Bennent-Vahle, Heidemarie: Besonnenheit – eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 367 Seiten. [978-3-495-49151-5].

Rezensiert von Jonas Puchta (Universität Rostock)

Nachdem das delphische „Gnothi seauton“ bereits über zweitausend Jahre Wirkungsgeschichte zurückgelegt hatte, ruft Johann Wolfgang von Goethe die Philosophen, die von der berühmten Forderung nach Selbsterkenntnis seit jeher in ihren Bann gezogen wurden, wiederum selbst zum Maß auf:

Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: ,Erkenne dich selbst!‘, so müssen wir es nicht im asketischen Sinne auslegen. […] Gib einigermaßen acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst! Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quälereien […]. (Goethe 1966: 485)

Auch Heidemarie Bennent-Vahle berücksichtigt implizit diese Warnung aus der Feder Goethes mit ihrer neuen Monografie, in der sie die Besonnenheit als eine Form der Selbsterkenntnis begreift, bei der die Emotionen gerade keine Unterdrückung erfahren, sondern vielmehr im Rahmen des menschlichen Fühlens eine fundamentale Rolle im gegenseitigen Umgang einnehmen sollen. Auf über 300 Seiten bemüht die Autorin die Besonnenheit als eine „sehr alte Tugend“, die sie angesichts der „spezifischen Herausforderungen der modernen Lebenswelt“ für die Gegenwart differenzieren und akzentuieren will (13). Da sich die Kernaussagen des Buches oftmals wiederholen, sollen sie im Folgenden sinngemäß in chronologischer Reihenfolge entfaltet, erläutert und diskutiert werden, ohne dabei die einzelnen Kapitel hervorzuheben.

Für das Verständnis der Besonnenheit sind Bennent-Vahle zwei Annahmen leitend, welche die gesamten Überlegungen dominieren. In erkenntnistheoretischer Hinsicht wird die „perspektivistische Verankerung“ des Menschen in ein „emotionales Milieu“ oder in ein Umfeld konstatiert, dessen „emotionale Einflüsse“ eine maßgebliche persönliche Prägung begründen, welche die tradierte Spaltung von Vernunft und Gefühl erübrigt (15f., 154ff., 305). Als Menschen sind wir durch unsere „leibliche Gebundenheit“ einer „jeweils einzigartigen, perspektivistisch begrenzten Mittelpunktstellung“ verhaftet, wobei diese „Eingeschlossenheit in einen Leib“ uns unsere Einseitigkeit, Abhängigkeit und Verwundbarkeit offenbart (109, 145). Wenn bislang in traditioneller Hinsicht besonnene Personen als Personen galten, die „über“ ihren emotionalen „Beunruhigungen“ stehen, wogegen unbesonnene Personen ihren Affekten unterliegen, dann muss dieses klassische Verständnis als das „Idealbild eines überlegenen Selbstbesitzes“ oder auch das Ideal „vollkommener Kontrollierbarkeit“ fraglich werden (15ff., 19ff., 154.). Aus gesellschaftspolitischer Perspektive problematisiert Bennent-Vahle die Selbstbehauptung des Individuums, das diese Beschaffenheit in der Stellungnahme zu seinen Emotionen ignoriert – entweder, wenn es unter dem von der Wirtschaft instrumentalisierten Etikett der Authentizität oder im von Zorn und Angst geprägten politischen Diskurs einen weitestgehend unhinterfragten Umgang mit ihnen pflegt. (20ff., 31f., 48, 68, 78, 115ff.). Auf individueller Ebene dominiert der Glaube an das „effektive Selbstmanagement“ und das Streben nach persönlicher Perfektion durch die „freie Selbstmodulierung“ (145f., 154, 160), während in den politischen Auseinandersetzungen die Kommunikationsverweigerung oder die zunehmend verstärkte Bekämpfung von Tatsachenwahrheiten bei gleichzeitiger Inkaufnahme von Lügen oder „alternativen Fakten“ an Zulauf gewinnt (40–44, 53, 158, 161, 167).

