Butler, Judith: The Force of Nonviolence. The Ethical in the Political. London/New York: Verso 2020. 224 Seiten. [978-1-788-73276-5]

Rezensiert von Alexandra Colligs und Christina Engelmann (Goethe-Universität Frankfurt)

Nicht erst die neuen Fälle von tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA, die verschärfte Zurückweisung von Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen und die steigende soziale Ungleichheit, die sich als Konsequenz einer kapitalistischen Bewältigung der gegenwärtigen Pandemie abzeichnet, zeigen, dass in unserer Gesellschaft nicht jedem Leben der gleiche Wert zugesprochen wird. In The Force of Nonviolence untersucht Judith Butler die Gründe für diese Ungleichwertigkeit von Leben. Sie plädiert für eine Ethik und Politik der Gleichheit, die vor dem Hintergrund der Einsicht, dass alle Leben gleichermaßen betrauerbar sind, die Kraft einer kämpferischen Gewaltlosigkeit entfalten soll.

Der Begriff der Gewaltlosigkeit, wie ihn Butler entwickelt, bezeichnet weder ein absolutes Moralprinzip, noch eine individuelle, pazifistische Disposition. Er steht nicht für das passiv-reaktive Ablassen von einem einzelnen, gewaltsamen Akt, sondern benennt die andauernde Verpflichtung, sich gegen bestimmte Formen von Gewalt, und darin zugleich gegen die zugrundeliegenden Praktiken der Zuschreibung von Gewalt, zur Wehr zu setzen. Um zu verstehen, was Gewaltlosigkeit in der gewaltvollen Welt, in der wir leben, konkret heißen kann, befragt Butler zunächst die verschiedenen Modalitäten von Gewalt. Es geht dabei nicht darum, bloß einen anderen strategischen Gebrauch von Gewalt zu rechtfertigen, also Gewalt wiederum als Mittel, doch für andere – die „richtigen“ – Zwecke einzusetzen. Vielmehr will Butler die Rahmenbedingungen sichtbar machen, die ein geteiltes Verständnis von legitimer und illegitimer Gewalt hervorbringen.

Butler rekonstruiert die Ursprünge dieser Unterscheidung anhand eines sozial wirkmächtigen Narrativs, das die Staatsgewalt mit der Annahme eines Gesellschaftsvertrags in Verbindung bringt, der allein einen Rückfall in einen als irreduzibel konflikthaft vorgestellten Naturzustand verhindert. Diesem Narrativ zufolge ist unsere soziale Welt aus einem ursprünglichen Naturzustand hervorgegangen, in dem sich voneinander unabhängige und selbstgenügsame Individuen mit ihren widerstreitenden Interessen begegnen, und in einen Kampf um die vorhandenen Ressourcen, Territorien und die eigene Machtstellung treten. Der aus den konkurrierenden Interessen hervorgehende Krieg aller gegen alle lässt sich – dieser Erzählung nach – erst mit dem Übergang in einen vertraglich bewirkten Gesellschaftszustand beenden. Das menschliche Zusammenleben wird als prinzipiell gewaltvoll ausgewiesen und Gesellschaft erscheint als rein instrumenteller Zusammenhang zur Verteidigung gegen eine potentiell zerstörerische Natur des Menschen und ein gefährliches Außen. Wie Butler mit Marx zeigt, muss die Figur des vereinzelten und autarken Individuums, das zur Verteidigung seiner Interessen unvermeidlich in Konflikt mit Anderen tritt, ihrerseits historisiert werden. Sie ist demnach unter konkreten historischen Bedingungen aufgekommen, hat ihren realen Gehalt in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft erreicht und wird als solche von der Politischen Ökonomie theoretisch gefasst. Damit ist die Figur des autonomen Individuums Ausdruck einer bestimmten politischen Organisation unserer sozialen Beziehungen, Bedürfnisse und Interessen. Für Butler gewinnen wir durch die Einsicht in diesen phantasmatischen Charakter des Naturzustandes Handlungsspielraum zurück: Indem wir dieses Phantasma nicht als Abbild einer unzweifelhaften Realität, sondern als eine Selbstbeschreibung unserer Gegenwart lesen, können wir uns zu dem verhalten, was in ihrem Rahmen als „realistische“ Grenze des Möglichen erscheint.1 Damit eröffnet sich die Möglichkeit, „die Syntax des Sozialen durch ein verändertes Imaginäres“ (vgl. 36) zu artikulieren und auf diese Weise die unbewussten gesellschaftlichen Denkformen zu hinterfragen, die unser Zusammenleben bestimmen.

