Hogrebe, Wolfram: Duplex. Strukturen der Intelligibilität. Frankfurt a. M.: Klostermann 2018. 112 Seiten. [978-3-465-04343-0]

Rezensiert von Jan Kerkmann (Universität Freiburg)

In seiner neuen Monografie Duplex. Strukturen der Intelligibilität erkundet der Bonner Philosoph Wolfram Hogrebe die Bedeutung des Duplex – d.h. der Zweiheit – in philosophischen, juristischen, meta-mathematischen, ikonographischen und poetologischen Diskursen des 20. Jahrhunderts. Obgleich die Arbeit mit 112 Seiten eher von schmalem Umfang ist, versammelt sie in 15 verschiedenen Kapiteln eine beträchtliche Materialfülle. Hogrebe will zeigen, dass das Duplex in so verschiedenen Disziplinen wie der Rechtswissenschaft, der Modallogik, der Mathematik und der Systemtheorie den Vorrang gegenüber der Voraussetzung von Identität besitzt.

Zu dieser erkenntnistheoretischen Intention gesellt sich die ontologische These, dass der Anfang des Seienden nicht in einer ursprünglichen Einheit (Simplex) gründen könne, weil sich auf dieser Grundlage die Existenz der sinnlichen Vielfalt nicht erklären ließe. Deswegen müsse man von einer nichtdualistischen „Zweieinheit“ (109) ausgehen, deren geschichtliche Erscheinungsformen das reichhaltige Gegensatzgefüge der Lebenswirklichkeit prägten.

Hogrebe stützt sich mit diesen Thesen auf eine zweieinhalb Jahrtausende übergreifende Tradition metaphysischen Philosophierens. So lässt sich die Geschichte des Duplex bis zu Platons Konzeption einer ontologischen Prinzipienlehre zurückverfolgen. Bereits für Platon ist es unerlässlich, die intelligible Struktur des Ideenkosmos durch eine Dualität ordnender Urprinzipien zu begründen. Während das Eine (τὸ ἕν) als Garant von Beständigkeit und Bestimmtheit fungiert, wird die gleichursprüngliche unbestimmte Zweiheit (ἀόριστος δυάς) als Faktor der Vervielfältigung und der Vergänglichkeit begriffen. Aus dem komplexen Zusammenspiel beider Einheiten, in welchem jeweils die Prägungskraft des Einen oder die Wirksamkeit der unbestimmten Zweiheit überwiegt, sucht Platon nicht nur die Spezifität der Ideen zu plausibilisieren. Vielmehr soll auch die sinnliche Mannigfaltigkeit der empirischen Welt unter dem Index des prinzipienhaften Duplex erschlossen werden. Es ist eine wichtige Hintergrundannahme für Hogrebes Betonung einer epistemischen Unumgänglichkeit des Duplex, dass sich die unbestimmte Zweiheit bei Platon nicht aus dem schlechthin differenzlosen Einen ableiten lässt. Die unbestimmte Zweiheit steht dem Einen innerhalb einer bipolaren Relation immer schon gegenüber, die nicht auf eine letztgültige Einheit zu reduzieren ist und an der das unterscheidende Denken endlicher Subjekte notwendigerweise partizipiert. Diese platonische Einsicht will Hogrebe mithilfe durchaus heterodoxer Interpretationen bislang kaum gewürdigter Denker des 20. Jahrhunderts wie Gustav Landauer, Paul Mongré und Walter Calé plausibilisieren. Dabei lässt er sich von der Auffassung leiten, dass sich viele entscheidende Neuansätze der Philosophie im 20. Jahrhundert bislang „einer methodischen Charakterisierung“ (10) entzogen hätten, die daher im vorliegenden Werk unter dem Gesichtspunkt des Duplex angestrebt wird.

I.

Hogrebe verfolgt mit dem Aufspüren des Duplex also keineswegs nur ein antiquarisches Interesse, wie im ersten Kapitel anhand der Begrifflichkeit des historischen Existenzials deutlich wird, die er im Rekurs auf Heidegger und Ernst Nolte thematisiert. Prägnant versteht Hogrebe das historische Existenzial als „Titel für grundlegende Modi des Menschen, wie er für sich und mit anderen zu existieren vermag“ (13). Zum einen soll mit dem Rekurs auf strukturelle Grundbestimmungen der anthropologischen Zeit- und Sinnerfahrung eine reduktionistische Tendenz vermieden werden, die das Menschenmögliche auf einer naturwissenschaftlichen Erklärungsebene zu beantworten sucht. Zum anderen müsse das historische Existenzial als ein „Umriss“ (14) aufgefasst werden. Dieser könne in Orientierung an der kantischen Konzeption des transzendentalen Schemas dazu dienen, abstrakte Begriffe mit wahrhaft Erlebtem zusammenzuschließen.

