Gelhard, Andreas: Skeptische Bildung. Prüfungsprozesse als philosophisches Problem. Zürich: Diaphanes 2018. 415 Seiten. [978-3-0358-0073-9]

Rezensiert von Dagmar Comtesse (Universität Münster)

Andreas Gelhard antwortet auf den hektischen Lärm der kompetitiv strukturierten und marktorientierten Messung nationaler Bildungsleistungen mit einer ruhigen, durchaus langatmigen, feinen, historisch-systematischen Herausarbeitung des Prüfungskonzeptes bei Kant und Hegel. Gelhards Ziel ist es, „die saubere Sphärentrennung zwischen Bildung und Prüfung“ (11) zugunsten einer Rehabilitierung des Prüfungsbegriffs aufzuheben, da dieser – im Gegensatz zu den Testverfahren beispielsweise der PISA-Studien – zentral ist für eine „aufklärerische Tradition“ von philosophischer Praxis (11). Diese Tradition sieht Gelhard mit Hannah Arendt durchaus bereits in der sokratischen „Sach- und Personenprüfung“ (166) begründet, lässt sie aber eigentlich erst mit Kant als politisch motivierte Dimension der Transzendentalphilosophie beginnen. Anhand von Foucaults Analyse der Prüfungstechniken ordnet Gelhard Kant einer spezifischen, aufklärerischen Form des „examen“ (14) zu und kritisiert diese zugleich mit Hegels Konzept der Bewährung, das er für den Diskurs der gegenwärtigen Bildungsphilosophie fruchtbar macht. Der rekonstruierte und zur „skeptischen Bildung“ umformulierte Prüfungsprozess bei Hegel wird damit zum Gegenkandidaten der „derzeit dominierenden Varianten des Bildungsbegriffs“, nämlich dem „neuhumanistischen und de[m] empirisch-psychologischen“ (21f.). Folglich wird die aktuell verbreitete Denkweise angegriffen, die Bildung vom angeblich pedantischen Geschäft des Prüfens trennt. Gelhard stellt die Prüfungsprozesse bei Kant und Hegel zum einen als zentrale philosophische Praxis und zum anderen, im Falle Hegels, als Kern der „skeptischen Bildung“ dar. Gelhards überzeugende Rehabilitierung des Prüfungsbegriffs, die sich gegen die eindimensionalen Prüfungsprozesse der gegenwärtigen sozialen Praxis der Bildungsstandards richtet, wirkt jedoch ‚nur‘ wie ein teilweise weit entfernter Fluchtpunkt der Gesamtdarstellung, da diese in ihrer Substanz eine sehr genau operierende, an vielen Stellen innovativ argumentierende und durchweg angenehm synthetisierende Rekonstruktion von Kant und Hegel ist.

Entsprechend ist das Buch in zwei ungefähr gleich umfangreiche Abschnitte aufgeteilt: Die ersten drei Kapitel stellen den Prüfungsbegriff im kantischen Denken dar, vor allem in Bezug auf seinen Zweck und seine Form; die letzten drei Kapitel üben zum einen Kritik an den Unzulänglichkeiten von Kants Prüfungskonzeption und arbeiten zum anderen den informellen Prüfungsprozess im hegelschen Denken als „skeptische Bildung“ heraus. Mit Kant geht Gelhard in erster Linie auf die Kritik an Prüfungsprozessen als ‚lenkende Autorität‘ ein (30), während er mit Hegel insbesondere eine Kritik an objektivierenden Prüfungsprozessen formuliert. Die Verbindung zwischen beiden Teilen liegt in Hegels Kritik der kantischen Antinomik, welche Hegel zum allgemeinen „Weg der Verzweiflung“ (208) des Selbstbewusstseins umbaut. Gelhard nutzt diese Argumentation zu einer – machtanalytisch nicht überzeugenden – „Einsicht in den antagonistischen Charakter des Sozialen“ (173). Doch bevor Gewinne und Verluste der Gesamtdarstellung genannt werden, stelle ich Gelhards klare, dichte und insbesondere für Kant- und Hegelinteressierte sehr lesenswerte Werkinterpretationen einzeln vor.