Der liberalen Erzählung, wonach zu Beginn das auf sich gestellte, selbstgenügsame männliche Individuum steht, kann Butler dann nachweisen, dass sie immer schon zu spät ansetzt: „the human is from the start an adult.“ (37). Dieser Verleugnung der Abhängigkeit, die Butler in vielen ihrer früheren Arbeiten als Kritik am cartesianischen Subjekt fasst, stellt sie den Gedanken einer radikalen sozialen Interdependenz entgegen. Die Ambivalenz, die dieser Abhängigkeit innewohnt, legt Butler unter Bezugnahme auf die psychoanalytischen Arbeiten Melanie Kleins dar. Danach können wir weder unserer grundlegenden Angewiesenheit auf Andere entkommen, noch den unbewussten Erwartungen entfliehen, die aus den Interaktionen mit den ersten Bezugspersonen entstehen. Es ist diese verleugnete Abhängigkeit von Anderen – so Butlers zentrale These, die sie schon in der Kritik der ethischen Gewalt (Butler 2002) entwickelt – deren Resultat die Aggression ist. Anders als etwa in der Kulturtheorie Freuds ist die Aggression also nicht primär, sondern sekundär, das heißt, sie rührt her aus unserer Abhängigkeit und einer sozialen Bedingtheit, die uns vorausgeht. Aggressive und destruktive Impulse bilden somit einen unhintergehbaren Bestandteil sozialer Beziehungen und daher kann auch eine Politik der Gewaltlosigkeit nicht darauf aus sein, solche Aspekte zu verleugnen oder zu unterdrücken. In The Force of Nonviolence legt Butler dar, dass es angesichts der konstitutiven Ambivalenz lebendiger Beziehungen darum gehen muss zu lernen, solche Aggressionen und destruktiven Potentiale auszuhalten und einen Umgang mit ihnen zu finden, der kein Leben unnötig gefährdet.

Dieses Plädoyer für Gewaltlosigkeit und die ihm eingeschriebene Forderung, jedes Leben gleichermaßen wertzuschätzen, leitet Butler normativ aus der radikalen Interdependenz lebendiger Wesen her. Es reicht demnach nicht, das Leben der Menschen bewahren zu wollen, die wir als Erweiterung des eigenen Selbst begreifen; dies wäre nur eine Fortsetzung des liberalen Individualismus. Aus der Einsicht in die grundlegende Abhängigkeit lebendiger Wesen von ihrer materiellen und sozialen Umwelt folgt für Butler vielmehr, dass wir die hegemonialen Register befragen müssen, die festlegen, welchem Leben mehr und welchem Leben weniger Wert zugesprochen wird. Aus diesen Rahmenbedingungen ergeben sich die Grenzlinien der Einschätzung davon, welche Leben als Leben zählen. Das leitende Konzept einer solchen Befragung fasst Butler mit dem Begriff der Betrauerbarkeit [grievability]. Mit diesem Ausdruck bezeichnet Butler die sozial wirkmächtigen Phantasmen, die unsere Wahrnehmung leiten und festschreiben, welches Leben zählt und wessen Verlust damit betrauert werden kann. Wenn etwa tausende Geflüchtete an Europas Außengrenzen eher dem Sterben überlassen, als an das europäische Festland geholt werden, illustriert dies für Butler diese ungleiche Verteilung der Betrauerbarkeit: „We cannot lose those who cannot be grieved. They are treated as beyond losing, already lost, never living, never having been entitled to life.“ (121) Die Kraft der Gewaltlosigkeit muss in diesem Sinne als Teil einer politischen Praxis verstanden werden, die für die gleiche Betrauerbarkeit von Leben eintritt und Gewalt gegen Andere – egal wer diese Anderen sind und wie nahe sie uns stehen – nicht weiter reproduziert. Solche solidarischen Kämpfe um die gleiche Wertigkeit von Leben brechen mit der „Kriegslogik“, die Butler in sozialen Beziehungen am Werk sieht: Vor dem Hintergrund der radikalen Interdependenz lebendiger Wesen, sind die Anderen nicht länger als Hindernis für meine Selbsterhaltung zu betrachten, sondern erscheinen vielmehr als deren Möglichkeitsbedingung. Für Butler ist jedes Leben darauf angewiesen, dass die Bedingungen seiner Erhaltung aktualisiert werden, „because we cannot exist liberated from such conditions, we are never fully individuated“ (46). Die Vulnerabilität marginalisierter Gruppen illustriert für Butler somit eine grundsätzliche Dimension unseres radikalen Aufeinanderbezogenseins als lebendige Wesen. Der Begriff der Vulnerabilität ist dabei relational zu verstehen, denn er steht nicht für eine natürliche Disposition, die bestimmtem Leben faktisch zukommt, sondern bezeichnet ein Verhältnis. „We are never simply vulnerable, but always vulnerable to a situation, a person, a social structure, something upon which we rely and in relation to which we are exposed.“ (Ebd.) Unsere gemeinsamen Lebensbedingungen zu schützen, bedeutet dann, die sozialen und materiellen Voraussetzungen herzustellen, um jedem Leben eine offene Zukunft zu ermöglichen: „To safeguard the future of a life is not to impose the form that such a life will take, the path that such a life will follow: it is a way of holding open the contingent and unpredictable forms that lives may take.“ (146)

