Wagner, Peter: Fortschritt. Zur Erneuerung einer Idee. Übersetzt von Sebastian Esch und Theresa Friedlmeier. Frankfurt am Main/New York: Campus 2018. 174 Seiten. [978-3-593-50748-4]

Rezensiert von Christian E. W. Kremser (Frankfurt am Main)

Die Idee des Fortschritts und das neu entbrannte Interesse an ihr

Bei der Idee eines allgemeinen Fortschritts, der neben dem Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnisbeständen und der Erfindung technischer Innovationen – beides zum Zwecke der Naturbeherrschung – eben auch Verbesserungen in allen Bereichen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens umfasst, handelt es sich zweifelsohne um den großen Topos der Aufklärung. Diese Idee wurde erstmals im Rahmen der zu Beginn der Moderne neu entstandenen Disziplin der Geschichtsphilosophie formuliert. Kaum etwas Anderes steht so sehr für die Aufklärung wie sie, schließlich knüpfte sich der aufklärerische Optimismus an die Hoffnung, dass sich durch den Gebrauch von Vernunft mit Irrglaube und Ideologie alle Hindernisse aus dem Weg räumen ließen, die bisher die Menschheit bei ihrem Voranschreiten in ein goldenes Zeitalter behindert hatten.

Mittlerweile ist die Vorstellung eines ganzheitlichen Fortschritts im Kollektivsingular in Verruf geraten. Angesichts der Gräueltaten des vergangenen Jahrhunderts erscheint es heute fast schon als Zynismus, von einem Fortschritt in der Geschichte sprechen zu wollen. Hinzu kommt, dass sich ausgehend von den postkolonialen Studien in den vergangenen Jahren zunehmend die Auffassung durchsetzte, dass der Fortschrittsbegriff einer schonungslosen Ideologiekritik zu unterziehen sei, weil er sich eines Eurozentrismus schuldig mache; und er auch über das imperialistische Zeitalter hinaus angeführt wurde, um die Unterdrückung fremder Kulturen zu rechtfertigen.

Durch die Verflüchtigung des Fortschrittsgedankens sollte allerdings ein Vakuum entstehen, das einem überbordenden Pessimismus Vorschub leistete:

„Wir leben, so scheint es, in hoffnungslosen Zeiten; kaum jemand, weder die Anhänger sozialer Bewegungen noch die politischen Funktionsträger, besitzt heute offenbar noch eine tatkräftige Vorstellung zukünftigen Fortschritts. Es bedarf kaum erst einer Rückerinnerung an all die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen der vergangenen Jahrzehnte, um sich zu erklären, warum uns inzwischen jede Zuversicht bezüglich einer weiteren Verbesserung unserer Lebensumstände abhanden gekommen ist; sofern wir uns überhaupt auf die Zukunft besinnen, operieren wir dabei vornehmlich mit der Vorstellung, weitere gesellschaftliche Verschlechterung zu verhindern, nicht aber mit den Ideen möglicher Fortschritte in der Gestaltung unserer gesellschaftlichen Lebensbedingungen“ (9).

Diese sicherlich zutreffende Zeitdiagnose Axel Honneths entstammt dessen Vorwort zu Peter Wagners Essay Fortschritt. Zur Erneuerung einer Idee, der als Band 26 der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung erschienen ist. Der Essay lässt sich als Wagners Beitrag zu der seit Neuestem geführten Auseinandersetzung darüber verstehen, ob und in welcher Form sich der Fortschrittsbegriff rehabilitieren lässt. Wie sieht nun Wagners Antwort auf diese Fragen aus?