Kant: Die selbstprüfende Vernunft als Schutz vor (pietistischer) Heteronomie

Die grundlegende Funktion von Gelhards Kant-Rekonstruktion ist es, Kants selbstprüfende Vernunft als Abwehrmittel gegen die zeitgenössische pietistische Seelenlenkung auszuweisen. Damit wird Kants Vernunftkritik politisiert: Vom Standpunkt der gewissen Erkenntnis lässt sich Sicherheit gegenüber verwirrenden metaphysischen Fragen und ihrer pastoral geführten Beantwortung gewinnen. So kann, wie Gelhard sehr treffend formuliert, Religion „auf ihrem eigenen Terrain“ (78) geschlagen werden. Gelhard nimmt Kants Epistemologie aus einer machtanalytischen Perspektive wahr, indem er zunächst (sehr detailliert) die pietistischen Praktiken der Seelenführung beschreibt und Kants Kritik der reinen Vernunft – erst dann als Antwort darauf – vorstellt. Das Perfide der pietistischen Autorität gegenüber der ‚einfachen‘ Repression der institutionalisierten Kirchen liege darin, Subjekte zu generieren, die nach Leitung verlangen (30); dies ist ein Punkt der die Nähe zu Foucault sichtbar macht:

[D]as Interesse der vorliegenden Studie [besteht] nicht darin, eine möglichst umfassende Deutung von Kants praktischer Philosophie zu geben, sondern darin, die Herausforderung durch die christliche Seelenleitung als ein zentrales politisches Motiv von Kants Programm der Aufklärung erkennbar zu machen. (87)

Für die Etablierung einer autoritätskritischen Epistemologie brauche Kant eine Unbedingtheit der Vernunft, so Gelhard, die weder von Gefühlen oder Sinneseindrücken noch metaphysisch-religiösen Annahmen beeinträchtigt wird. Autonomie sei nur dann gegeben, wenn die Maximenwahl und damit die Handlungsausrichtung durch Selbstgesetzgebung erfolgen. Daher sei nicht die Prüfung der Maxime selbst, sondern ihrer Form „für Kant das wichtigste Mittel […], um der Herrschaft religiöser Seelenleitungstechniken Einhalt zu gebieten“ (80). Gelhard betont, dass Kant das Gewissen „herabsetze“ (107), da es nur noch um die aufrichtige Maximenprüfung, aber nicht mehr um eine inhaltliche Gewissensprüfung durch eine externe Autorität (durch Gott oder seine Stellvertreter) gehe. Es sei „die Gewissensprüfung […], [die] von Kant bis Foucault das Schema heteronomer Menschenleitung“ bilde (96), gegen welches beide Autoren angeschrieben hätten.

Auch wenn diese machtanalytische Ausrichtung der Epistemologie Kants innovativ und fruchtbar ist, muss an dieser Stelle kritisch bemerkt werden, dass der Widerstand gegen die ‚christliche Seelenleitung‘ im Unterschied zu Kant von den französischen Materialisten zentral und explizit herrschaftskritisch formuliert wurde. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde die – oft klandestin operierende – Religionskritik der europäischen Aufklärung von Jonathan Israel mit dem Etikett „radikale Aufklärung“ (Israel 2001; 2006; 2012; 2019) versehen. Israel schätzt das Widerstandspotential Kants gegen die zeitgenössische Ordnung als relativ gering ein (Israel 2012, 198–201). Der Vorwurf Foucaults, es habe sehr wohl eine antifeudale aber keine anti-pastorale Revolution gegeben, mit dem Gelhard sein zweites Kapitel einleitet (75), bezieht sich zwar richtigerweise auf den nahtlosen Übergang von der Religionskritik zur Seelenlenkung durch den Staat (bei d’Holbach und Helévtius so zu finden), doch der diskursive und politische Angriff auf den pastoralen Stand fand nun mal in Frankreich und nicht im deutschsprachigen Raum statt.

Dazu gesellt sich ein methodisches Problem: So erfreulich und erfrischend die machtanalytische Perspektive auf Kant ist, so bedauerlich ist das Fehlen einer methodischen Reflexion Gelhards darauf, warum nur der pietistische Kontext argumentationsbildend eingesetzt wird, während andere Kontexte keine Rolle spielen. Mit anderen Worten: Ein bisschen Diskursanalyse geht nicht; der exegetische Charakter der Kant- und Hegelrekonstruktion steht im scharfen Gegensatz zur Einbettung Kants in den pietistischen Diskurs.