Wenn der Mensch auf Grundlage dieser Vorannahmen ein „denkfähiges Gefühlswesen“ ist, das sich nie vollkommen von seiner Leiblichkeit lösen kann, und das zugleich in individueller und kollektiver Hinsicht seine Selbstverortung um den Preis eines „Wirklichkeitsverlustes“ (22) zu wenig problematisiert, dann muss die von der Autorin formulierte Frage laut werden, „was es überhaupt noch heißen kann, besonnen zu agieren“ (24). Gefragt wird nach einem „realistischen Selbstverhältnis“, das eine „gesteigerte Schulung der Aufmerksamkeit auf emotional-leibliche Erfahrungsweisen“ notwendig macht, wobei diese „Schule der Besonnenheit“ auf allen gesellschaftlichen Ebenen auch der Demokratiefähigkeit förderlich sei (23). Dafür müssen die sozialen Anlagen des Menschen und seine „gefühlsmäßige Weltverflochtenheit“ in den Blick genommen werden, sodass auf Grundlage von „phänomenologisch inspirierten“ Betrachtungen des „menschlichen Mitseins und des dazugehörigen Weltspektrums“ die „zentrale Bedeutung einer Kultivierung des Mitfühlens im Aufbau einer besonnenen Haltung“ herausgearbeitet werden kann (24, 27). Wie die Autorin zeigen möchte, bezeichnet die Besonnenheit dann die „innere Einstellung“, „eigene Präferenzen im Blick auf das Gemeinschaftliche zu überdenken – nach kritischer Abwägung gegebenenfalls auch zu relativieren“ (23f.).

Dabei droht Bennent-Vahle bereits vor den dafür notwendigen Analysen ihr Vorhaben durch implizite Widersprüche zu unterlaufen. Mit Rückgriff auf William James und Friedrich Nietzsche stellt sie fest, dass es keine befriedigende Möglichkeit gibt, „die Erste-Person-Perspektive in ein Meta-Vokabular neutraler Betrachtungen zu übersetzen“ (56), wobei es an anderer Stelle ähnlich heißt, „dass unsere jeweiligen Erfahrungen als Fühlende unteilbar sind und damit gewissermaßen auch un(mit)teilbar“ (176). Hinsichtlich des Anspruches der Autorin und aus phänomenologischer Perspektive wäre dies aber dringend nötig. Denn wie soll das „menschliche Mitsein“ in den Blick kommen oder eine Selbstverortung vollzogen werden, wenn die dafür nötigen Aussagen aufgrund dieser methodischen Vorannahmen gar nicht möglich sind? Die Aufgabe der dafür gefragten Phänomenologie besteht gerade darin, das, was uns spürbar nahegeht, gemessen an der Lebenserfahrung durch objektiv nachvollziehbare Begriffe zur Sprache zu bringen und verständlich zu machen. Erschwert wird dieser Anspruch auch durch das Postulat der Autorin, nach dem wir nur „vermeintlich wahre Sätze“ konstruieren oder den „fiktionalen Charakter“ unserer „Allgemeinbegriffe“ vergessen und stets auf „verfälschende Sprachkonventionen“ angewiesen bleiben (57). Im Umkehrschluss will Bennent-Vahle mit diesen Annahmen gerade nicht die Existenz einer vom Menschen unabhängigen Realität oder die Erfassbarkeit von Tatsachen leugnen, sondern vielmehr darauf aufmerksam machen, dass uns absolute Erkenntnis verwehrt bleibt, weshalb sowohl die menschliche Begrenztheit als auch die daraus resultierende „pluralistische Ausrichtung der menschlichen Existenz“ anzuerkennen sei. Das Eingeständnis, dass das Leben eine „Vielheit“ darstellt, soll Bescheidenheit, Zurückhaltung, Toleranz und eine „Selbstrelativierung“ bewirken und zugleich vermitteln, dass wir auf das „Beisammensein“ der Mitmenschen angewiesen sind und kompromissbereiter und immerwährend unvollendeter Dialog notwendig ist (55, 58ff., 67, 88f., 109ff., 167).

