Wiesing, Lambert: Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusst­seins. Berlin: Suhrkamp 2020. 256 Seiten [978-3-518-29914-2]

Rezensiert von Ulrich Dopatka (FernUniversität Hagen)

Der Jenaer Bildtheoretiker und Phänomenologe Lambert Wiesing hat ein Buch vorgelegt, das längst überfällig war: Eine Phänomenologie des Selbstbewusstseins. Schaut man auf die Genese der Phänomenologie, wird der Grund des Desiderats schnell deutlich. Nach einer Zeit der innovativen Bewusstseinsforschung, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den richtungsweisenden Arbeiten von Husserl und Sartre ihren Höhepunkt fand, trat diese in späteren Dekaden zugunsten anderer Themenfelder, wie z.B. der Leiblichkeit oder der Alterität, in den Hintergrund. In der Philosophie des Geistes war die Bewegung gegenläufig. Im Zuge der kognitiven Wende kam dem Bewusstsein im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung zu, da der in der Erforschung des menschlichen Geistes zunächst vorherrschende Funktionalismus die Existenz phänomenaler Zustände nicht erklären konnte.

Innerhalb dieser Richtung wird die Diskussion um die Frage nach Kognition, Geist und Bewusstsein seit einigen Jahren maßgeblich vom Diskurs der embodied cognition bzw. der 4E-cognition bestimmt. Obwohl einige ihrer prominenten Vertreter sich auf Merleau-Ponty als ihren spiritus rector beziehen, wurden die phänomenologischen Implikationen der embodied cognition von phänomenologischer Seite, mit Ausnahme einiger neurophänomenologischer Beiträge (Varela: 1996), bisher zu wenig beachtet. Dabei liegen hier direkt aufeinander beziehbare Argumentationskomplexe mit unterschiedlichen, aber komplementär zu verstehenden, methodischen Zugängen vor. Die Frage, womit man es beim Bewusstsein überhaupt zu tun hat, wo dessen Grenzen sind und vor allem, wie es immanent strukturiert ist, lässt sich empirisch nicht feststellen. Wiesing beseitigt diese Leerstelle von phänomenologischer Seite, indem er, ausgehend von der erstpersönlichen Erfahrung, die wesenhaften Strukturen des Selbstbewusstseins beschreibt – und das in methodisch beispielhafter Weise. Unter diesem Gesichtspunkt, dies sei vorweggenommen, stellt Wiesings Buch, neben dem Eigenwert als philosophische Aufklärung über das Selbstverhältnis des Menschen überhaupt, einen ausgesprochen originellen phänomenologischen Beitrag dar, der für den aktuellen interdisziplinären Diskurs fruchtbar gemacht werden kann.

Wiesings Buch beginnt mit dem Staunen, das ja bekanntlich seit der Antike den Anfang jeden Philosophierens bedeutet. Es ist zunächst ein ungläubiges Staunen darüber, dass für manche Philosophen die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins eine, wie er sagt, „regelrecht suspekte Angelegenheit“ (9) sei. In Erstaunen versetzt ihn weiter die philosophische Tradition, die zwar nicht die Wirklichkeit eines Selbstbewusstseins und ihre Relevanz für das Selbstverständnis des Menschen in Frage stellt, aber nach einer Erklärung für dessen Existenz sucht: „Wie ist Selbstbewusstsein möglich?“ (9). Denn, so Wiesing, die Genese des Selbstbewusstseins ist nichts, was man erklären oder begründen könnte, sondern ist, mit den Worten Husserls, „ein absolutes, undurchstreichbares Faktum“ (Husserl 1973: 159), so wie die Zeit oder das Sein schlechthin. Das Selbstbewusstsein ist in seiner Existenz so hinzunehmen wie es ist. Daraus folgt für Wiesing eine Verschiebung der Koordinaten des philosophischen Zugangs: Die nicht zu beantwortende Frage nach den Bedingungen von Selbstbewusstsein wird von der Frage nach den Folgen, die sich aus dem Sein des Selbstbewusstseins ergeben, abgelöst. Aus einer Vorgeschichte wird eine Nachgeschichte des Bewusstseins.