Nach der politischen Ausrichtung der Epistemologie Kants rekonstruiert Gelhard im dritten Kapitel die spezielle Prüfungsform, die Kant im freiheitlichen Geschäft der Vernunft am Werk sieht. Entscheidend dafür ist die sokratische Wurzel des prüfenden Dialogs, den Gelhard mit Arendt immer wieder als Ideal für ein egalitäres Prüfungsverfahren nennt und der von Kant in das ‚triadische‘ Prüfungssystem des Gerichtshofes der Vernunft transformiert wird. Die triadische Struktur kann und muss Kant annehmen, da im Konzept der autonomen Vernunft kein äußerer Dritter die entscheidende Rolle übernehmen kann, sondern nur die Vernunft selbst. Dieser Prüfungsprozess ist nach dem Vorbild der juridischen Untersuchung angelegt, so dass – im Gegensatz zum sokratischen Dialog – hier die Idealform der unparteilichen triadischen Prüfungsform von Kant entwickelt und von Gelhard als Korrektiv gegen die objektivierenden (triadischen) Tests der gegenwärtigen Prüfungspraxis aufgebaut wird. Das für die Normativität dieser Prüfungsform entscheidende Merkmal ist laut Gelhard das skeptische Vorgehen der Vernunft, die zwei gleichstarke Argumente vor einem unparteilichen Richter gegeneinander abwägt. Dieses Szenario der kantischen Antinomien könne man als „Kants philosophisch[e] Strategie gegen heteronome Techniken der Menschenlenkung“ verstehen, indem er sich nämlich „auf skeptisch imprägnierte Formen der unparteilichen Prüfung stützt“ (150). Während Kant den Kampf der gegensätzlichen Argumente mit einem abschließenden Richterspruch beendet, sieht Gelhard in der triadischen Struktur einen möglichen, bleibenden Konflikt verschiedener Argumente angelegt, den er zunächst mit Arendt in Richtung eines öffentlichen und pluralen Vernunftgebrauchs weiterdenkt. Über (Arendts) Pluralismus hinaus, und hier deutet sich ein Problem an, das sich in der Hegelrekonstruktion verschärfen wird, sieht Gelhard „den philosophischen Streit als spezifische Form des unvermeidlichen Konflikts […], der das Soziale kennzeichnet“ (169). Der Wechsel vom Register der Wahrheit bzw. Gewissheit zum Register von Macht und Herrschaft ist aber durch die Analogie von Isothenie und Antagonismus stark unterkomplex konzipiert, da ein Antagonismus nicht ein ‚einfacher‘ logischer Gegensatz, sondern ein auf unterschiedlichsten Machtressourcen gründender Machteinsatz ist. Dies wird an der Figur der „praktischen Isothenie“ in der Hegelrekonstruktion nochmals verdeutlich werden. Für die Kritik der Prüfungsformen ist diese Problematik jedoch nebensächlich. Gelhard zeigt überdeutlich, dass Prüfen zum Kern der kantischen Vernunftkonzeption gehört und eine antiautoritäre Ausrichtung hat.

Hegel: Prüfung als Bewährung im Sozialen

Die Inanspruchnahme Hegels für die Kritik der Prüfungsformen setzt Gelhard sogleich in den ‚richtigen‘ Kontext: Es geht ihm um den Skeptizismus Hegels, den er unter starker Bezugnahme auf das Frühwerk „Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie“ (1803) als Grundzug des Denkens Hegels herausarbeitet. Auch wenn die Phänomenologie des Geistes die Grundlage für Gelhards Konzept der „Skeptischen Bildung“ liefert, ist die Skeptizismus-Schrift wichtig, um (a) die grundsätzlich antidogmatische Ausrichtung des Skeptizismus zu exponieren und um (b) die Transformation des ‚handlungsfeindlichen‘ Pyrrhonismus anhand der Aufnahme der fünf „neuen Tropen“ bei Sextus Empiricus zur „skeptischen Lebensführung“ bei Hegel zu erklären (191). Vom „undogmatischen Ausgangspunkt“ (194) des Sextus Empiricus schreite Hegel, so Gelhard, zur skeptischen Bildung fort. Um die skeptische Bildung des Geistes, die zum Hauptthema der Phänomenologie werden wird, besser zu konturieren, arbeitet Gelhard zunächst den Begriff der „natürlichen Bildung“ heraus, den Hegel in Auseinandersetzung mit der antiken Skepsis entwickelt: „Was Hegel hier als natürliche Bildung bezeichnet, ist die elementare Erfahrung, dass andere anders empfinden, urteilen und leben“ (197). Aus dieser basalen Erfahrung der Pluralität werde in der Phänomenologie ein reflektierter und ausgehaltener Skeptizismus, der auf eine skeptische Bildung hinauslaufe. Statt Ataraxie entwerfe Hegel in der Phänomenologie über den „Weg der Verzweiflung“ (208) und der Infragestellung des Bestehenden, die befreiende Bewegung des Geistes, der sich von seinen eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungsmaßstäben distanziere.