Selbst wenn aber dieses pragmatische Weltverständnis der Autorin nicht die Verneinung der Tatsachenwelt begründen will (83), muss dagegen trotzdem die Frage nach angemessenen Kriterien laut werden, die den postmodernen und relativistischen oder auch sozialkonstruktivistischen Tendenzen, die sich schon in James’ und Nietzsches Werk ankündigen, Einhalt gebieten können. Es war Nietzsche, der vehement betonte, dass keine Tatsachen, sondern nur noch die menschliche Interpretation und Auslegungskraft Geltung beanspruchen können (vgl z.B. Nietzsche 1988: 100f., 104, 114, 149, 315). James hat auf ganz ähnliche Weise die „Wirklichkeit“ von den an der Nützlichkeit gemessenen Perspektiven des Menschen abhängig gemacht und Wahrheit wesentlich als ein menschliches Produkt verstanden (James 1994: 36, 38ff., 51, 126, 137, 156, 159). Es ist fraglich, wie die Autorin, wenn sie dazu jede Möglichkeit des beobachterunabhängigen Wissens über die Welt ausräumt (52, 260f.), radikale politische Kräfte und die Befürworter von „Fake News“ überzeugen oder der verstärkten Bekämpfung von Tatsachenwahrheiten entgegenarbeiten will. Auf Grundlage ihrer eigenen erkenntnistheoretischen Grundannahmen kann gar nicht ernsthaft entschieden werden, welche Perspektive der Wirklichkeit näher kommt oder welche Formen des sozialen Miteinanders wünschenswerter sind (vgl. für dieses Problem auch Rorty 2008: 64). Der bloße Verweis auf die Notwendigkeit des gemeinsamen und unerschöpflichen Dialogs ist zwar wichtig, aber nicht ausreichend, wenn sich jede Konfliktpartei stets auf ihre Position zurückziehen kann, weil, wie es heißt, moralische Zuschreibungen keinen „absoluten Wert“ besitzen, selbst „Fühlereignisse“ stets mit „gedanklichen Einschätzungen und kulturell vermittelten Werteinschätzungen“ angereichert sind oder grundsätzlich „die jeweils spezifische Perspektive auf die Wirklichkeit wie auch die genaue Beschaffenheit des emotionalen Erlebens“ einzigartig sein sollen (60, 155, 176, 205).

Bennent-Vahle stellt die von ihr im Titel des Buches betonte „ethische Relevanz des Fühlens“ vor allem hinsichtlich des von ihr dargelegten unzertrennbaren Verhältnisses von Besonnenheit und Mitgefühl heraus (92, 144, 160), deren Zusammenspiel auf die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart antworten soll. Weil die Selbstkorrekturen oder die Selbsterkenntnis im Rahmen der Besonnenheit nicht einer zwanghaften Selbstbeschneidung entspringen sollen, ist die „Motivationskraft“ des Mitgefühls nötig. Diese will die Situation des anderen tiefergehend verstehen und nachvollziehen, wofür es auch erforderlich ist, sich als verletzliches und begrenztes Gefühlswesen anzunehmen (170, 260). Die Autorin wirft hier einen alten Gedanken auf, der zum Beispiel schon aus christlicher Perspektive im Werk von Bernhard von Clairvaux von Bedeutung ist, wo es heißt:

Damit du aber für fremdes Elend ein mitleidiges Herz haben kannst, mußt du zuerst dein eigenes Elend kennen, so daß du in deinem Hunger das Herz des Nächsten findest und aus dir selbst erkennst, wie du ihm helfen kannst […]. (Bernhard von Clairvaux 1992: 55)

In jüngerer Zeit hat Corine Pelluchon dieses christliche Verständnis auf säkulare Weise zu einer „Ethik der Wertschätzung“ ausgearbeitet (Pelluchon 2019: 36–43) und auch Bennent-Vahle kommt es darauf an, die schon in der frühen Phase des menschlichen Lebens nachweisbare Wertschätzung anderer Personen zu einem Verständnis von Gegenseitigkeit und wechselseitiger Anerkennung zu entwickeln (193). Wirklich mitfühlen kann ein Mensch demnach nur dann, wenn ihm vermittelt wird, dass er auch seine Begrenztheit oder Kontingenz sowie Erfahrungen von Getrenntheit, Einsamkeit und Leid in sein Leben integrieren darf und muss, sodass er umso nachsichtiger und aufgeschlossener dem anderen gegenüber handelt (75f., 279f.). Dafür muss man über das bloße Mitleiden hinausgehen, indem man ein „echtes Mitgefühl“ kultiviert, bei dem es nicht nur auf den bloßen Impuls der spürbaren Anteilnahme ankommt. Nicht weniger entscheidend ist die bewusste Distanznahme, durch die man sich selbst reflektierend auch die Eigenheit des jeweils anderen Standpunktes nachvollzieht und anerkennt, auch wenn man sich gerade nicht in der Lage der entsprechend andersartigen Person befindet – oder ihr sogar feindselig gegenüber steht (160, 171f., 187, 189, 221). Um eine damit einhergehende Haltung echter Fürsorge zu befördern, muss zum einen die Grundvoraussetzung erfüllt sein, dass insbesondere in der Kindheit ein Raum dafür geschaffen wird, „prosoziale Empathiepotentiale“ tatsächlich ausschöpfen zu können, um zum anderen das daraus entwachsene Vermögen unablässig zu erweitern und zu verfeinern (181).