Peter Wagners Neuformulierung des Fortschrittbegriffs

Am Anfang von Wagners Gedankengang steht die Beobachtung, dass die Fortschrittsidee nicht mehr so recht in die heutige Zeit zu passen scheint (17). Nun meint aber Wagner, dass es dennoch einen Versuch wert sei, sie „wieder aufzugreifen, neu zu bewerten und zu überlegen, ob sie sich in anderen Begriffen […] rekonstruieren lässt“ (17f.). Warum könnte es sich hierbei um eine lohnende Unternehmung handeln? Wagners Antwort besteht in dem Hinweis, dass es aktuell an großen Ideen mangelt, welche die dringend nötige Erneuerung der Gesellschaft anleiten könnten. Der Fortschrittsbegriff biete sich an dieser Stelle an, um „Orientierung in Raum und Zeit“ zu liefern und Aufschluss darüber zu geben, „was zu tun“ sei (18). Wagner leugnet nicht, dass „im Namen des Fortschritts die „Herrschaft von Menschen über Menschen“ (18) gerechtfertigt wurde. Der Verlust des Fortschrittsglaubens habe aber eine „allumfassende Orientierungslosigkeit“ (18) gezeitigt. Aus diesem Grund fragt Wagner nach einem Mittelweg, der darin bestehen könnte, einerseits das Trugbild eines fast schon naturgesetzlichen Fortschritts hinter sich zu lassen, andererseits eine Vorstellung davon zu gewinnen, was es heißen könnte, in einem normativen Sinne fortzuschreiten, um so Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen (19).

Wagners analytischen Ausgangspunkt stellt dabei das „Verschwinden des Fortschritts“ (Kapitel 1) dar, dessen Höhepunkt er zeitlich zwischen 1979 und 1989 verortet und das er vor allem an Jean-François Lyotard, Francis Fukuyama und Richard Rorty festmacht, welche alle, freilich auf ihre je eigene Art, ein „Ende des Fortschritts“ (23) verkündet hätten. Anschließend rekonstruiert Wagner begrifflich diese verschwundene Fortschrittsidee, deren „Erfindung“ (26) er auf das 17. und 18. Jahrhundert datiert. Sie habe in dem Glauben der Aufklärer bestanden, dass sich durch die Anwendung von Vernunft auf Probleme des zwischenmenschlichen Daseins Verbesserungen auf allen gesellschaftlichen Gebieten einstellen würden. Notwendige Bedingung hierfür habe sein sollen, dass die Menschen nicht mehr durch politische Unterdrückung davon abgehalten würden, freiheitlich ihre Vernunft zu gebrauchen (26–30). Im 19. Jahrhundert habe sich diese Vorstellung zu einem „starken Begriff“ (41) von Fortschritt radikalisiert. Dieser stilisiere Fortschritt zu einem eigenständigen Akteur, „einer sich selbst antreibenden Kraft in der Geschichte“ (41). Wagner unterscheidet in diesem Zusammenhang vier Dimensionen des Fortschrittsbegriffs: eine epistemische, eine ökonomische, eine politische und eine soziale (33–35). Sein methodisches Vorgehen besteht nun darin, darzulegen, welche konkreten gesellschaftlichen Verbesserungen mit der jeweiligen Fortschrittsdimension assoziiert wurden und wie diese verwirklicht werden sollten, um dann einen Abgleich mit der realhistorischen Entwicklung vorzunehmen. Auf diese Weise gedenkt er die Bestandteile des Fortschrittsbegriffs zu identifizieren, die sich für eine Neuformulierung desselben anbieten.

Als erstes bespricht Wagner die technischen und ökonomischen Dimensionen des Fortschritts (Kapitel 2). Unter epistemischem Fortschritt sei die potenziell bis ins Unendliche verlaufende Akkumulation menschlichen Wissens verstanden worden (43f.). Der Maßstab für ökonomischen Fortschritt sei hingegen in der Befriedigung materieller Bedürfnisse des Menschen erblickt worden (48). Beide Dimensionen könnten sich ohne die Autonomie des Menschen nichts vollends entfalten. Allerdings sei diese hierbei nicht als Selbstzweck aufgefasst worden, sondern nur als Mittel zu einem Zweck, der in der Realisierung von technischen und ökonomischen Fortschritten durch „Kontrolle und Beherrschung – zunächst und vor allem der außermenschlichen Natur, aber eben auch des gesellschaftlichen Lebens“ (56f.) – bestanden hätte. Auf Grund dieser inhaltlichen Verwandtschaft meint Wagner beide Fortschrittsdimensionen zu einem „epistemisch-ökonomischen Komplex“ (50) zusammenfassen zu können. Bei dessen Verwirklichung sei auf die wohlbringende Wirkung der „eigenständigen, sich selbst regulierenden sozialen Organisation epistemischer beziehungsweise ökonomischer Praktiken“ (57) vertraut worden. Aus diesem Grund spricht Wagner auch von „Fortschritt als Mechanismus“ (57). Die Art, wie aber nun die epistemisch-ökonomische Seite des Fortschritts interpretiert und entsprechend handlungsleitend wurde, habe Folgen gehabt, die den bisherigen Stand der bereits erreichten Fortschritte gefährden würden. So habe der epistemisch-ökonomische Komplex die Welt in einer Weise transformiert, die vielerorts die menschlichen Lebensgrundlagen untergraben würde (61). Deshalb verwirft Wagner auch den Vorschlag, Versatzstücke der epistemischen und ökonomischen Dimensionen heranzuziehen, um den Fortschrittsbegriff neu zusammenzusetzen: Es sei nicht länger möglich, hierin „ein Kapitel einer umfassenden Fortschrittsgeschichte zu sehen“ (65).