Der Dreischritt von der distanzlosen Identifikation mit einem System des Meinens über die Erfahrung der Verkehrung von Dogmen und Gegendogmen zur bewussten Infragestellung der eigenen Maßstäbe kann dann als Minimalstruktur dessen verstanden werden, was Hegel skeptische Bildung nennt. (210)

Durch einen genauen, wenn auch von der eigentlichen Diskussion etwas ablenkenden Vergleich des Erfahrungsbegriffs bei Kant und Hegel kommt dann sehr deutlich zum Vorschein, dass die „Selbstprüfung des Bewusstseins […] keine Tätigkeit des philosophischen Spezialisten [...], sondern ein elementarer Grundzug jeglicher Erfahrung [ist]“ (225). Vom skeptischen Erfahrungsbegriff bei Hegel, der nicht nur bisher Geglaubtes umstürze, sondern auch die Maßstäbe transformiere, schlägt Gelhard die Brücke zur Freiheit bzw. zur Befreiung. Die negative Bewährung, die skeptische Bildung des Geistes, stellt Gegebenes in Frage und befreit somit von dessen Normativität bzw. von dessen Fixierung. Gelhard synthetisiert Hegels Kritik am „System des Meinens“ (234) mit Adornos Kritik an exklusiven Identifikationsprozessen in der Negativen Dialektik. Er deutet bereits hier auf eine radikaldemokratische Wendung der skeptischen Bildung hin, indem er die Ablehnung von identitären Fixierungen bei Hegel und Adorno mit Jacques Rancières Bruch der sinnlichen Ordnungen in Verbindung setzt (232f.). Dieser Strang der Argumentation, der besagt, dass der informelle, in der Erfahrung eingebettete Prüfvorgang gleichzeitig eine befreiende Dimension habe, wird von Gelhard im dritten Hegel-Kapitel wiederaufgenommen und in Richtung radikaler Demokratietheorie weiterentwickelt. Zuvor stellt Gelhard aber noch die „positive“ Gegenseite der negativen Bewährung vor, die umso deutlicher hervortreten lässt, dass skeptische oder negative Prüfprozesse antiautoritär ausgerichtet sind.

Das zweite Hegel-Kapitel (257–314) hat in erster Linie die Funktion, positive Bewährung als herrschaftsstabilisierende Prüfungsform vorzustellen. Dafür entwickelt Gelhard den Begriff der „Positivität“ aus Hegels Frühschriften, in denen die Erstarrung des Ur-Christentums in der Kirche als „positive Religion“ (262) ausgewiesen wird. Spätere Schriften Hegels zeigen, so Gelhard, dass mit Autorität jede Macht gemeint ist, die sich durch das Verdecken ihres kontingenten Ursprungs zur Alleinherrschaft aufschwingt und damit ihre Maßstäbe der Bewertung und Wahrnehmung aufzwingt (285). Während die negative Bewährung die Bewertungs- und Wahrnehmungsmaßstäbe bezweifele und umbilde, werden in der positiven Bewährung die geltenden Maßstäbe objektiviert und reproduziert. Dies passiere sowohl durch autoritäre Prüfungen, wie sie die (katholische) Kirche für ihre Mitglieder beispielsweise in Form der Beichte anwendet, als auch durch die informelle Selbstprüfung der protestantischen Gewissenslenkung, wie sie von Kant und Hegel kritisiert wurde. Gelhard nimmt hier – in kapitalismuskritischer Absicht – auch Webers Begriff der „Bewährung“ aus der Analyse der protestantischen Praktiken auf, um das Auserwähltseins anzuzeigen (303–306). Am Ende kommt Gelhard zurück zur Kritik der Prüfungsformen und ordnet sie verschiedenen Regierungsweisen zu: Während die dyadischen Prüfungen in ihrer offenen Form als sokratisches Gespräch und in ihrer geschlossenen Form als autoritäre Prüfung, zusammen mit der triadisch-offenen Form des Gerichtsprozesses typische Prüfungsformen der Disziplinargesellschaften sind, ist die geschlossene triadische Form, der objektivierende Test, ein Instrument des gouvernementalen Regierens.

