Lo, Ming-Chen: Jenseits des Leidens. Adornos Beitrag zu einer ›Denkpsychologie‹. Berlin/Boston: De Gruyter 2020. 186 Seiten. [978-3-11-064222-3]

Rezensiert von Dominik Koesling (Universität Freiburg)

Indem Theodor W. Adorno (2013: 29) „[d]as Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, […] [zur] Bedingung aller Wahrheit“ erklärt, hat er nicht nur eines der zahlreichen gedankenverdichtenden Zitate geprägt, die ein Signum seines Werks geworden sind, sondern zugleich die zentrale Rolle markiert, die das Leiden in seinem Denken einnimmt. Der sich bereits damit einstellende Eindruck, dass das Leiden im Zentrum desselben steht, wird bestärkt, wenn Adorno (2016: 217) innerhalb seiner Arbeiten en passant Einschübe wie: „es ist vielleicht sogar das Maß der Philosophie, wie tief sie sich des Leidens versichert“, hinzusetzt. Vor diesem Hintergrund lässt sich Sommers (2016: 266–267) äußerst pointierte und zugespitzte These der Sache nach durchaus vertreten, wonach „[d]as Leid […] mithin nicht bloß normative Basis von Adornos Negativismus, sondern das hauptsächliche und man könnte beinahe sagen: einzige Thema seiner Philosophie“ sei.

Keineswegs ist dieses Thema jedoch bisher in der Literatur umfänglich aufgearbeitet worden, weshalb Honneth (2020: V, vgl. 2016: 52) mit seiner Einschätzung Recht behält, dass es sich beim Leidensbegriff um einen Begriff handelt, „der eine Schlüsselstellung in Adornos Werk einnimmt, ohne in der Sekundärliteratur bereits hinreichend durchdrungen zu sein.“ Um dem damit angezeigten Desiderat zu begegnen, haben in der jüngeren Vergangenheit – teilweise explizit, teilweise beiläufig – mehrere Autor:innen wertvolle Diskussionsbeiträge geliefert, darunter u. a. Huber (2016), Schweppenhäuser (2016), oder Freyenhagen (2013). Auch Ming-Chen Lo stößt nun mit ihrem 186 Seiten umfassenden Buch Jenseits des Leidens. Adornos Beitrag zu einer ›Denkpsychologie‹, zu welchem Honneth ein fünfseitiges, einordnendes und lesenswertes Vorwort (V–IX) beigesteuert hat, in diese Forschungslücke. Textgrundlage des jüngst in der Reihe Sonderbände der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienen Buchs ist die von Honneth betreute Doktorarbeit Los, die im Wintersemester 2014/2015 an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt angenommen wurde. Bereits der Untertitel des Buches indiziert dabei den von der Autorin gewählten Fokus auf eine Auseinandersetzung der Philosophie Adornos, die ganz wesentlich auf den psychoanalytischen Theoriehintergrund Bezug nimmt (vgl. exemplarisch 7, 16–20, 156–157). Im Gegensatz zu Schumann, der sich in Leiden und Gesellschaft. Psychoanalyse in der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule (2018) ebenfalls (stellenweise) mit Adorno auseinandersetzt und dabei zu einem kritischen Urteil über den Stellenwert der Psychoanalyse innerhalb dessen Denkens gelangt, bricht Lo für diese in ihrer Arbeit geradezu die Lanze.

Das tut sie insbesondere mittels des Begriffs Denkpsychologie, den Lo (98) explizit Adornos Kant-Auseinandersetzung in der Vorlesung Probleme der Moralphilosophie (2015: 150) entnimmt und der ihr in der Folge wesentlich als Interpretationszugang für Adornos Werk dient. Mit ihm möchte die Autorin ein erkenntnispsychologisches Interesse verfolgen, das schon Adornos Philosophische Frühschriften (2003) präge, und wesentlich aufweisen, dass allem Denken Prärationales vorausgeht: „Was unbewusst in uns drängt, was uns affiziert und widerfährt, geht dem Denken voran.“ (157) Um die Grundlage für diesen Interpretationsvorschlag mittels des für den Diskussionszusammenhang Kritischer Theorie ungewöhnlich bis befremdlich anmutenden und kaum bemühten Begriffs der Denkpsychologie zu legen, wird diesem bereits in der Einleitung, neben der Fragestellung und der Struktur der Arbeit, ein eigener, der Positionierung dienlicher Abschnitt gewidmet (vgl. 3–10, 98).