Zunächst zur kritischen Vorgeschichte, die Wiesing im ersten Kapitel seines Buchs behandelt. Alle Theorien, die in irgendeiner Weise versuchen, die Genese des Selbstbewusstseins zu erklären, werden von Wiesing unter der Bezeichnung „Fichte-Paradigma“ zusammengefasst (vgl. 22). Dabei gerät vor allem das philosophiehistorisch bedeutsame Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins in den Fokus der Kritik. Die Grundfigur dieses Modells ist bekanntlich ein Selbst, das sich selbst zum Gegenstand seiner Intentionalität macht, um sich selbst bewusst zu sein und um von sich selbst zu wissen. Es kommt zu einer unverständlichen Aufspaltung des Selbst/Ich, wobei das reflektierende Selbst/Ich qua reflektiertes Selbst/Ich zum Objekt der Reflexionsbewegung wird. In einer späteren Schrift Husserls zeigt sich pointiert die Schwierigkeit, die mit diesem Modell verbunden ist:

So reflektierend und immer wieder reflektierend finde ich immer wieder Gegenüber-seiendes und Ich […] Ich finde in diesem beständigen Sich-Spalten des Ich und Sich-dann-wieder-Identifizieren ein Ich, das ich als Urpol […] und das dem Ur-Ich zum Gegenüber, zum Seienden gewordene Ich (Husserl 2006: 2).

Mit der Verdopplung ist ein weiteres Problem verbunden. Wenn das Selbst sich durch die Reflexion selbst identifizieren will, dann muss es sich schon vor dem Reflexionsakt bewusst sein. Denn ohne dieses Bewusstsein von sich selbst, wüsste es ja nicht, worauf die Reflexion rekurrieren sollte. Es könnte den Akt überhaupt nicht vollziehen. Wenn das Selbst sich aber seines Selbst bewusst ist, dann setzt es diejenige Existenz schon voraus, deren Zustandekommen es erklären will. Der Regress ist unvermeidlich. Das ist die kritische Diagnose Fichtes: Die Reflexion kann die Genese des Selbstbewusstseins nicht erklären, da sie es bedingt. Fichtes Lösung lautet in Wiesings Worten: „Man muss etwas finden, bei dem das Bewusstsein zugleich Objekt und Subjekt ist“ (23) – etwas finden, was eine Identität des Nichtidentischen schafft. Die Vertreter der sogenannten Heidelberger Schule haben die Schwierigkeiten und Paradoxien des Fichte-Paradigmas deutlich aufgezeigt. Der Schluss, der sich daraus ziehen lässt, ist klar: „Selbstbewusstsein hat keine relationale Binnenstruktur“ (45), es kann sich nicht selbst thematisieren. Positiv formuliert: Selbstbewusstsein ist wesenhaft präreflexiv.

Der Paradoxievorwurf der Heidelberger Schule an Fichte und das Reflexionsmodell bilden eine Zäsur innerhalb der philosophischen Bewusstseinsforschung. Wir können seitdem weder auf Fichte noch auf das Reflexionsmodell zurückgehen, wenn wir Aufklärung über das Selbstbewusstsein anstreben. Damit ist für Wiesing ein allgemeines und über Fichte hinausweisendes Problem markiert: Viele neuere Ansätze werden zu „Reflexionsverbesserungstheorien“ (24), wenn anstelle von Selbstreflexion ein anderes Selbstverhältnis tritt, wie beispielsweise die Selbstrepräsentation, Selbstaffektion oder das Selbstgefühl. Letztendlich basieren nach Wiesing auch diese Konzeptionen auf der Intuition binärer Größen, die zu einer „unmittelbaren Identität […] einer Selbstbeziehung“ (31) zusammengezogen werden sollen. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass nicht alle von Wiesing genannten Theorien diesem Selbst-X-Muster entsprechen. Der Jenaer Philosoph geht in einigen Fällen zu undifferenziert vor. Das führt dazu, dass er auch diejenigen Kinder mit dem Bade ausschüttet, die, wie er, ebenfalls das Projekt einer phänomenologischen Beschreibung der wesenhaften Strukturen eines vor- oder nichtreflexiven Selbstbewusstseins verfolgen. Wie ein kurzer Seitenblick auf die von dem französischen Phänomenologen Michel Henry entwickelte Theorie der Selbstaffektion zeigt, ist z.B. mit der Selbstaffektivität die wesenhafte Struktur einer urpassiven und irreflexiven Bewusstseinssphäre angesprochen, die dem ekstatisch-intentionalen Erlebnisbewusstsein vorgelagert ist (Henry: 2011). Das kann hier nicht weiter expliziert werden, doch lässt sich allgemein anführen, dass Henrys Phänomenologie der Selbstaffektion von einer Rekonstitution oder Substituierung eines wie auch immer gearteten Selbstbezugsmodells weit entfernt ist.