Im letzten Kapitel wird der Argumentationsstrang der befreienden Dimension der skeptischen Bildung wiederaufgenommen. Die Befreiung von durch „[gesellschaftliche] Ordnungen festgelegten Identitäten“ (316) sieht Gelhard, zusammen mit Adorno, Christoph Menke und Jacques Rancière, wie er mit vielen Zitaten und Exkursen belegt (z.B. 316f.), als „Herzstück der Dialektik der Anerkennung“ (Zitat von Rancière, 379) und setzt sich damit auch von Axel Honneths Lesart ab (379f.). Wichtig für die Diskussion der Prüfungsformen ist es, die Bedeutung der sprachlichen Äußerung im Prozess der skeptischen Bildung herauszuarbeiten. Denn die skeptische Infragestellung werde nicht für sich, stumm und solipsistisch erfahren, sondern könne nur stattfinden, wenn „Entäußerungen“ der Anderen gegeben sind. Vor allem aber muss der eigene Zweifel am Gegebenen – wenn es sich eben nicht um die positive Bewährung einer gelungenen Reproduktion handeln soll – vom Individuum formuliert und nach außen adressiert werden. Dieses Nach-Außen-Treten sei der Moment der Bewährung, und zwar der Bewährung von Freiheit. Das Individuum, so Gelhard, befreie sich von einer geltenden Welt- und Selbstdeutung und adressiere seinen Zweifel an ein Gegenüber. Es ist diese Adressierung, die, wie Gelhard leider nur in einer Fußnote präzisiert (326, Fußnote 35), den Unterschied zu Laclaus Antagonismus-Begriff markiert. Für die Diskussion der Prüfungsformen und ihrer Potentiale wäre dieser Punkt, dass „die Dynamiken des adressierten Sprechens, die für Hegels Bestimmung von Bildung zentral sind“ (ebd.), sehr fruchtbar. Nur indirekt kommt das normative Potential, die Ersetzung der objektivierenden Tests durch Prüfungsgespräche oder längere schriftliche Stellungnahmen zu fordern, zur Geltung. Die Vernachlässigung der Kritik der Prüfungsformen ergibt sich aus einem Richtungswechsel, den Gelhard im letzten Kapitel vornimmt, da er hier den machtanalytischen Pfad der Prüfungskritik verlässt und die Verbindung zur radikalen Demokratietheorie aufbaut, mit der er am Ende auch schließt. Diese Nähe ist aber nicht im Begriff des Antagonismus zu suchen, sondern besteht allein in der negativistischen Haltung, Bestehendes infrage zu stellen. Das wird klarer, wenn man sich den Unterschied von skeptischer Isothenie und gesellschaftlichem Antagonismus genauer anschaut.

Gelhard geht von Kants Antinomik, welche die Gegenüberstellung zweier gleichstarker Aussagen darstellt, zur Gegenüberstellung zweier gleichstarker gesellschaftlicher Kräfte über, die er mit Hegel „praktische Isothenie“ (300) nennt. Die Ausdehnung „der Isothenie auch auf den Konflikt von Mächten“ (242) ist aus machtanalytischer Perspektive unplausibel. Gleiche Ressourcen an Materialität, Geltungsmacht, Deutungsmacht, Zeit etc. und gleiche Fähigkeiten ihrer Nutzung kommen in der Geschichte der Menschheit nicht vor. Dieser Punkt torpediert nicht nur Hegels Konzept der Dialektik, sondern auch Gelhards Ideal der dyadischen Prüfungsform des sokratischen Gesprächs, das Gleichheit der Beteiligten unterstellt, die sich jedoch faktisch nicht finden lassen wird. Der nahtlose Übergang von begrifflichem Widerspruch zum gesellschaftlichen Antagonismus, den Gelhard mit Adorno annimmt (255), verdeckt die ungleichen Machtressourcen. Wie Gelhard im Kapitel über die positive Bewährung darstellt (299–303), dient die Figur der „praktischen Isothenie“, die Hegel auch noch an den (historisch-machtanalytisch gesehen) völlig asymmetrischen Gegenspielern Religion und Aufklärung festmacht, vor allem dem Offenhalten des Konfliktes im menschlichen Sein. Diese Offenhaltung könnte auch ohne Isothenie-Annahme konzipiert werden. Infragestellung und Entgegensetzung implizieren begrifflich nicht Gleichwertigkeit bzw. Gleichmächtigkeit – wie es im Begriff der Iso(!)thenie angelegt ist. Insofern bildet nicht die Formierung von Hegemonie und Gegenhegemonie, die im postmarxistischen Denken auch nicht symmetrisch konzipiert wird (Laclau/Mouffe 1985) die Verbindung zur radikalen Demokratietheorie, sondern die Negativität. Der Anschluss an Rancière in Gelhards Absichtserklärung am Ende des Buches (400–404), „die Ebene anzuzeigen, auf der sich Hegels negativistisches Konzept der Bildung und Rancières politische Theorie des Dissenses überschneiden“ (404,) passt zur Entwicklung der Argumentation. Er weist allerdings auch daraufhin, dass die Kritik der Prüfungsformen von der Machtanalyse abgewichen und zur politischen Philosophie geworden ist.