Anschließend wendet sich Wagner den politischen und den sozialen Dimensionen des Fortschrittsbegriffs zu (Kapitel 3), als deren Ziel es angesehen worden sei, die Voraussetzungen für menschliche Autonomie zu schaffen. Sozialer Fortschritt sei dabei mit der Vergrößerung des Möglichkeiten-Raumes zur individuellen Selbstverwirklichung gleichgesetzt worden (73). Hieran gemessen komme man nicht umhin, die realhistorischen Entwicklungen als ambivalent zu bewerten. Zwar seien seit der Aufklärung große Teile der Bevölkerung rechtlich gleichgestellt worden, allerdings wäre es auch gleichzeitig zum gezielten Ausschluss von Minderheiten gekommen. Unter politischen Fortschritt fasst Wagner dagegen Schritte auf dem Weg zur Verbesserung kollektiver politischer Selbstbestimmung (67). Mit dieser inhaltlichen Konkretisierung politischen Fortschritts möchte sich Wagner explizit von der Begriffsbestimmung abgrenzen, die im – wie er es ausdrückt – „hegemonialen Diskurs“ (137) getroffen wurde. Diese verstehe unter politischem Fortschritt lediglich die Einführung politischer Grundrechte und die Verbreitung der Demokratie, wofür Wagner den Slogan „Demokratie und Menschenrechte“ (79) prägt. Auch in der politischen Sphäre müsse ein paradoxer Verlauf konstatiert werden: Auf der einen Seite sei seit Anbruch der Moderne sukzessive die Möglichkeit zur politischen Partizipation von Kapitalbesitz und Zugehörigkeit zu einem Geschlecht oder einer Ethnie gelöst worden, in diesem Zuge sei auf der anderen Seite aber auch die Motivation der Bevölkerung, sich an der demokratischen Willensbildung zu beteiligen, bewusst gehemmt worden. Wagner folgert hieraus, dass die sozialen und politischen Dimensionen des Fortschritts „keine lineare Zeitstruktur“ (87) aufweisen.

Als Ergebnis seiner historischen Bestandsaufnahme hält Wagner fest, dass es in den letzten zweihundert Jahren durchaus Fortschritte gegeben hätte, dass diesen aber auch oft genug Rückschritte gefolgt seien und dass manche Fortschritte „nicht nur die Möglichkeiten künftigen Fortschritts unterminieren, sondern sogar den Erhalt des gegenwärtig erreichten Stands menschlichen Zusammenlebens in Frage stellen“ (91). Aus dieser Beobachtung schließt Wagner nun, dass es an der Zeit sei, sich von dem starken Fortschrittsbegriff zu verabschieden, um sich auf die Suche nach einem neuen Begriffsverständnis zu machen. Potenzial sieht er hierfür in der sozialen und politischen Dimension des Fortschritts (88). Aus diesem Grund unterzieht er den Zusammenhang von Freiheit und Vernunft, der konstituierend für den starken Fortschrittsbegriff gewesen sein soll, einer eingehenden Untersuchung (Kapitel 4). Der starke Fortschrittsbegriff behaupte, dass menschliche Autonomie zwangsläufig zu Fortschritt führe. Die ihm zugrundeliegende Annahme, dass bereits zu Beginn der Aufklärung die Bedingungen für die Realisierung von Autonomie bestanden hätten – so wie von den Aufklärern angenommen –, stellt Wagner jedoch in Abrede: Tatsächlich sei lange Zeit nur eine gesellschaftliche Minderheit in den Genuss von Freiheit gekommen. Diese habe sie genutzt, um die Natur, die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder und fremde Kulturen zu kontrollieren. Gegen diese Herrschaft habe sich Widerstand seitens der Unterdrückten geregt. Hierin sei der eigentliche Grund für die Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse und den damit einhergehenden Fortschritten zu erblicken, nicht im gemeinschaftlichen Handeln autonomer und vernünftiger Menschen. Die erzielten Fortschritte seien insofern auf gänzlich andere Weise realisiert worden als vom starken Fortschrittsbegriff vorausgesagt, und zwar durch eine Dialektik von Herrschaft und Widerstand.