Nach diesem negativen Ergebnis der Vorgeschichte ist für Wiesing die Einsicht evident, dass ein Perspektivwechsel vorgenommen werden muss. „An die Stelle der unbeantwortbaren Frage nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbewusstsein gilt es, die beantwortbare Frage nach den Folgen der Wirklichkeit von Selbstbewusstsein für das Subjekt zu stellen“ (50). Der Perspektivwechsel wird bei Wiesing zum philosophischen Programm mit dem Namen „Inverse Transzendentalphilosophie“ (69f), das er schon in seinem Vorgängerbuch „Das Mich der Wahrnehmung“ formuliert hatte (Wiesing 2015: 192f). Analog zu der im Zitat genannten Neuorientierung, verschiebt sich der Analyseschwerpunkt von den „subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung“, wie es Husserl formuliert hätte, zu den „Folgen der Wirklichkeit von Wahrnehmung für das Subjekt“ (ebd.: 112) und damit zu der Frage, „wie es ist, ein Wahrnehmender“ (ebd.: 113), d.h. im Zustand der Wahrnehmung zu sein.

Allerdings ist bei genauerem Hinsehen alles andere als klar, wie die Leitfrage – was aus dem Sein des Selbstbewusstseins folgt – beantwortet werden soll. Wie kann ich von der Existenz meines präreflexiven Selbstbewusstseins wissen, wenn mir der erkenntnistheoretische Weg über die innere Wahrnehmung oder Reflexion versperrt ist? Das letzte Zitat weist schon darauf hin. Ich „weiß“ auf eine nicht-epistemische Weise, „wie es ist, etwas zu sein“ (93), indem ich „weiß“, wie es ist, in einem bestimmten phänomenalen Zustand zu sein. Bei Wiesing heißt dieses „Wissen“, wie es ist, schlicht „Zumutung“. Als Folge der Wirklichkeit des präreflexiven Selbstbewusstseins gibt es nach Wiesing gleich eine doppelte Zumutung: Erstens „einen unbestimmten Zwang zum Zumute-sein“ (existenziale Zumutung) und zweitens „eine Weise [des] zumute sein, das heißt, es muss ihm ein Bewusstsein gegeben sein, wie es ist, verliebt“ oder in jedem anderen phänomenalen Zustand zu sein (existentielle Zumutung) (93f). Man wird unschwer darauf aufmerksam, dass der quasi-epistemische Begriff „Zumutung“ dem prominenten Ausdruck what-it-is-like von Thomas Nagel entspricht.

Der konstruktive Teil von Wiesings aktuellem Buch beginnt mit dem zweiten Kapitel und der Explikation seines methodischen Vorgehens. Wenn schon nicht begründet werden kann, warum das Selbstbewusstsein für jeden von uns eine unbezweifelbare Faktizität ist und die Erklärung ihrer Genese in Paradoxien führt, so lassen sich doch dessen wesenhafte Strukturen beschreiben. Hier kommt nun die Phänomenologie ins Spiel, die voraussetzungslos auf die „Sachen selbst“ zurückgeht und die Phänomene in ihrer Selbstgegebenheit so nimmt, wie sie sich geben und zeigen. Ausgangspunkt ist dabei das eigene Erleben, die Perspektive der ersten Person, denn nur ich „weiß“ in nicht-epistemischer Weise, wie es ist, ein Selbstbewusstsein zu haben, „wie ich für mich in meinem Selbstbewusstsein bin“ (10). Allerdings sind solche Deskriptionen Literatur à la Proust und nicht Wissenschaft, solange nicht die Invarianten oder Wesen des subjektiv Erlebten durch eidetische Variationen herausgearbeitet und schriftlich fixiert sind. Erst mit dem Abschluss der Wesensbestimmung genügt die Phänomenologie ihrem eigenen wissenschaftlichen Anspruch und ihre Analysen können reproduziert, und dadurch verifiziert und falsifiziert werden. Wiesing arbeitet in der Folge die wesenhaften Strukturen des Urphänomens Selbstbewusstsein in optima forma heraus, wenn man Husserl als den methodischen Maßstab anlegt. Überhaupt scheint Husserl neben Sartre einer der beiden wichtigsten Referenzautoren für Wiesing zu sein. Während er, wie Sartre, die Phänomenologie vor allem ontologisch auslegt, orientiert er sich methodisch an dem Begründer der Phänomenologie und stellt sich explizit in die Tradition der Transzendentalphilosophie, wenn auch in einer modifizierten Version. Wenn Husserl die Aufgabe der Transzendentalphänomenologie in der Aufklärung der sich aus der phänomenologischen Einstellung gebenden Korrelationen sieht (vgl. Husserl 1984: 427), dann findet sich der Jenaer Philosoph mit seiner Phänomenologie hierin wieder. Entsprechend stehen auch bei ihm Korrelationsapriori – „so viele davon wie möglich!“ (68) – im Mittelpunkt. Die Grundkonstellation sieht dann so aus, dass die Existenzzumutung des Selbstbewusstseins ein konstantes Relatum der Korrelation darstellt, zu dem weitere Korrelationspartner jeweils durch den Zumutungszwang hinzukommen und unterschiedliche Wechselbeziehungen bilden. Dies geht bis hin zu Subkorrelationen, in denen einzelne Relata selbst wieder Relationen sind (vgl. 214). Ich werde mich im Folgenden auf die drei Korrelationsapriori konzentrieren, die das wesentliche Strukturdesign des Bewusstseins manifestieren.