Damit fungiert die Einleitung als Weichenstellung für die gesamte Arbeit, die ihren inhaltlichen Fokus auf die Denkpsychologie Adornos legt, wobei Lo hier eine genuine Interpretationsperspektive mit der Anregung einer Diskursverschiebung hinsichtlich des Leidens verbindet. Insbesondere in den drei hinteren des insgesamt fünf Kapitel umfassenden Hauptteils mit der Ausrichtung auf Das kognitive Leiden (Kapitel 3), Die Motivation zum Identifizieren in der Wahrnehmung (Kapitel 4) und Sozialisation und Denkfähigkeit (Kapitel 5) wird dabei der Kern der Argumentation ausgearbeitet. Im Hintergrund steht dabei stets die doppelte Leitfrage, die Lo gleich zu Beginn ihren Überlegungen voranstellt:

Erstens: Enthält Adornos Denken eine essenzialistisch nachvollziehbare Anthropologie, welche die empirisch nachvollziehbare Grundlage einer Rationalität darstellen kann, die sein Denken gegenüber dem üblicherweise kritisierten Negativismus hinausführt? Und zweitens: Lassen sich seine zentralen anthropologischen Annahmen durch eine psychoanalytische Interpretation des ‚Leidens‘ entfalten? (1)

Dieser richtungsbestimmenden Doppelfrage entsprechend, anhand derer sich die Arbeit zwischen Anthropologie und Psychoanalyse aufspannt, leiten auch die ersten beiden Kapitel Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie (Kapitel 1) und Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“ (Kapitel 2) angemessen, jedoch eher diskursverortend ein – wobei die Schwerpunkte einerseits in der Psychoanalyserezeption Adornos, andererseits in der Auseinandersetzung mit dem Leiden in dessen Denken liegen.

Eine (Re-)evaluation des Stellenwerts des Leidens

Der im Titel geführten Thematik des Leidens nähert sich Lo mit einem kritischen Blick auf den vorherrschenden Diskurs. In den üblichen Interpretationen rund ums Leiden dominierten dabei nicht nur die gesellschaftskritischen Momente, die der Autorin bei Ausbleiben weiterer Aufklärung willkürlich anmuten, sondern damit verknüpft und darüber hinausweisend würden auch die psychoanalytischen Momente im Denken Adornos vernachlässigt, was zu einer Simplifizierung der gesamten Thematik des Leidens beitrage (vgl. 1, 11). Da dies wiederum ein angemessenes Verständnis des Leidens verstelle, will Lo sich selbst gegenüber diesen Interpretationsrichtungen, die vornehmlich auf normative Fragen abzielen würden, abheben, indem sie – so könnte man es wohl zugespitzt formulieren – mit einem stark ausgeprägten Interesse an den erkenntnistheoretischen Dimensionen des Leidensbegriffs aufwartet. Angesichts ihrer Kritik möchte Lo daher zwar „das gesellschaftskritisch stark belastete, aber sachlich wenig erläuterte ‚Leiden‘ zum Ausgangspunkt nehmen“ (3), doch sie tut dies primär, „[u]m die intrapsychischen Perspektiven in Adornos Philosophie zurückzugewinnen“ (3).

Mit dieser Ausrichtung geht es der Autorin in ihrer Arbeit um nicht weniger als eine (Re-)evaluation des Leidens und dessen Stellenwertes im Denken Adornos, die von der „Ausgangsfrage, ob es gelingen kann, durch eine Ausarbeitung der psychoanalytischen Implikationen seines Leidensbegriffs die allgemeine anthropologische Voraussetzung seiner Philosophie darzulegen“ (156), geleitet ist. Dem ums Leiden geführten Diskurs schreibt die Autorin in diesem Zusammenhang zu, dass „der Leidensbegriff ausschließlich im Sinne des negativen psychischen sowie des physiologischen Zustands erläutert“ (71, vgl. 88–89) worden sei. Obwohl es sich dabei um eine Zuspitzung in doppelter Weise handelt, die bspw. die epistemologischen Dimensionen von Arbeiten wie Freyenhagen (2013) oder Kohlmann (1997) verkennen lässt, ist die Beobachtung Los, dass die Ambiguität des Leidensbegriffs oftmals vernachlässigt wird, richtig.