Für dieses Vorhaben stellt die Autorin drei Ebenen „emotionaler Bezogenheit“ oder auch eine „Skala der Mitgefühle“ als „Formen der Bezogenheit zwischen Menschen“ heraus, die jeweils mit bestimmten Stadien der menschlichen Entwicklung und der frühkindlichen Situation korrespondieren (182, 194). Auf der Ebene des „angeborenen Resonanzvermögens“ oder der „zwischenleiblichen Kommunikation“ wird auf die schon für Säuglinge bedeutsamen „Fühlereignisse“ aufmerksam gemacht, die nicht nur den ersten und grundlegenden Weltzugang eröffnen, sondern auch den habituellen leiblichen Kontakt und Umgang des Menschen mit seiner Umgebung prägen (195–203). Darüber hinaus eröffnet die Empathie ein Verständnis von der Verschiedenheit der Menschen, wenn man sich in die „besondere“ Perspektive des anderen einzufühlen vermag (206f.). Davon ist auf der dritten Ebene wiederum das oben bereits angesprochene Mitgefühl verschieden, das als „moralwertiges Empathiebestreben“ eine grundlegend ethische Ausrichtung aufweist, wenn man in der Anerkennung der anderen gleichberechtigten Existenz ein lebendiges Interesse an deren Wohlergehen hat und dabei zu ergründen versucht, „worum es diesem anderen für sich selbst geht“ und „was seinen Lebensinteressen zuträglich ist“ (210ff.). Mit Blick auf die eingangs herausgestellten gesellschaftspolitischen Herausforderungen soll Kraft dieser „emphatischen Aufmerksamkeit“ zum einen eine Relativierung des rein individualistischen Verständnisses der Selbstverwirklichung gelingen, und zum anderen angesichts sozialer Vielfalt und kultureller Divergenzen der gesellschaftliche Zusammenhang gestärkt werden (216, 220). Der „reife Nachvollzug anderer“ impliziert eine „dialogische Grundausrichtung“, welche die Fähigkeit zur Distanznahme von der eigenen Ergriffenheit voraussetzt, um einen versuchsweise neutralen oder fairen Standort einzunehmen und seine Gefühle und Vorurteile nicht auf den Mitmenschen zu projizieren (32, 225, 228f., 237f., 240).

Auf Grundlage des pragmatischen und perspektivistischen Vorverständnisses der Autorin liegt das Problem dieses Anspruches nicht im Mitfühlen als solchem, sondern vielmehr in der aus ethischer Perspektive noch relevanteren Frage, mit wem es aus welchen vertretbaren Gründen angemessen sein soll, auf moralische Weise empathisch zu sein. Solange diese Frage unbeantwortet bleibt und auch das Mitfühlen nicht wertneutral ist, sondern von kultur- und sozialbedingten Kriterien abhängt (185), ist es der Perspektive des einzelnen Individuums anheimgestellt, ob es sein Mitgefühl nur auf Gleichgesinnte limitiert, auf die Mitglieder seiner Kultur beschränkt oder es auch auf andere Kulturkreise ausweitet. Die bloße Charakterisierung des Mitfühlens ist nicht ausreichend, weil das für die Gesellschaft noch fundamentalere Problem hinsichtlich der verschiedenen Ausdeutungen des erwünschten Zusammenlebens nur verschoben ist – was zum Beispiel auch dann der Fall ist, wenn die Autorin der Frage nach den Mitgefühlen für „Extremtäter“ aus dem Weg geht (187).