Sartre hatte schon früh in seiner kritischen Reaktion auf das transzendentale Ego und das Reflexionsmodell ein klares Gespür dafür entwickelt, dass ein reflektierendes Bewusstsein von transzendenten Gegenständen in sich selbst unreflektiert sein muss (Sartre 1997). Nun mag man bezweifeln, ob Sartre die eidetische Variation wirklich so konsequent angewandt hat, wie Wiesing das im zweiten Kapitel darstellt, oder ob dieser nicht vielmehr sein eigenes ausgeprägtes Methodenbewusstsein auf den französischen Philosophen projiziert (vgl. 66f). Wie dem auch sei, es steht fest, dass Sartres Idee überzeugend und richtungweisend für die phänomenologische Bewusstseinsforschung geworden ist und man nicht hinter sie zurückkann. Sartres einfache wie innovative Lösung ist: Das präreflexive „Bewusstsein (von) sich“ begleitet alle intentionalen Bewusstseinsakte und ist von ihnen nicht zu trennen – ohne selbst thematisch in Erscheinung zu treten oder reflexiv eingeholt werden zu können. Bei Wiesing wird daraus ein Korrelationsapriori: „Jedes objektsetzende Bewusstsein ist gleichzeitig nichtsetzendes Bewusstsein von sich selbst“ (60, 111) – ohne wechselseitiges Fundierungsverhältnis.

Bedenkt man, dass sich die Intentionalität des Objektbewusstseins nur in einem wahrnehmenden Leibkörper realisieren kann, dann überrascht es nicht, dass sich für Wiesing aus dem Sein des Selbstbewusstseins die korporale Ambiguität von Leib und Körper als eine weitere Zumutung ergibt (4. Kapitel). Denn auch Gott müsste, „wenn er denn sehen möchte, was in seiner Welt passiert, selbst leiblich zur Welt kommen“ (112). Auch für diese neue Korrelationsgröße ist Sartre wieder der Referenzautor und nicht, wie sonst üblich, Merleau-Ponty, wenn vom Leib die Rede ist. Und das aus einem guten Grund: Das „transzendentale Interesse“ (104) Wiesings gilt nicht den leiblichen Bedingungen des In-der-Welt-seins, sondern den Folgen, die sich aus der Wirklichkeit eines Selbstbewusstseins ergeben. Und eine phänomenologische Analyse lässt keine andere Bestimmung zu als ein präreflexives Selbstbewusstsein, das gleichursprünglich und mit ontologischer Notwendigkeit auch ein leibliches Wesen ist und einen Körper in einer raumzeitlichen Welt hat.