Hieraus folgert Wagner, dass das Verschwinden des Fortschritts nicht durch eine von Seiten der Aufklärer fälschlicherweise getroffene Verknüpfung von Autonomie und Vernunft zu erklären sei, wie es zwischen 1979 und 1989 geschehen wäre. Dieser Schluss lässt Wagner zum Urteil gelangen, dass diejenigen, die das Ende des Fortschritts proklamierten, auch geirrt hätten, als sie die Gegenwart als Folge der Verwirklichung des starken Fortschrittsbegriffs deuteten. Worin ihre Zeitdiagnose hingegen akkurat gewesen wäre – so das Urteil Wagners weiter –, sei der Tatbestand einer Diffusion des Fortschrittsbegriffs gewesen, für welche nun allerdings eine alternative Erklärung benötigt werde. Eine solche legt Wagner im Anschluss vor (Kapitel 5). Während der Fortschrittsgedanke in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa darniedergelegen hätte, habe er in Nordamerika eine Renaissance erlebt. Die Wiedererweckung habe aber rasch ihr Ende in den Protestbewegungen der 1960er Jahre gefunden. Diese „mahnten […] ein Neudenken des Fortschrittsbegriffs an und kritisierten die Form, in der dieser historisch konzeptualisiert und mutmaßlich verwirklicht worden war“ (122). Sie „erhielten nur ein schwaches Bild von einer konstruktiven Reinterpretation der Moderne. Die Kernelemente dieses Bildes beziehen sich allesamt auf das Ziel, formale Herrschaft abzuschaffen“ (128). Da die Protestbewegungen in ihrem Bestreben weitestgehend erfolgreich gewesen seien und das Ende der formalen Herrschaft nach langem Kampf schließlich erreicht worden sei, befinde sich der Fortschrittsbegriff nunmehr in der Auflösung. Aus diesem Grund sei darüber nachzudenken, „ob und in welcher Form es nach dem Ende formaler Herrschaft noch Fortschritt geben kann“ (40).

Schließlich lotet Wagner die „Möglichkeiten des Fortschritts heute“ aus (Kapitel 6), welche er in der „Wiederherstellung bedeutungsvoller Räumlichkeit und historischer Zeitlichkeit“ (138) erblickt. Wagner unterscheidet dabei drei „Spielformen möglichen Fortschritts“ (140). Zunächst nennt er den Aufbau demokratischer Handlungsfähigkeit. So seien heute große Defizite in der kollektiven Selbstbestimmung zu beklagen, „das Zeitalter der ‚Demokratisierung‘“ sei „paradoxerweise zugleich eine Epoche […], in der die Bürger nur wenig Gelegenheit haben, ihren Willen angemessen zum Ausdruck zu bringen“ (153). Als zweiten „Typus“ (153) von Fortschritt nennt Wagner die Überwindung neuer Herrschaftsformen. Unter diese subsumiert er jegliche nicht-formale Herrschaft, welche auf der „Tilgung von Zeit und Raum“ (156) beruhe. Mit der „Tilgung von Zeit“ bemüht sich Wagner die historische Erfahrung zu bezeichnen, dass die Einführung „formal gleicher Rechte“ (156) keineswegs Herrschaftsstrukturen zu nivellieren vermochte, die auf in der Vergangenheit bestimmten Gesellschaftsgruppen gewährten Vorrechten beruhten. Er denkt dabei vor allem an ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, vermöge dem auch gesellschaftliche Macht ausgeübt werden kann. Mit der ‚Tilgung des Raumes‘ will Wagner die Entwicklung begrifflich fassen, dass mit dem Bedeutungszuwachs politischer Gebilde auf supranationaler Ebene auch ein Rückgang effektiver demokratischer Regierungsfähigkeit auf einer nationalen Stufe einhergegangen ist. Als „dritte Form“ (159) von Fortschritt führt Wagner schließlich die „Vermeidung von Hybris“ auf, welche sich auf „fehlgeleitete Ambitionen der Menschheit“ (160) zurückführen lasse.