Eine solche Praxis muss sich nach Butler auch gegen bestehendes Recht wenden. Wie sie in ihrer Lektüre von Walter Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ zeigt, wird Gewalt nicht mit dem Übergang in eine rechtliche Ordnung zum Verschwinden gebracht, da diese mit der instrumentellen Logik verbunden bleibt, wonach Gewalt sich dadurch rechtfertigt, dass sie für gerechte Zwecke eingesetzt wird. Recht ist unter dieser Voraussetzung nicht das Mittel, um Gewalt zu verhindern, sondern bildet vielmehr den interpretativen Rahmen, der festlegt, was als rechtmäßige und unrechtmäßige Gewalt erscheint. Diese Rechtfertigungspraxis beschreibt Butler mit Benjamin und Étienne Balibar als Oszillationsbewegung: Während der Staat die eigene Gewalt als legitime Machtausübung rechtfertigt, benennt er all das als gewaltsam und unrechtmäßig, was seine Legitimität infrage zu stellen droht. In dieser Umbenennung, durch die letztlich jede grundlegende Opposition als illegitime Gewalt erscheint, zeigt sich die Gewaltförmigkeit des Rechts: „the violent character of a legal regime is exposed as it forcibly quells dissent, punishes workers who refuse the exploitative terms of contracts, sequesters minorities, imprisons its critics, and expels its potential rivals.“ (136)

Vor diesem Hintergrund wendet sich Butler einer Passage in Benjamins Text zu, in der eine Praxis sichtbar wird, die sich der dem Recht inhärenten Gewalt entgegensetzen lässt, indem sie sich dessen instrumenteller Logik verweigert und dadurch unregierbar wird. Benjamin plädiert für ein Verständnis sprachlicher Übereinkunft im Sinne einer „sphere of human understanding that is nonviolent“ (126). Wie eine solche zwanglose Form der Übereinkunft verfährt, wird anhand der Tätigkeit der Übersetzerin genauer verständlich. Wie das Übersetzen Benjamin zufolge auf eine „reine Sprache“ verwiesen ist, in der die innere Verwandtschaft der Sprachen zueinander zum Ausdruck kommt, zeichnet sich auch eine solche Verständigung durch ihre grundsätzliche Offenheit für das Andere und Fremde aus, wodurch sie Konflikte auch dort zu lösen vermag, wo Kommunikation zuvor scheiterte. In solchen Techniken gewaltloser Konfliktlösung sieht Butler das Potential angelegt, mit dem rechtlichen Rahmen zu brechen, der unser Verständnis davon leitet, was Gewalt ist. Nach Butler ist es diese Kraft zur Aussetzung der rechtlichen Gewalt, die Benjamin mit dem Begriff der göttlichen Gewalt fasst, der sich auch auf andere Formen des gewaltlosen Widerstands wie den revolutionären Generalstreik bei Benjamin beziehen lässt. Gemeinsam ist solchen Praktiken, dass sie einen radikalen Bruch mit der gewaltsamen Ordnung des Rechts einzuleiten vermögen, indem sie unsere Komplizenschaft mit dieser Ordnung auflösen: „it destroys those bonds, saturated in guilt, that secure the allegiance of good citizens, good legal subjects, to violent legal regimes.“ (129) Es sind solche gewaltlosen Widerstandspraktiken, die Butler für geeignet hält, sich politischem Zwang und ökonomischer Ausbeutung grundlegend zu verweigern, und im Falle etwa eines Generalstreiks oder antikolonialer Kämpfe sogar die Legitimität einer ganzen Herrschaftsform infrage zu stellen.