Die Pointe, auf die die phänomenologische Untersuchung der Korrelationen zuläuft, ist, dass Leib-sein und Körper-haben Extrempositionen in einem „ontologischen Spielraum der Stile“ (129) darstellen. Wiesing schreibt damit auf originelle Weise Merleau-Pontys korporale Ambiguitätsphilosophie weiter fort, nicht als „Weder-Noch“ (Waldenfels 2000: 254), sondern als ein Sowohl-Als-auch. In Rückgriff auf Heinrich Wölfflins Ästhetik wird die „Selbstdifferenzierung“ des Leibkörpers von Wiesing mit dem bipolaren Begriffspaar linear-malerisch markiert. Dem Körper wird dabei der lineare Seinsstil zuerkannt, da er sich als physischer Körper klar von den Objekten der Welt und als materielle Substanz von der geistigen Substanz abgrenzt. Im Kontrast dazu „verschwimmt“ (134) der Leib mit der Welt, sein In-der-Welt-sein ist „malerisch, fließend und nichteindeutig“ (ebd.). Dass Wiesing hier Anknüpfungspunkte an die Philosophie des wilden Seins des Fleisches beim späten Merleau-Ponty zu finden glaubt, ist nachvollziehbar, aber auch gefährlich. Denn wenn „die Welt mit dem Leib ontologisch identisch wird“ (138), dann lösen sich die Begriffe auf, Welt und Leib fallen mit dem Allsein des Fleisches zusammen. Was ist dann noch der Leib?

Ein drittes Korrelationsapriori ergibt sich aus der Tatsache, dass mit dem Begriff „Selbstbewusstsein“ zwei unterschiedliche Phänomene angesprochen werden (Kapitel 5). In der alltagssprachlichen Bedeutung sprechen wir von einem Menschen mit Selbstbewusstsein, wenn er ein positives Selbstwertgefühl hat und es durch ein entsprechendes Auftreten nach außen zeigt. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf das für die theoretische Philosophie interessantere Phänomen des Bewusstseins der eigenen Existenz. Diese vermeintliche Äquivokation ist schon an anderen Orten thematisiert worden (Tugendhat 1979: 28f) und wäre nicht besonders beachtenswert, wenn Wiesing nicht einen neuen Akzent setzen würde. Beide Phänomene bilden ein Korrelationsapriori, d.h. sie bedingen gegenseitig ihre Existenz, ohne sich zeitlich oder begründungstechnisch in eine Rangordnung bringen zu lassen. Wiesing übernimmt dafür von Heidegger den Begriff der „Gleichursprünglichkeit“: „Jedes nichtsetzende, präreflexive Bewusstsein von sich selbst ist gleichzeitig ein präreflexives Gefühl eines Wertes von sich selbst: ein Selbstwertbewusstsein“ (178).

Tritt man einen Schritt zurück und überschaut das gesamte Buch, dann zeichnet sich vor unseren Augen eine kohärente Theorie des Selbstbewusstseins ab. Wiesing ordnet sich dabei explizit in die Tradition der klassischen Phänomenologie ein und schreibt diese innovativ fort. Unberücksichtigt bleiben dabei allerdings Forschungsarbeiten der Neuen Französischen Phänomenologie, die zum Beispiel den pathischen Leib thematisieren, wie überhaupt Emotionen keine Rolle in Wiesings phänomenologischer Konzeption spielen. Während diese Ausrichtung von einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins vielleicht nicht unbedingt erwartet wird, sieht es mit der Frage nach den zeitlichen Implikationen der Korrelationsapriori anders aus. Jede weitere Diskussion hat darauf zu achten, dass dieses Thema, vor allem im Kontext neuerer Debatten, wie etwa der um embodied cognition, mit einbezogen werden muss. Gleichwohl ist Wiesings Buch eine richtungsweisende Studie, an der die phänomenologische Diskussion nicht vorbeigehen kann und die zu weiterführenden Forschungen einlädt.

Literatur

Henry, Michel. L´essence da la manifestation. Paris: Press Universitaire de France, 2011.

Husserl, Edmund. Späte Texte über Zeitkonstitution (1929-1934). Die C- Manuskripte, hg. von Dieter Lohmar. Dordrecht: Springer, 2006.

Husserl, Edmund. Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07, hg. von Ullrich Melle. Dordrecht/Boston/Lancaster: Martin Nijhaus, 1984 (Hua 24).

Husserl, Edmund. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928, hg. von Iso Kern. Den Haag: Martinus Nijhoff, 1973 (Hua 14).

Sartre, Jean-Paul. „Die Transzendenz des Ego.“ In Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, 39–97. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997.

Tugendhat, Ernst. Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979.

Varela, Francesco. „Neurophenomenology.“ Journal of Consciousness Studies 3/4 (1996), 330-350.

Waldenfels, Bernhard. Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000.

Wiesing, Lambert. Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015.

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