Gestützt von etymologischen Ausführungen wird dies für Lo zu einem zentralen Moment innerhalb der Argumentation. Sie markiert dabei zwei Seiten des Leidensbegriffs, die bei Adorno selbst stellenweise dunkel bleiben, denn „[i]n Adornos Schriften ist der Leidensbegriff stets in einer schillernden Zweideutigkeit zu lesen: Ob das Leiden ein ‚suffering‘ ist oder aber ein unbewusstes Geschehen bedeutet, bleibt offen.“ (158) Angesichts dieser Unschärfe des Leidensbegriffs plädiert Lo für eine Unterscheidung in reales und kognitives Leiden (vgl. 5, 75, 77–79), die ähnlich durch die Differenzierung zwischen schmerzhaftem Erleiden und passivem Erleben angezeigt wird, wie sie der ebenfalls von Lo rezipierte Angehrn (2003: 27–34) anbietet. Entsprechend gibt es für Lo mit dem „Leiden als negative Erfahrung und Leiden als unbewusste (Un-)Lust, deren Wert nicht vorherbestimmt ist“ (29) zwei verschiedene Konnotationen des Leidensbegriffs, deren Auseinanderhalten dabei helfen kann, das Leidensverständnis Adornos zu erhellen.

Der damit einhergehenden Konsequenz für die theoretische Reflexion ist sich die Autorin durchaus bewusst, denn „[m]it der Unterscheidung der zwei Bedeutungen des Leidens ändert sich auch die Charakterisierung von Adornos Philosophie. Ein erkenntnispsychologisch erfasstes Element zu Kreativität und Reflexion zu schätzen, ist etwas anderes, als das reale Leiden normativ aufzuladen.“ (83) Da sich der Leidensbegriff dementsprechend „also in zwei konträre Werte aufspalten“ (29) lässt, wird bei Lo die sowohl im Diskurs als auch im Alltag dominierende Bedeutung des Leidens im Horizont einer negativ empfundenen bzw. konnotierten Erfahrung zugunsten derjenigen Bedeutung zurückgestellt, die im Horizont von Disruption und Irritation steht, welche Lo vornehmlich als (kognitive) Dissonanz beschreibt (vgl. 71, 74–75, 85–89).

Denkpsychologie als Leitbegriff einer Interpretationsverschiebung

Die von Lo gewählte Schwerpunktsetzung auf das kognitive Leiden legt den Grundstein der Perspektive, die sie im Anschluss an Adornos (2003: 235, vgl. 236) Überlegungen entwirft, wonach „die Psychoanalyse keineswegs auf Pathologie und Therapie beschränkt bleibt, sondern allein durch ihre Erkenntnisziele ihre ausreichende Begründung findet.“ Darauf aufbauend verteidigt Lo (5, 20, 157) die Psychoanalyse auch nicht nur als eine Wissenschaft des bloß Pathologischen, sondern weitaus grundsätzlicher als eine Wissenschaft menschlicher Rationalität. Adorno wolle dabei, so die Autorin, „von Anfang an das Unbewusste in die bestehenden Kenntnisse über den menschlichen Geist einbringen, und das heißt für ihn schon damals: Er möchte ein neues Forschungsgebiet erschließen, in dem Psychoanalyse und Erkenntnistheorie zusammenarbeiten.“ (20) Der Lo’schen Interpretation folgend handelt es sich dabei keineswegs um einen bloß temporären Interessenschwerpunkt Adornos, sondern um dessen zeitlebens, seit „1927 verfolgtes Projekt, zwischen Psychoanalyse und Erkenntnistheorie zu vermitteln, [das er] stets weiterentwickelt hat.“ (111)