In den Kapiteln zwei bis sechs setzt sich Hogrebe mit jenem politischen Denker der Ausnahme und des Grenzfalls auseinander, der wie kein anderer Gelehrter die Unhintergehbarkeit von Entzweiungsmustern akzentuiert. Im zweiten Kapitel (Entrée) wird zunächst aufgezeigt, dass sich Carl Schmitts polemische Begriffsbildung einer instinktiven „Witterung“ (15) verdankte, die sich weder aus kontextuellen Bezügen noch aus der Anlehnung an historische Richtgrößen herleiten lasse. Dabei unterschlägt Hogrebe nicht, dass diese dezisionistische, sich nicht an moralischen Normen orientierende „Witterung“ auch dazu führte, dass „Carl Schmitt in der politischen Arena in die Irre“ (15) ging. Aufschlussreich ist, dass Hogrebe jene okkasionelle Ungebundenheit der Entscheidungsfindung, die Schmitt in Politische Romantik (1919) bei Adam von Müller und Friedrich Schlegel diagnostiziert, als dessen eigene habituelle Kernmaxime ausweisen kann. Im dritten Kapitel (Ortung) wird dieser Sachzusammenhang bis zur späten Theorie des Partisanen (1963) verfolgt. Hogrebes zentrale These ist, dass der Partisan für Schmitt nicht als Aufhebungsfaktor des klassischen Völkerrechts oder als irreguläre Gestalt interessant ist, die sich jenseits der tradierten Dualismen „Legalität und Legitimität, Gesetz und Urteil, Land und Meer“ (23) situiert. Vielmehr werde der Partisan von Schmitt als ein künstlicher Mythos konzipiert, der primär der Selbstverortung als Theoretiker (vgl. 26) diene. In Analogie zu dem keiner anerkannten politischen Institution zuzuordnenden Partisanen nimmt Schmitt für sich in Anspruch, jene „Ausnahme im Reich staatsrechtlichen Denkens, die von keinem Kataster erfaßbare Person, der überreguläre Jurist schlechthin“ (26) zu sein.

Im vierten Kapitel (Der Künstler als Partisan) illustriert Hogrebe, dass Schmitt diesen autoreferentiellen Wesenszug des Partisanen nach Maßgabe des Künstlers gestaltet. So ließen sich die wichtigsten Kriterien des Partisanen „Irregularität, Intensität, Mobilität, Bodenhaftung“ (27) auch auf den Künstler anwenden. Indes wird im fünften Kapitel (Modalisierung) stichhaltig argumentiert, dass sich Schmitt durch den Gedanken einer „Modalisierung der rechtstheoretischen Grundbegriffe“ (29) aus den Avancen des anarchischen Ästhetizismus herausdrehen konnte. In diesem Zusammenhang unterscheidet Hogrebe zwei Typen von Modalisierung. Während die „Idealmodalisierung“ (33) mit den logischen Rastern der Tatsachenabhängigkeit und der Konsistenz arbeitet, integriert die „Realmodalisierung“ (33) scheinbar zeitenthobene Terme in den Möglichkeitsrahmen des konkreten Lebensvollzuges. Anhand der Fundierung der Modalitätskategorie in den basalen „Seinsform[en] des Menschen“ (33) entwickelt Hogrebe eine erhellende Parallele zwischen Heideggers Existenzialanalyse des Seinkönnens und Schmitts Rückgründung des Politischen auf den gestaltgewordenen Dualismus von Freund und Feind.

II.

Im Einklang mit Heidegger und Schmitt spürt Hogrebe die „Strategie einer Modalisierung von Grundbegriffen im Rahmen eines szenischen Denkens“ (55) auch in Wittgensteins später Philosophie auf. So lässt sich die Bedeutung der Sprachspiele für Wittgenstein weder durch eine linguistische Analyse der Syntax noch durch eine semiotische Untersuchung der Signifikantenkette entschlüsseln. Wittgenstein prononciert mit Nachdruck, dass wir „nicht in der Zeichensprache, wohl aber im gemalten Bild“ (57) leben. Für Wittgenstein sind es die irreduziblen Lebensformen und alltäglichen Situationen, die einem spezifischen Wort eine verständliche Rolle zuweisen. Er ergründet die Ermöglichungsbedingung sprachlich fassbarer Erscheinungen, indem er die „Art der Aussagen“ (56) studiert, durch die sich die Menschen in bestimmten Existenzmodi auf Referenzobjekte ihrer Umgebung beziehen. Allerdings räumt Hogrebe ein, dass Wittgenstein keinen Katalog jener basalen Lebensformen präsentiert habe, die alle weiteren Sprachspiele fundieren.

