theorie ist zweifellos in dem radikalen philosophischen Geist geschrieben, den er in seinen lesenswerten Interpretationen herauszuarbeiten versucht. Insbesondere die zahlreichen philosophiehistorischen Querverbindungen sind ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der Position Adornos und der Position des frühen Horkheimers. Es bleibt zu hoffen, dass Hindrichs seinen Vorschlag weiter ausarbeitet, die KT als eine Sonderform spekulativen Denkens zu begreifen. Dann könnte der hier skizzierte Ansatz vielleicht tatsächlich einen kritischen Beitrag zur Selbstverständigung der neueren Frankfurter Schule leisten.

Literatur

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Hastedt, Heiner. „Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen. Einleitende Bemerkungen.“ In Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Heiner Hastedt, 11–34. Bielefeld: Transcript, 2019.

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Schmidt, Christian. „Die Kritische Theorie der Frankfurter Tradition als Projekt.“ Philosophische Rundschau 59.1 (2012), 50–77.

Werner, Micha H. Diskursethik. In Handbuch Ethik, hg. von Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, 140–151. Stuttgart: Metzler, 2011.

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