An eben diese Verortung an der Schnittstelle von Psychoanalyse und Erkenntnistheorie knüpft Lo selbst mit ihrer intensiven Auseinandersetzung mittels des Begriffs der Denkpsychologie an, zu dem die Autorin selbst eingangs zu Recht bemerkt, dass er, „freilich erläuterungsbedürftig [ist], da er in der bisherigen Adorno-Interpretation keine Verwendung findet.“ (3) Mit dem Übergang ins dritte Kapitel nimmt die Autorin sich dieser Erläuterung dezidiert an, wodurch die Arbeit sichtlich an Fahrt aufnimmt (vgl. Honneth 2020: VI–VII). Sukzessive beginnt Lo dabei, die von ihr eingangs formulierte These, wonach „es sich dabei [bei der Denkpsychologie] um einen von Adorno durch sein ganzes Leben hindurch weiterentwickelten Gedankenkomplex handelt, der jedoch von der einseitigen Betonung des Negativen überdeckt worden und in der bisherigen Rezeption untergegangen ist“ (3, vgl. 71), zu untermauern. Sie charakterisiert die Denkpsychologie wie folgt:

Der Kern der ‚Denkpsychologie‘ liegt in der Auffassung begründet, dass alle theoretisch fassbaren Aspekte unseres Geisteslebens unbewusst psychisch bedingt sind. Seien es die Moral oder die ästhetische Kreativität, das logische Denken oder die schlichte Wahrnehmung – für Adorno kann kein Bereich geistiger Aktivität unabhängig von unbewussten Triebregungen und Dispositionen erfasst werden. (90)

So wird der Begriff der Denkpsychologie für Lo zum Schlüssel, Psychoanalyse und Erkenntnistheorie sowie Fragen rund ums Unbewusste mit der Transzendentalphilosophie zusammenzuführen und so einen Zugang zum leitenden Interesse an der Genese des Denkens zu gewinnen (vgl. 6, 72, 106). Stellt die Autorin dabei immer wieder heraus, wie sich Adorno hierbei insbesondere auf Freud und Kant bezieht, so hebt sie zugleich dessen Innovationsgehalt gegenüber seinen Bezugsautoren hervor:

Adornos denkpsychoanalytisches Konzept enthält offenbar spekulative Momente, aber genau deswegen eröffnet es ein Theoriefeld, das weder eindeutig Freud, Kant oder der kognitiven Psychologie zuzuordnen ist. […] Sowohl das Vokabular als auch der Fokus von Adornos psychoanalytischer Theorie des Denkens weichen deutlich von der herkömmlichen Psychoanalyse und der kognitiven Analyse ab. (116)

Indem Lo hieran anschließt, knüpfen ihre Überlegungen konsequent an ein heute in der Forschung weniger beachtetes Motiv Adornos an, der „zeitlebens bemüht war, die deutsche philosophische Tradition auf den aktuellen psychologischen Wissensstand zu bringen.“ (71) Besagtes Motiv sowie die vollzogenen Anpassungen, Verschiebungen sowie Korrekturen verfolgt die Autorin dabei bis in Adornos Philosophische Frühschriften (2003) zurück und schlägt zugleich die Brücke zu aktuelleren entwicklungspsychologischen Überlegungen, wie sie im Kontext der Honneth’schen Anerkennungstheorie eine Rolle spielen (vgl. insb. 132–137).

Ein unorthodoxer Diskussionsbeitrag

Mit der skizzierten Schwerpunktsetzung setzt Lo an, bereits betretene und festgelaufene Pfade der Adorno-Interpretation zu verlassen, „da das Ziel und das Interesse der vorliegenden Arbeit vielmehr darin bestehen, unberücksichtigte und unentwickelte Ansätze bei Adorno selbst hervortreten zu lassen.“ (129) Dementsprechend bestimmt ein anregender Ent- und Aufdeckungscharakter die gesamte Arbeit und die Autorin scheut sich im Gegensatz zu manch anderen Interpret:innen nicht, etwaige Schwierigkeiten im Argumentationsgang – sei es hinsichtlich der Entfaltung eigener Thesen oder hinsichtlich der Auslegung von Adornos Originaltexten – bestmöglich zu benennen und, wo möglich, Lösungsvorschläge oder Interpretationsmittel anzubieten – ggf. auch unorthodoxe wie bspw. die Kognitionspsychologie (vgl. exemplarisch 99–106).