Lohnt es, den Fortschrittsbegriff zu rehabilitieren?

Es ist Wagner gewiss darin beizupflichten, dass große Ideen, welche Anstoß zu einer politischen Aufbruchsstimmung geben könnten, aktuell schmerzlich vermisst werden. Genauso ist ihm in dem Punkt zuzustimmen, dass es so scheint, als würde sich die Politik der westlichen, gefestigten Demokratien heute in einer lähmenden Schockstarre befinden. Zumindest werden keine visionären Bilder eines gut verfassten politischen Gemeinwesens mehr propagiert und verfolgt.

In solch einer Situation tut Orientierungshilfe Not. Will man die Welt zum Besseren wenden, wird eine normative Vorstellung davon benötigt, wohin die Reise gehen soll. Nun könnte man für jedes gesellschaftliche Problem ein normatives Ideal formulieren, das als Maßstab für eine emanzipatorische Kritik dienen kann. Alternativ zu dieser – wenn man so will – philosophischen Sisyphusarbeit bietet es sich an, auf eine ‚große‘ Idee zurückzugreifen, um mehrere Gesellschaftsprobleme gleichzeitig anzugehen. Wählt man diesen Weg, bleibt einem kaum etwas Anderes übrig, als sich der Idee des Fortschritts zu bedienen. Lange wird man nach einem anderen Begriff der politischen Philosophie suchen, der ähnlich viele Gesellschaftsbereiche gleichzeitig abzudecken vermag. Auch wenn es von der Warte des argumentativen Aufwandes betrachtet auf den ersten Blick ökonomisch erscheint, anstatt sich für eine Vielzahl an normativen Idealen mit der Fortschrittsidee nur für eines verbürgen zu müssen, wird man bei näherem Hinsehen eines schwerwiegenden Problems gewahr: Zwar hat die Idee eines Fortschritts in der Vergangenheit eine beispiellose Wirkmacht entfalten können, allerdings gilt sie heute weitestgehend als kompromittiert. Möchte man den Fortschrittsbegriff rehabilitieren, sieht man sich deshalb genötigt, nicht zu unterschätzende Anstrengungen hinsichtlich der Rechtfertigung unternehmen zu müssen.

Wagner gehört zu der wachsenden Anzahl an Autorinnen und Autoren, die sich dazu entschlossen haben, die Fortschrittsidee erneuern zu wollen. Dabei hat er folgendes methodische Vorgehen gewählt: Zunächst startet er bei den Hoffnungen der Aufklärung, welche sich an den Fortschrittsbegriff knüpften, zeigt dann, wie diese realisiert werden sollten, und beschreibt schließlich, an welchen Stellen sie erfüllt und an welchen sie enttäuscht wurden. Ausgehend von dieser geschichtlichen Inventur fragt er im Anschluss, worin die konzeptionellen Fehler des Fortschrittsbegriffs bestanden haben könnten. Seine Antwort lautet, dass die Voraussetzungen, unter denen sich Fortschritt hätte einstellen sollen, zu keinem Zeitpunkt vorgelegen haben. Die Fortschritte, die realisiert worden wären, seien – anders als gedacht – durch den Kampf gegen formale Herrschaft erreicht worden. Da die Bedeutung formaler Herrschaft stark abgenommen hätte und deswegen der Kampf gegen sie gegenwärtig nicht mehr das drängendste Problem darstellen würde, sei nach nicht-formalen Formen von Herrschaft zu fragen, die durch einen neuverstandenen Fortschrittsbegriff zu adressieren seien. Wagners Vorschläge betreffen dabei ausschließlich die Sphären individueller Selbstverwirklichung und kollektiver politischer Selbstbestimmung, und fallen damit allein in die soziale und politische Dimension des Fortschrittsbegriffs.