Die Autorin betont stattdessen den für die Besonnenheit relevanten Selbstbezug, wenn sie den Lesenden einen praxisorientierten „Leitfaden emotionaler (Selbst)Prüfung“ an die Hand gibt, der schrittweise als „Gebrauchsanweisung“ für eine konkretere „Besonnenheitspraxis“ dient (301). Da die Besonnenheit das „willentliche Abstandnehmen von spontanen Impulsen“ impliziert, um sich in der umsichtigen Selbstverortung einem Sachverhalt oder Problem von möglichst allen Seiten zu nähern (300, 329), ist eine „Angemessenheitsprüfung“ nötig, die unsere „emotionalen Reaktionsmuster“ hinterfragt. Dafür braucht es erstens ein Gefühlswissen, durch das man die bemerkte Emotion identifiziert, wofür zum einen entsprechend brauchbare Begriffe dienen müssen und zum anderen eine echte Bereitschaft zum Erkennen des eigenen Erregungszustands entwickelt werden sollte (306). Diesem Vorgehen folgt ein „Realitätscheck“, anhand dessen man sich ernsthaft zu fragen hat, inwiefern das Ereignis, auf das sich die Emotion bezieht, einen „realen Gehalt“ besitzt oder eine „adäquate Interpretation“ erfährt (312). Drittens erfolgt daraufhin eine „Werteüberprüfung“, die nach der Berechtigung der Emotion fragt, indem man sich zum Beispiel vergewissert, inwiefern das Verhalten eines Gegenübers tatsächlich den eigenen Zorn verdient oder ob man nicht vielmehr selbst unberechtigte Ansprüche erhebt (314). Im vierten Schritt muss schließlich erneut abgewogen werden, ob es ratsam ist, auch dem Anspruch einer berechtigten Emotion wie dem Zorn freien Lauf zu lassen (316).

Auch wenn dieser Leitfaden der Autorin wichtige Impulse für die Selbstbehauptung liefert, ist doch zweierlei bedenklich. Zum einen besteht gerade ein fundamentales Problem für die politische Auseinandersetzung und noch viel mehr für die Protestkultur darin, dass derzeitig kaum gemeinsam geteilte Werte vorliegen, die man für alle Konfliktparteien gleichermaßen wie selbstverständlich voraussetzen könnte, sodass sich daraus eine für alle sinnvolle Angemessenheitsprüfung ableiten lassen könnte; ein Paradebeispiel liefern dafür die jüngsten Wahlen der Vereinigten Staaten von Amerika. Die tiefergehende Frage muss also aus ethischer Perspektive lauten, welche Werte in der gemeinsamen Situation aus welchen Gründen eigentlich Geltung beanspruchen dürfen und welche nicht. Zum anderen setzt der Leitfaden zur emotionalen Selbstprüfung bereits ein so hohes Emanzipationsniveau der Person voraus, dass sie sich bereits in ausreichender Distanz zu ihrer Ergriffenheit fragen kann, was ihr eigentlich widerfährt. Im Moment der unmittelbaren Situation, in der zum Beispiel der Zorn auf politische Gegner:innen wütet, wird die emotionale Distanznahme für eine Angemessenheitsprüfung immer einen Schritt zu spät einsetzen und dafür eine grundlegende Schulung im Umgang mit der eigenen Ergriffenheit voraussetzen müssen. Wohl auch deshalb ist Bennent-Vahle im Verlauf ihrer gesamten Überlegungen immer wieder bemüht, die Notwendigkeit eines frühzeitig einsetzenden pädagogischen Umgangs im Rahmen einer „emotionalen Bildung“ herauszustellen, die der „Praxis affektiver Selbstvergewisserung“ und der „eigenständigen Urteilskraft“ Rechnung trägt (81f., 85).

Dieser Ansatz offenbart gleichermaßen die Schwächen und Stärken des Buches. Irreführend ist dessen Titel, der die Erwartung weckt, es handele sich um eine systematische und theoretisch fundierte Rehabilitierung der Besonnenheit in politischer Absicht, die ihre Grundlagen aus der philosophischen Tugendethik bezieht und diskutiert. Dass dem nicht so ist, wird bereits an der nur beiläufigen Behandlung von „Klassikern“ wie Platon oder Aristoteles ersichtlich (50, 93-103). Eine weitere Schwäche offenbart sich an den widersprüchlichen und bereits oben problematisierten erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Autorin. Hinzu kommt die sich über die gesamten Überlegungen erstreckende mangelnde Begriffsführung, wenn beispielsweise Gefühle oder Mitgefühle kaum nachvollziehbar von Emotionen und Affekten unterschieden werden oder eine zu vage Bestimmung erfahren, die den Phänomenen nicht immer gerecht werden kann (141, 180, 182f., 191, 308f.). Wenn auch die kulturkritischen Bemerkungen der Autorin bezüglich der modernen Lebensführung ihre Berechtigung haben mögen, hätten diese zugunsten ihrer Überzeugungskraft an einigen Stellen ein zum Beispiel durch soziologische Studien gestärktes Fundament verdient (20ff., 80f., 144–150, 219, 250, 254, 269).