Weil Lo es schafft, sowohl die Originaltexte als auch im Diskurs festgefahrene Interpretationsmuster und Deutungsschemata sachorientiert infrage zu stellen, erweist sich das Gegen-den-üblichen-Diskurs-Lesen als produktiv. Denn dabei können nicht nur „viele autoritäre Vorurteile innerhalb der Adorno-Interpretation […], die latent oder unmittelbar auf die Lektüre wirken“ (156), wie bspw. diejenigen des Pessimismus oder Elitismus, begründeterweise angegangen und textgestützt entkräftet werden, sondern auch kontroverse Fragen adressiert werden, wie bspw. diejenige rund um anthropologische Momente in Adornos Denken, die üblicherweise eher randständig behandelt bis gänzlich geleugnet sind (vgl. 5, 11, 51). Gerade vor diesem Hintergrund müssen aber die summarischen Urteile, die stellenweise getroffen werden, irritieren, wenn bspw. betont wird,

dass in den bisherigen sozialkritischen Diskussionen Adornos Begriff des Leidens häufig pauschal und ohne psychischen Gehalt diskutiert wird, wobei man das Leiden als einen eindeutig fühlbaren psychischen Zustand des Subjekts voraussetzt, der als Motivquelle fungiert und die Möglichkeit der Überwindung in sich birgt. […] Manche Autoren erklären die normative Gewissheit des Leidens dadurch, dass Adorno das menschliche Leiden wesentlich ‚physisch‘ bestimme. (45, Herv. D. K.)

Weil hierbei lediglich Bernsteins Aufsatz Suffering Injustice: Misrecognition as Moral Injury in Critical Theory (2005) als exemplarisches Negativbeispiel adressiert wird, versäumt es die Autorin, die einzelnen Diskursteilnehmer:innen und die vorhandenen Unterschiede ihrer Positionen zu kennzeichnen. Entsprechend wären gerade an diesen Stellen Präzisierungen wünschenswert gewesen.

Nicht vergessen werden sollte dabei jedoch, dass die Arbeit den Titel Jenseits des Leidens trägt. Diesem entsprechend bekommen zwar gerade all diejenigen Leser:innen, die sich mit dem Leiden in der Kritischen Theorie beschäftigen, mindestens interessante Gedanken präsentiert, die eine weitere Diskussion verdienen, doch wer eine umfassende, textexegetische Aufarbeitung des Leidens erwartet, der muss zwangsläufig enttäuscht werden. Denn statt sich lange mit den naheliegenden, im Diskurs zwar bislang mehr, aber keineswegs umfassend behandelten, normativ-gesellschaftskritischen Dimensionen des Leidens auseinanderzusetzen, geht die Autorin gemäß ihrem Forschungsinteresse schnell dazu über, den Zusammenhang von Leiden und Denkpsychologie herauszuarbeiten. Resümierend hält sie dabei vor dem Hintergrund der eingangs gestellten Leitfrage rund um Anthropologie und die Rolle der Psychoanalyse für deren Aufdeckung fest:

In Adornos Überlegungen zum Leiden bleiben die psychoanalytischen Einsichten in die Innenwelt des Menschen keineswegs unberücksichtigt. Ob es um psychisches, physisches oder existenzielles Leiden geht – Adorno betrachtet all diese negativen Erfahrungen als Teil unbewusster Umwandlungsprozesse. Allerdings, so zeigt sich, geht es Adorno keineswegs nur darum, mit der Psychoanalyse bestimmte Phänomene zu interpretieren. Er adaptiert sie vielmehr in einer erkenntnistheoretischen Hinsicht und entwickelt das eigene anthropologische Konzept einer ‚Denkpsychologie‘. (156)