Wagner verfolgt dabei eine Strategie, die auf der einen Seite brillant ist, auf der anderen Seite aber alternativlos zu sein scheint: Will man den Fortschrittsbegriff wieder mit Leben füllen, muss man auch seine dunklen Seiten behandeln und ihn von dem Ballast der Vergangenheit befreien. Bei der Neuformulierung des Fortschrittsbegriffs kann nicht einfach wieder bei Null angefangen werden. Folgerichtig setzt Wagner bei den enttäuschten Hoffnungen der Aufklärung an. Zum einen gelingt es ihm auf diese Weise, unverwirklichte und damit noch zu realisierende Potenziale für gesellschaftliche Verbesserungen zu identifizieren. Zum anderen kann er die moralische Schuld des Fortschrittsbegriffs schmälern, indem er die fehlerhafte Konzeptualisierung der aufklärerischen Hoffnungen für die schlechten Erfahrungen, die mit der Fortschrittsidee gemacht wurden, verantwortlich macht.

Zum Zwecke dieses Unterfangens scheut Wagner auch nicht die Mühe, die Moderne neu zu deuten. Meisterlich verbindet er dabei Begriffs- mit Realgeschichte und beweist, dass er nicht umsonst als Koryphäe auf dem Gebiet der Moderne gilt. Den an der ein oder anderen Stelle allzu generischen Ton seiner Aussagen verzeiht man ihm schnell, schließlich handelt es sich bei der Schrift ausdrücklich um einen Essay.

Da Wagners Argument für einen neuen Fortschrittsbegriff von seiner Interpretation der Moderne und damit unmittelbar von der Bewertung historischer Ereignisse abhängt, fällt eine kritische Würdigung umso schwerer, desto weniger man geneigt ist, zum Zwecke der Kritik eine eigene Deutung der Moderne vorzulegen. Die in der Philosophie üblichen Strategien der externen und internen Kritik (Wahrheit der Prämissen vs. Widerspruchsfreiheit des Argumentes) können aber helfen, argumentative Schwachstellen zu Tage zu fördern, ohne in diesem Zuge ein eigenes Verständnis der Moderne entwickeln zu müssen.

Prüft man die Wahrheit der Prämissen von Wagners Argument, kann man sich zunächst darüber erstaunt zeigen, dass dieser nur vier Dimensionen des aufklärerischen Fortschrittsbegriffs unterscheidet. Vergegenwärtigt man sich die Schriften der Aufklärer, so sind rasch weitere, mögliche Dimensionen gefunden. So vertrauten die Aufklärer etwa auch darauf, dass die Menschen in Zukunft den Pfad zu einem tugendhaften Leben einschlagen würden. Dieser Glaube an eine charakterliche Besserung des Menschen könnte als moralischer Fortschritt bezeichnet werden. Als ein weiteres Beispiel könnte die von vielen Aufklärern gehegte Hoffnung angeführt werden, dass Kriege eines Tages der Vergangenheit angehören würden. Unzählige Schriften zu einem ewigen Frieden bezeugen diese Hoffnung, welche als eine konkurrierende Spielart des politischen Fortschritts betrachtet werde könnte. Die Liste möglicher Fortschrittsdimensionen ließe sich sicherlich fortführen. Vor diesem Hintergrund stellt sich unweigerlich die Frage, warum es Wagner definitorisch bei vier Fortschrittsdimensionen bewenden lässt.