Ungeachtet dessen wird im Verlauf der Überlegungen deutlich, dass hier eine Philosophin spricht, deren Perspektiven aus der philosophisch-pädagogischen Praxis ins Herz von politischen Konflikten zielen und gerade hier ihre Stärke entfalten. Auf Grundlage der These, dass das Politische eine „Angelegenheit höchstpersönlicher Charakterbildung“ ist (24), wird immer wieder plausibel angeführt, wie entscheidend eine Kultivierung des Mitgefühls oder eine „kontinuierliche Arbeit am Selbst“ ist (216), die auf Erziehungs- und Bildungsformen angewiesen ist, welche „die Sozialisation mitfühlend-besonnener Persönlichkeiten“ gewährleisten soll (242, 265). Die Erziehung muss, so die Autorin, die Empathiefähigkeit und das wertschätzende Interesse von Kindheit an ermöglichen sowie der eigenen Urteilskraft und konsequenten Selbstüberprüfung förderlich sein (265, 268). Mit Blick auf diese gelungenen Überlegungen hätte die Aufmachung des Buches ihren grundlegenden Fokus nicht auf die Besonnenheit als eine Tugend, sondern vielmehr – gerade hinsichtlich der praktisch-pädagogischen Ausrichtung der Autorin – auf die „Relevanz des Fühlens“ legen müssen, auf die zwar schon im Untertitel des Buches aufmerksam gemacht wird, aber die das eigentliche Anliegen der Überlegungen dominiert.

Bennent-Vahle stellt vor allem abschließend einen pädagogischen Auftrag heraus, dem sich Lehrpersonen auf einfühlsame Weise stellen müssen (271–279, 283–286). Für dessen Umsetzung kann das „Philosophieren mit Kindern“ von Bedeutung sein, durch das zum Beispiel das „Hineinfühlen“, das In-Distanz-Treten oder der wertschätzende Umgang mit Fremdartigkeit eingeübt wird (286-301). So wird die Besonnenheit von der Autorin als ein unmittelbar auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen einwirkendes Therapeutikum verstanden, das Bestandteil einer frühzeitig geförderten Praxis der Selbstverortung und umsichtigen Selbstbehauptung ist. Hierfür bedarf es nicht nur noch konkreterer und an der Lebenserfahrung erprobter phänomenologischer Begriffe, die diese Selbsterkenntnis des Menschen in Eigenverantwortung erst ermöglichen können (vgl. für diesen Anspruch z. B. Schmitz 1990), sondern auch ausgefeilte Methoden der pädagogischen Praxis, die möglichst vielen Menschen zugänglich sein müssen.

Literatur

von Clairvaux, Bernhard. „Über die Stufen der Demut und des Stolzes“. Übers. von Paul Sinz. In Sämtliche Werke Bd. 2, hg. von Gerhard Winkler, 31-131. Innsbruck: Tyrolia-Verlag, 1992.

Goethe, Johann Wolfgang. „Maximen und Reflexionen“. In Werke in 12 Bänden Bd. 7, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, 453-575. Berlin/Weimar: Aufbau Verlag, 1966.

James, William. Der Pragmatismus. 2. Auflage. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1994.

Nietzsche, Friedrich. Nachgelassene Fragmente 1885-1887, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Auflage. München/Berlin/New York: Deutscher Taschenbuch Verlag/DeGruyter, 1988.

Pelluchon, Corine. Ethik der Wertschätzung. Übers. von Heinz Jatho. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2019.

Rorty, Richard. Philosophie als Kulturpolitik. Übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008.

Schmitz, Hermann. Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn: Bouvier Verlag, 1990.

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