Auf dieser Basis optiert Hogrebe für einen ontologischen Vorrang des Unsichtbaren, Intelligiblen und Intuitiven gegenüber konzeptualisierten und formalsemantisch vereinheitlichten Schemata. Entsprechend wird Wittgensteins Erkenntnis, dass wir nicht in Zeichen, wohl aber im Bild leben, gegen einen „verhängnisvollen signitiven Zentrismus“ (66) mobilisiert. Hogrebe zufolge indizieren die anschaulichen Ausdrücke von der „Miene bis zu Klang und Gebärde“ (67), sowie emotionale Regungen von „Wimmern, Seufzen, Stöhnen […], Lächeln, Juchzen und Strahlen“ (67) eine bedeutungstragende, „bildgebundene Basis der Sprache“ (67), die sich in der konventionellen Zeichenhaftigkeit nicht abbilden lasse. In seiner Argumentation gegen die Einengung des Sprachphänomens auf eine formale Linguistik beruft sich Hogrebe auf Wilhelm von Humboldt, der die Eigenständigkeit, Unerschöpflichkeit und Kostbarkeit jeder Sprache in seinem berühmten Diktum festhielt, dass die Sprache „kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“ (68) sei.

Insgesamt wäre es wünschenswert gewesen, wenn Hogrebe die Verbindung zwischen Wittgensteins Philosophie der Lebensformen auf der einen Seite und dem Duplex auf der anderen Seite noch stärker herausgearbeitet hätte. Außerdem hätte durch eine prägnante Selbstpositionierung in Erfahrung gebracht werden können, inwiefern Hogrebe sich mit seiner Wittgensteindeutung von anderen Interpretationen dieses Denkers abgrenzt und worin er an bestimmte Lesarten der Forschung anschließt.

III.

Im zwölften Kapitel (Der limitative Diskus der Moderne) wählt Hogrebe den Begriff der „mantische[n] Sensorstruktur“ (74), um die Angewiesenheit der kommunikativ-semantischen Praxis auf ein vorpropositionales Gewahrwerden der Weltbedeutsamkeit zu untermauern. Er sieht die lebensweltliche Existenz in einen holistischen Erwartungshorizont eingebunden, der sich in einem permanenten Fraglich-Werden der Umwelt äußert. In einer dreifachen Ausrichtung wird die natürliche Transzendenz des Menschen konstituiert:

Wir registrieren, was immer auch, im witternden Vorgriff auf ein uninterpretiertes Ganzes, in erwartender Tuchfühlung mit Nuancen und Berührungen vor Ort und in neugieriger Ausrichtung auf Differenzen, Kontraste und Veränderungen unserer Umgebung. (74)

In dieser differenzsensitiven Antizipation einer erfahrungsunabhängigen Sinnganzheit entdeckt Hogrebe allerdings das problematische Potenzial einer projektiven Selbstentgrenzung, die keine fremdverursachte Gegenständlichkeit mehr zulässt. Insofern die personale Identität nicht als statische Substanz vorgegeben ist, beruht die Intelligibilität auf einer „Eroberung unserer selbst“ (75). Inmitten des unbegrenzten, „mantischen flow of information“ (75) befestigt die Reflexivität einen „Fixpunkt“ (75), der dem amorphen Wandlungsgeschehen die immer wieder zu sich zurückkehrende Distanzkontrolle des Selbstverhältnisses entgegenhält. Das stabilisierte Selbstverhältnis hat die Tendenz, sich als ermöglichendes Zentrum aller Erfahrungsgehalte zu begreifen. Weil diese Areale jedoch zumeist keinen Eingriff gestatten, der jenseits der „Macht eines Möglichen“ (75) ihre tatsächliche Beschaffenheit veränderte, avanciert die Wirklichkeit selbst zum „Generalbaß der narzisstischen Kränkung des homo sapiens“ (75). Aus dieser Enttäuschung erwachse eine prometheische Gegenbewegung, deren „eliminativen Pragmazentrismus“ (75) Hogrebe als Signum der Moderne deutet.