Die Möglichkeitsbedingungen für den Bruch mit der herrschenden Ordnung zu Gunsten jenes Offenhaltens, das für eine radikale Gleichheit bürgen soll, expliziert Butler in einem Bezug auf die kulturtheoretischen und psychoanalytischen Überlegungen Freuds. Die Voraussetzung eines anderen Imaginären ist demnach, dass wir nicht in unserer melancholischen Identifizierung mit den hegemonialen Normen verhaftet bleiben, die als Preis der Subjektwerdung den Ausschluss des Anderen fordert (siehe hierzu auch Butler 1997). „In melancholia, the lost other is internalized (in the sense that it is incorporated) as feature of the ego, and a form of heightended self-beratement reenacts – and inverts – at a psychic level the relation of the ego and the lost other.“ (166) Im Anschluss an Freud rekonstruiert Butler die Melancholie als von zwei gegensätzlichen Tendenzen geprägt: Die eine ist die Selbstkritik, die ihre eigene Destruktivität nicht immanent reflektieren kann, die andere ist die Manie, die dieser Destruktivität widersteht, indem sie die Anbindung an das verlorene Objekt verleugnet. Die Kraft der Manie betrifft dabei nicht nur die Möglichkeit der Ablösung von dem verlorenen Objekt, sondern ebenso die Zurückweisung der Tyrannei des Über-Ich, das als Struktur die Identifikation mit jenen hegemonialen Normen sichert, dem sich das Subjekt unterordnet, um als Subjekt existieren zu können. Die Manie ermöglicht so den revolutionären Bruch mit der Wirklichkeit zu Gunsten einer anderen Realität, weil sie die Grenzen des Möglichen nicht anerkennt und sich zugleich gegen die letztlich suizidale Tendenz der Melancholie auf die Seite des Lebens stellt. In dem sie die scheinbar unmögliche Praxis radikaler Solidarität greifbar werden lässt, legt die Manie die Möglichkeit eines neuen egalitären Imaginären offen, in dem ausnahmslos jedes Lebens als betrauerbar zählt: „Unrealistic and useless, yes, but it is possibly a way of bringing another reality into being that does not rely on instrumental logics and the racial phantasmagoria that reproduces state violence. The “unrealism“ of such an imaginary is its strength.“ (203)

Zugleich weist uns Butler darauf hin, dass die Manie als Teil einer politischen Praxis selbst unvermeidlich destruktives Potential entfaltet. Es ist gerade diese Ambivalenz, mit der umzugehen wir in unserem politischen Handeln zu erlernen haben: „The task appears to be finding a way to live and act with ambivalence […] [f]or only the ethical practice that knows its own destructive potential will have the chance to resist it.“ (172) Auf diese Weise wird es Butler zufolge möglich, eine kritische Urteilskraft [critical judgment] auszubilden, die in der gelebten Solidarität mit Anderen gründet und sich gegen die lebenszerstörerischen Tendenzen der Aggression wenden lässt: „Aggression and hatred both remain, for sure, but they are now directed against all that which undermines the prospect of expanding equality and which imperils the organic persistence of our interconnected lives.“ (182)

Butlers Analyse, deren Aktualität sie an zahlreichen Fällen systematischer Vernachlässigung und des Sterbenlassens aufzeigt, eröffnet einen veränderten Blick auch auf die gegenwärtige Situation im Kontext der Bewältigung der Covid-19-Pandemie. Vor dem Hintergrund ihrer Revision des herkömmlichen Gewaltbegriffs wird Gewalt in ihrer strukturellen Wirkmacht sichtbar, wie sie in einer Biopolitik zum Ausdruck kommt, die einige Leben als nicht betrauerbar ausweist und daher keine Maßnahmen zu ihrem Erhalt und Schutz vorsieht. Darin werden die tödlichen Konsequenzen einer kapitalistischen Politik sichtbar, die dem reibungslosen Fortlaufen der Wirtschaft Vorrang vor den gesundheitlichen und sozialen Folgen für die Menschen gibt. In der Kalkulation akzeptabler Todeszahlen – in der unterschieden wird zwischen Leben, das es um jeden Preis zu schützen gilt, und solchem, dessen Verlust als Kollateralschaden hingenommen wird – zeigt sich, wie Gewalt und Gleichheit intern miteinander verbunden sind. So wird aktuell eine Tendenz sichtbar, die auch sonst der liberalen Gesellschaft immanent ist, nämlich die Gewaltförmigkeit eines Systems, in dem Menschen dafür, dass sie infolge der Stilllegung weiter Teile der Wirtschaft aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen wurden und sich damit der ökonomischen Verwertbarkeit entziehen, in ihrer Existenz infrage gestellt werden. Die Politik der Gewaltlosigkeit bricht mit dieser Rationalität, die Leben ungleichen Wert zuspricht, indem sie dazu auffordert, uns – vor dem Hintergrund der Einsicht in die grundlegende Abhängigkeit ausnahmslos jeden Lebens von Anderen und der gemeinsam geteilten Welt – bewusst der Komplizenschaft mit jener todbringenden Kalkulation zu widersetzen.