Schreitet man weiter und geht daran, die logische Konsistenz von Wagners Argument zu prüfen, kann man sich kritisch gegen dessen Ungleichbehandlung der Fortschrittsdimensionen wenden. Während Wagner die epistemischen und ökonomischen Aspekte des Fortschritts für endgültig tot erklärt, meint er die politischen und sozialen Dimensionen von den Toten wieder auferstehen lassen zu können. Dabei wäre aber auch eine Wiederbelebung des epistemischen und ökonomischen Fortschritts denkbar, und zwar mit derselben Begründung, wie sie Wagner beim politischen und sozialen Fortschritt anführt, nämlich, dass die legitimen Hoffnungen der Aufklärer in diesen Fortschrittsdimensionen lediglich bei ihrer Realisierung falsch konzeptualisiert wurden. Warum sollte es nicht möglich sein, zu einer gehaltvollen Vorstellung von epistemischem und ökonomischem Fortschritt zu gelangen, welche nicht das Fundament weiterer Fortschritte oder gar die menschlichen Lebensgrundlagen unterhöhlt? Wäre es beispielsweise nicht denkbar, technischen Fortschritt als einen noch auszubildenden Ethos zu begreifen, sich den Früchten des technischen Fortschritts endlich gewachsen zu zeigen? Wenn Wirtschaftswachstum keinen Beitrag mehr zur Bedürfnisbefriedigung zu leisten vermag, könnte dann ökonomischer Fortschritt nicht in der willentlichen Abkehr von den über das nötige Maß hinausgehenden Bedürfnissen, in einer Ethik des Verzichtes gewissermaßen, bestehen?

Diese beiden Beispiele für eine externe und eine interne Kritik sollen an dieser Stelle genügen, führen sie schließlich beide zu demselben, grundsätzlichen Punkt: Wagner hat lediglich vier Fortschrittsdimensionen unterschieden und lässt dann noch gleich zwei für seine Reformulierung des Fortschrittsbegriffs fallen. Was bleibt dann noch von der Fortschrittsidee der Aufklärung? Sieht so ein tragfähiger Begriff von Fortschritt aus, hinter dessen Fahne sich große Teile der Gesellschaft für eine soziale Katharsis versammeln können? Wagners Vorschlag dazu, was unter möglichen Fortschritten verstanden werden könnte, stellt am Ende nichts anderes als eine Kritik an der Globalisierung und an dem desolaten Zustand dar, in dem sich viele liberale Demokratien heute befinden. So berechtigt diese Kritik sein mag und so profund sie auch von Wagner vorgetragen wird, fragen sich kritisch geneigte Leserinnen und Leser doch: Sollen das wirklich alle Fortschritte gewesen sein, die heute noch für die Menschheit möglich sind? Muss man für diese in jüngster Zeit verstärkt artikulierten Kritikpunkte mit Hilfe von geschichtsschwangeren Begriffen wie der ‚Tilgung von Raum und Zeit‘ den Geist der Moderne beschwören? Im Grunde genommen legen Wagners Ausführungen, freilich ungewollt, eindrucksvoll Zeugnis davon ab, wie kümmerlich die Überreste des Fortschrittsbegriffs heute überhaupt noch sein können. Ist dem zweifelsohne wichtigen Anliegen geholfen, wenn man sie in den traurigen Rest einer einst großen Idee kleidet, um dann Schritte zu ihrer Verwirklichung Fortschritt nennen zu können? Vermutlich nicht.

Auch wenn eine Erneuerung der Fortschrittsidee durchaus wünschenswert erscheint, ist nicht ganz ersichtlich, wie sie gelingen soll. Zu schwer wiegen die Verfehlungen, die dem Fortschrittsbegriff angelastet werden können. Auch wenn zweifelhaft ist, ob es Wagner mit seiner Rekonstruktion gelungen ist, den Fortschrittsbegriff der Aufklärung mit all seiner Verve und seinem Pathos zu rehabilitieren, hat diese doch zumindest aufzeigen können, wie eine solche Rehabilitierung methodisch zu verfahren hat. Damit ist viel gewonnen. Darüber hinaus hat er eine originelle Deutung der Moderne vorgelegt. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass Wagners Essay zum Nachdenken anregt, ob man nun inhaltlich mit ihm übereinstimmt oder nicht. Von einem guten Werk zur Philosophie kann nicht mehr erwartet werden.

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