Die Spur des Duplex in der Moderne weiterverfolgend, konzentriert sich Hogrebe im 13. Kapitel (Vom Limitativen zum Intensiven) auf die Disjunktion zwischen dem Extensiven und Intensiven. Um den Kult des Einmaligen und Unverwechselbaren mit dem moderneprägenden Willen zur extensiven Reproduzierbarkeit verbinden zu können, referiert Hogrebe auf Walter Calés Idee einer „Nuancenerfahrung“ (87). Der am 8. Dezember 1881 in Berlin geborene Calé wählte am 03. November 1904 den Freitod und wird von Hogrebe als Dichter einer „entgleitenden Präsenz“ (86) eingeführt, der die „Unvertretbarkeit der wahren Empfindung“ (86) noch vor Benjamin und Adorno gewürdigt habe. Die Erfahrung von Nuancen, die sich in der Sensibilität für Grenzfälle innerhalb der Wahrnehmungssequenz bekunde, ist für Calé höchst fragil. Die individuelle Unverwechselbarkeit des Erlebnisses werde im Moment der Artikulation durch die Kategorien der tradierten Terminologie verallgemeinert (vgl. 87).

Im 14. Kapitel (Wechsel des Vokabulars) greift Hogrebe den Gedanken einer objektfreien Selbsterzeugung auf, der anhand der Erscheinungsweise des Duplex in Luhmanns Systemtheorie entfaltet wird. Im Gegensatz zu Heidegger und Schmitt, die „abstrakte Verhältnisse auf politische und existenziale Vollzugsformen“ (96) zurückbeziehen, die in der conditio humana selbst wurzeln, wird Luhmann als dezidierter Vertreter einer „formalen Modalisierung“ (96) vorgestellt. Das System ruft die Zweiheit selbst hervor, um alsdann die freigegebene Zirkularität zugunsten der Herausbildung von Strukturen unterbrechen zu können. Ausweglos in Paradoxien, Tautologien und undurchsichtigen Operationen kreisend, verliert das sich in der Differenz zur Umwelt selbst organisierende System nach Hogrebe jeglichen Kontakt zur Lebenswirklichkeit individueller Akteure. Das „Duplex ertrinkt im Komplex. Im Spiegelspiel der Glaskathedrale fühlt sich daher bestenfalls Narziß zuhause.“ (97)

IV.

Mit dem abschließenden 15. Kapitel (Komödie der verlorenen Einheit) kommt Hogrebe auf die mythische Anfangserzählung der Genese des Duplex zurück. Platon lässt den Komödiendichter Aristophanes in seinem Symposion mit dem Mythos der Kugelmenschen reüssieren. Nachdem die beide Geschlechter in sich tragenden und sich kreisförmig fortbewegenden Ur-Menschen aufgrund ihrer unermesslichen Kraft die megalomane Entscheidung trafen, den Konflikt mit den Göttern zu wagen, wurden sie von Zeus in zwei Hälften zerschnitten. In der Folge dieses Einheitsverlustes sehnt sich jeder Mensch nach der anderen Hälfte, um seine ursprüngliche Natur wiederzufinden und das „anthropologische Duplex“ (103) zu restituieren. Diese erotisch verfasste Ergänzungsbedürftigkeit parallelisiert Hogrebe mit Platons Ringen um eine adäquate Erkenntnis der Idee des Guten. Insofern das Erkennbare seine Einpassung seinerseits erst durch eine übergeordnete Lichtquelle erhält, muss die „universale Intelligibilität“ (104) gemäß Politeia 509b sogar „jenseits des Seins“ (104) angesiedelt werden. Da die Objektbedeutsamkeit also nicht aus der raumzeitlichen Konstellation der Erfahrung gewonnen werden könne, kartiere Platon mit der Ideenlehre eine „terra praecognita“ (107), von der wir immer schon wussten, „bevor wir wissen“ (107). Diese „autoanamnetische[n] Struktur der Autointelligibilität“ (107) richte sich auf ein Gefundenes, das „freilich ausbleibt und das wir selber sind.“ (107) Die wissende Selbsterinnerung fällt zuletzt mit dem permanenten Entgleiten ebenjenes Selbst zusammen. In diesem Duplex von transzendierender Sehnsucht und erinnerter Substanzialität offenbare sich die „imaginäre Begabung“ (107) des Menschen. Wer Hogrebes anspruchsvollen Ausführungen bis hierhin gefolgt ist, wird diesem Resultat beipflichten können.

V.

Resümierend ist hervorzuheben, dass es Hogrebe in seinem Streifzug durch die Geistesgeschichte nicht nur gelingt, den „prismatischen Zusammenhang“ aufzuzeigen, (11) der die diskutierten Denker in ihrem Rekurs auf eine ursprüngliche Zweiheit verbindet. Vielmehr kann er im Fortgang der Argumentation das grundlegende Forschungsziel einlösen, die Entwicklung der abendländischen Philosophie als eine „Geschichte nichtexplizierter Intuitionen“ (10) zu erschließen. Hogrebe verwirklicht dergestalt die eigene Forderung an die Gegenwart, in dem Übergangenen das Neue und Ungeahnte freizulegen.

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