Freilich fungiert aber damit auch das explizit aufgegriffene Leiden innerhalb der Arbeit und der Argumentation – so könnte man es vielleicht summarisch-zugespitzt sagen – vor allem als der Ausgangs- bzw. Abstoßungspunkt der Arbeit, wie auch die nachgestellte Selbsteinschätzung der Autorin offenlegt:

Mit Blick auf den gesamten Beweisgang ist es nicht unangemessen, zu sagen, dass der Begriff des ‚Leidens‘ allmählich an den Rand rückt oder in ein anderes Spektrum übergeht: Eine interpretatorische Verschiebung dahingehend, dass sich das ‚Leiden‘ als Deckwort für das in der Psychoanalyse behandelte Verhältnis von ‚Lust‘ und ‚Unlust‘ – also als unbewusste Kraft – umdeuten lässt, zeigt, dass Adornos ambigue Verwendung des Leidensbegriffs nur ein Teil des viel umfangreicheren Projekts ist, die menschliche Rationalität mit den zeitgenössischen Lehren vom Unbewussten zu reformulieren. Dieses Projekt hat eine einfache Wahrheit zum Kern: Was unbewusst in uns drängt, was uns affiziert und widerfährt, geht dem Denken voran. (156)

Mit diesem neuartigen Interpretationsvorschlag Adornos rund um den Begriff der Denkpsychologie bietet Lo insgesamt einen innovativen Beitrag zur Adorno-Forschung an, der höchst lesenswert und diskussionswürdig ist. Entsprechend hat sich Los Mut, „den Schritt zu wagen, eine Reihe von weitverstreuten Bemerkungen und Beobachtungen Adornos unter dem Stichwort der ‚Denkpsychologie‘ zusammenzufassen und damit erstmals als einen systematischen Teil seines Werkes zu erschließen“ (Honneth 2020: IX), gelohnt: Die Studie liefert einen elaborierten Vorschlag, das Leiden nicht ausschließlich in der bekannten und gängigen Weise „als Unglück und Leiden an Fehlzuständen, sondern auch als ein unbewusstes Geschehen“ (149) zu interpretieren. Nimmt man dies mit Lo ernst, so kann das dabei helfen, die vielschichtigen und komplexen Überlegungen Adornos im Allgemeinen und zum Leiden im Besonderen nicht fälschlicherweise zu vereinseitigen.

Literatur

Adorno, Theodor W. Philosophische Frühschriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.

Adorno, Theodor W. Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013.

Adorno, Theodor W. Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015.

Adorno, Theodor W. Philosophische Terminologie I und II, Berlin: Suhrkamp, 2016.

Angehrn, Emil. Leiden und Erkenntnis, in: Martin Heinze, Christian Kupke und Christoph Kurth, Hrsg. Das Maß des Leidens: klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins, 25–43. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003.

Bernstein, J. M. Suffering Injustice: Misrecognition as Moral Injury in Critical Theory, in: International Journal of Philosophical Studies 13.3 (2005), 303–324.

Freyenhagen, Fabian. Adorno’s practical philosophy. Living less wrongly. Cambridge: Cambridge University Press, 2013.

Honneth, Axel. Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie, in: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, 28–56. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2016.

Honneth, Axel. Vorwort, in: Jenseits des Leidens. Adornos Beitrag zu einer ›Denkpsychologie‹, Ming-Chen Lo, V–IX. Berlin/Boston: De Gruyter, 2020.

Huber, Mona. Der Begriff des Leidens in Theodor W. Adornos ‚Negative Dialektik‘, in: Incipiens 5.1 (2016), 47–69.

Kohlmann, Ulrich. Dialektik der Moral. Untersuchungen zur Moralphilosophie Adornos. Lüneburg: zu Klampen, 1997.

Schumann, Frank. Leiden und Gesellschaft. Psychoanalyse in der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule. Bielefeld: Transcript, 2018.

Schweppenhäuser, Gerhard. Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie. Wiesbaden: Springer VS, 2016.

Sommer, Marc Nicolas. Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel. Tübingen: Mohr Siebeck, 2016.

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