Trotz der grundlegenden explanatorischen Überzeugungskraft, die Butlers Überlegungen haben, um die Gegenwart verstehbar zu machen, bleiben hinsichtlich der politischen Strategien und philosophischen Konzepte, die sie vorschlägt, um diese Gegenwart emanzipatorisch zu verändern, einige Fragen offen. Zum einen bleibt die Position unklar, von der Butler ihre normative Kritik an der Gegenwart formuliert. Sie betont immer wieder die soziale Rückgebundenheit von Anschauungen: Das notwendig relational konstituierte Individuum ist stets von den kulturellen und sozialen Verhältnissen geprägt, aus denen es hervorgeht und damit auch die normativen Vorstellungen der Einzelnen. Zugleich entwirft sie in ihren Überlegungen die Idee eines verallgemeinerbaren moralischen Prinzips, dessen Maxime die gleiche Betrauerbarkeit jedes Wesens darstellt. Mit der Verallgemeinerbarkeit dieses Prinzips steht und fällt ihre Theorie, denn ein neues imaginäres Phantasma kann sich nur dann in der sozialen Realität materialisieren, wenn es in Handlungen und praktischen Vollzügen instanziiert wird, die von einer größeren Allgemeinheit mitgetragen werden.

Bei den Praktiken, die Butler beschreibt, wird jedoch oft nicht einsichtig, wie die ihnen eingeschriebene Normativität gesellschaftspolitisch wirksam werden soll. Dies zeigt sich beispielsweise an ihrer Deutung des Indigenen in Frantz Fanons Essay „Concerning Violence“. Butler spricht der körperlichen Erfahrung des Indigenen eine subversive Kraft zu, die einen radikalen Gleichheitsanspruch verbürgen soll: „This is a moment in which the racial phantasm breaks up and the assertion of equality shakes the world, opening up a world-making potential.“ (144) Der Bruch mit der rassistischen Gewalt des Kolonialsystems wird hier nicht auf einer strukturellen Ebene verortet, sondern an eine intersubjektive Relation geknüpft, die durch die Erfahrung körperlicher Nähe vermittelt ist. Ungelöst scheint hier das Problem, wie eine solche Gleichheitserfahrung überzugreifen vermag auf die institutionellen und materiellen Rahmenbedingungen, die soziale Hierarchien festschreiben und dadurch koloniale Herrschaft sichern, an deren Aufrechterhaltung diejenigen, die davon profitieren, ein materielles Interesse haben. Dieses Problem verweist auf den gesellschaftlichen Antagonismus, der als Klassenverhältnis besteht und den Butler allenfalls randständig thematisiert. Butler äußert sich nicht näher dazu, wie die von ihr vorgestellten widerständigen Praktiken nicht nur von einer ohnehin bereits kritischen Zivilgesellschaft aufgegriffen werden sollen, die sie voraussetzt, sondern auch von denjenigen, die am meisten von der Arbeit anderer abhängig sind und daher gerade ein Interesse an der Aufrechterhaltung der unterschiedlichen Wertigkeit von Leben haben. Wie Silvia Federici darlegt, geht die Abhängigkeit von der Arbeit Anderer mit einer systematischen Abwertung von Leben einher, das als billige Arbeitskraft auf dem Weltmarkt disponibel sein muss, um die fortgesetzte Akkumulation von Mehrwert sicherzustellen (vgl. Federici 2012:22–86). Die Stellung im Produktionsprozess bedingt, dass nicht alle Lebewesen als gleichwertig betrachtet werden, sondern einige nur als austauschbare Ressource von billiger Arbeitskraft intelligibel sind. Die Abwertung dieser Menschen, die Butler in Verbindung mit ihrer Nichtbetrauerbarkeit bringt, rechtfertigt ihre Ausbeutung moralisch. Federici zeigt exemplarisch, dass Abwertung und Ausbeutung in einem funktionalen Zusammenhang stehen. Innerhalb von Butlers Theorierahmen bleibt ungeklärt, wie dieser Zusammenhang durch Widerstandspraktiken aufgelöst werden soll, die darauf zielen, gegenseitige Abhängigkeiten bewusst werden zu lassen. Wie die Einsicht in eine faktisch bestehende Abhängigkeitsrelation eine normative Kraft entfalten soll, die mit jenem funktionalen Verhältnis von Abwertung und Ausbeutung bricht und sich so auch gegen das materielle Interesse derjenigen zu wenden vermag, die von diesem Verhältnis profitieren, wird nicht nachvollziehbar begründet.