Fazit: Ein Fest für (Post)Hegelianer

Fraglos gelingt es Gelhard, die „Sphärentrennung zwischen Bildung und Prüfung“ (11) aufzuheben und Prüfungsprozesse als Kerntätigkeit des Philosophierens auszuweisen. Für die Rehabilitierung des Prüfungsbegriffs im gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskurs sind sowohl die selbstprüfende Vernunft bei Kant als auch die skeptische Bildung bei Hegel gewichtige und unendlich inspirierende Argumente. Für diesen Diskurs ist die philosophische Grundlegung des Prüfungsbegriffs jedoch gleichzeitig schwer erreichbar. Hier wäre die Beibehaltung der Kritik der Prüfungsformen, von der Gelhard anfangs ausgeht und die er am Ende des zweiten Hegel-Kapitels (307–314) auch auf den Punkt bringt, zielführender gewesen. Schließlich ist das im letzten Kapitel entwickelte normative Potential der skeptischen Bildung für den Einsatz im gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskurs nicht ausgeschöpft worden. Für diesen Diskurs mit seiner Ausdifferenzierung zur empirischen Unterrichtsforschung wäre auf Gelhards tiefgelegtem, philosophischem Niveau außerdem eine Bezugnahme zur Entwicklung des Prüfungsbegriffs in der Experimentalkultur der entstehenden Naturwissenschaften sinnvoll und gewinnbringend gewesen. Das metrische Zeitalter, das schließlich auch zu den psychometrischen Prüfungen in der Gegenwart führt, entsteht durch die Experimentalkultur der Aufklärung. Trotz der kurz genannten Verbindung von Kants triadischer Prüfung zur Experimentalkultur seiner Zeit (149–153), ist der Vorgang der Prüfung von Annahmen durch das experimentelle Probieren weder in Kants Denken noch in Gelhards Darstellung existent. Dabei kann die Wissenschaftsgeschichte viel über die Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Prüfvorgangs berichten (z.B. Alder 2003), so dass eine Kritik der Prüfungsformen von dieser Seite hätte wunderbar flankiert werden können.

Auch wenn die am bildungstheoretischen Diskurs Interessierten nicht ganz auf ihre Kosten kommen, bietet die Lektüre von Skeptische Bildung sehr viel für alle Philosoph*innen, speziell aber jene, die an Hegels Denken interessiert sind. Die gründliche und feine Argumentation gibt jeder Leserin und jedem Leser sowohl einen soliden Überblick über das Gesamtwerk Kants und Hegels als auch Einblicke in die Forschungsliteratur und ihre Kontroversen. Die Ausarbeitung des Skeptizismus bei Hegel ist sicher nicht neu, doch die Verbindung zur Philosophie Rancières ist innovativ und überzeugend. Gelhard unterstützt mit seiner Rekonstruktion jene Lesarten (Flügel-Martinsen 2018), die in Hegel einen Vorläufer der radikalen Demokratietheorie sehen.

Literatur

Alder, Ken. The Measurement of All Things. The Seven-Year Odyssey and Hidden Error that Transformed the World, New York: Free Press 2003.

Flügel-Martinsen, Oliver. „Georg Wilhelm Friedrich Hegel.“ In Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch, hg. von Dagmar Comtesse et al., 109–114. Berlin: Suhrkamp, 2018

Israel, Jonathan I., Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford: Oxford University Press 2001.

Israel, Jonathan I., Enlightenment Contested: Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford: Oxford University Press, 2006

Israel, Jonathan I., Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford: Oxford University Press, 2012

Israel, Jonathan I., The Enlightenment that Failed. Ideas, Revolution, and Democratic Defeat 1748–1830. Oxford: Oxford University Press, 2019.

Laclau, Ernesto und Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radial Democratic Politics. London: Verso, 1985.

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