Darüber hinaus wird in Butlers Beschreibung nicht verständlich, wie sich die Register, die vorab vorgeben, welche Praktiken und Handlungen als gewaltsam interpretiert werden, konstituieren und so sozial wirkmächtig werden. Mit dem Hinweis auf die Proteste gegen Feminizide in Latein Amerika – die als Konsequenz einer sozial etablierten Praxis brutalster Gewalt gegen (Trans-)Frauen bis hin zu ihrer ungestraften Ermordung zu bewerten sind –, beansprucht Butler, die gesellschaftlichen Strukturen in den Blick zu nehmen, die das Leben von Frauen* als unbetrauerbar erscheinen lassen und dadurch ihre systematische Unterwerfung unter ein männlich dominiertes Gewaltregime legitimieren. Dabei führt sie die Bedingungen, unter denen sich ein solches Gewaltregime reproduzieren kann, letztlich auf das Problem der Straflosigkeit und damit auf ein rechtliches Phänomen zurück: „Violence occurs in the series of legal refusals and failures to recognize it as such: no report means no crime, no punishment, and no reparation.“ (190)

Auch in ihrer Auseinandersetzung mit der Kritik des Gewaltbegriffs bei Benjamin und Balibar hebt Butler das Recht als den Rahmen hervor, durch den der Staat das eigene Handeln als legitime Machtausübung, und oppositionelle Praktiken als unrechtmäßige Gewalt bezeichnet. Damit aber stellt sich die Frage, wie der entsprechende rechtliche Rahmen die erforderliche soziale Geltung erlangt, damit sich ein bestimmtes Verständnis von Gewalt gegenüber anderen Interpretationen durchsetzen kann. Butler macht einerseits klar, dass die Mechanismen, durch die sich dieser Interpretationsrahmen in der sozialen Praxis, ihren Austauschbeziehungen, Normen, Institutionen und ihren Subjekten reproduziert, zu einer Komplizität mit der gewaltsamen Ordnung des Rechts führt. Zugleich setzt sie aber voraus, dass hier ein Bruch mit dem Bestehenden möglich ist, der dessen Wandel erlaubt. Die Möglichkeit solcher widerständiger Praktiken begründet Butler im Anschluss an Freud mit dem Zusammenwirken zweier Momente: zum einen die transzendierende Kraft der Manie und zum anderen – um deren destruktiven Tendenzen entgegenzuwirken – die kulturellen Prozesse der Bildung, die eine kritische Urteilskraft hervorbringen und uns die vernichtenden Konsequenzen unserer aggressiven Impulse einsichtig machen (vgl. 181). Beide Momente, die Negativität des manischen Impulses und das kultivierte Vermögen der Kritik, stehen einander in Butlers Darstellung jedoch unvermittelt gegenüber und bleiben so in einem Verhältnis äußerlicher Begrenzung. Durch dieses Auseinanderklaffen bleibt zum einen unklar, wie das Moment des reinen Ausbruchs in der Manie zu einer veränderten Realität führen soll. Umgekehrt wird nicht einsichtig, wie sich die Kulturentwicklung, auf die Butler im Anschluss an Freud setzt, um einen „militanten Pazifismus“ zu gründen, von den disziplinierenden Praktiken unterscheidet, die das mit der gewaltsamen Ordnung komplizenhaft verstrickte Subjekt hervorbringen.

Literatur

Butler, Judith: The Psychic Life of Power. Theories in Subjection. Stanford: Stanford University Press 1997.

Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Federici, Silvia: Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Übers. von Max Henninger. Münster: Edition Assemblage, 2012.


  1. Mit den Begriffen „phantasmatisch“ oder „phantasmagorisch“ beschreibt Butler das Zusammenspiel von teils bewussten und teils unbewussten, sozial wirkmächtigen Strukturen des Wahrnehmens, die unser Verhältnis zu uns, Anderen und der Welt bedingen (vgl. 35).↩︎

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