Schuck, Dirk: Die Verinnerlichung der sozialen Natur. Zum Verhältnis von Freiheit und Einfühlung in der Sozialpsychologie des frühen Liberalismus bei Locke, Shaftesbury, Hume und Smith. Hamburg: Meiner 2019. 218 Seiten. [978-3-7873-3630-2]

Rezensiert von Rosalie Arendt (Technische Universität Berlin) und Carsten Flaig (Freie Universität Berlin)1

Es ist längst kein sozialphilosophisches Geheimnis mehr, dass Freiheit nicht nur ein Gegenbegriff zur Fremdbestimmung ist, sondern Menschen auch durch Freiheit, d.h. durch spezifische Verhaltenserwartungen an freie Subjekte, regiert werden. Besonders mit dem Neoliberalismus der Gegenwart wird ein Modell von Freiheit verbunden, das regierungstechnische oder gar repressive Elemente hat. Zwar soll der Mensch frei über sein eigenes Schicksal bestimmen, aber er soll das in einer sozial nützlichen Weise tun. Die liberale Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Leben wie sie etwa Hobbes traf, der das private Leben dem „inneren Gerichtshof des Ichs“ überlassen wollte, wird hinfällig, wenn dieser „innere Gerichtshof“ öffentlichen Vorschriften zu gehorchen hat.

Die These der vorliegenden Monographie lautet, dass ein solches Hineinregieren der sozialen Ordnung in den „inneren Gerichtshof des Ichs“ nicht erst von den Granden des Neoliberalismus, sondern schon von Schlüsselfiguren der liberalen Philosophie im Vereinigten Königreich des 17. und 18. Jahrhunderts konzipiert wurde. Locke, Shaftesbury, Hume und Smith werden hier als Vertreter oder immanente Kritiker einer Philosophie des Sentimentalismus vorgestellt. Die Arbeit lässt sich auf zwei Ebenen lesen: Zum einen wird der Aufstieg und Niedergang einer Philosophie ideengeschichtlich herausgearbeitet, die annimmt, dass der Menschen einen moral sense hat. Das ist durchaus nicht trivial, denn hier werden Autoren, die gerade im deutschsprachigen Raum mit sehr verschiedenen Diskurszusammenhängen assoziiert werden, als Vertreter eines zusammenhängenden Diskussionsraums über die soziale Natur des Menschen porträtiert. Zum anderen bietet die Arbeit eine Reflexion auf liberale Regierungstechniken. Mit zahlreichen herrschaftstheoretischen Überlegungen intendiert Schuck, die politische Dimension des Diskurses über die soziale Natur freizulegen: Nur wenn die Einfühlung in Andere der gesellschaftlichen Stabilität nützt, kann sie akzeptiert werden. An dieser Einschränkung, die vor allem Smith theoretisierte, ging der Sentimentalismus laut Schuck alsbald zugrunde. Er wird so zu einer, wenn auch entscheidenden, Durchlaufstation in der Geschichte der modernen Regierung des Selbst.

Doch der Reihe nach. Als Wegbereiter des Sentimentalismus wird im ersten Kapitel John Locke und vor allem seine Gedanken über Erziehung präsentiert. Laut Schuck setzt sich Locke in seinem Werk das Ziel, die Erziehung junger Gentlemen zur Gesellschaftsfähigkeit zu beschreiben. Die Plausibilität dieses Ziels beruht für Locke auf mehreren Voraussetzungen: Erstens geht er davon aus, dass der Mensch grundsätzlich durch Erziehung formbar ist – er spricht vom Menschen als tabula rasa. Zweitens ist sich Locke bewusst, dass Erziehung auch scheitern kann, wenn Kindern die ihnen zugeschriebene Herrschsucht (love of dominion), die als falsch verstandenes Eigeninteresse porträtiert wird, nicht „ausgejätet“ und durch wohlverstandenes Eigeninteresse ersetzt wird. Drittens macht Schuck deutlich, dass für Locke die „social virtues“ kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Erlangung eines „größeren Guts“ sind. Der Gehalt dieses größeren Gut sei von der sozialen Schicht abhängig: während die „poor who labour“ mit ihrem tugendhaften Verhalten nach einer jenseitigen Erlösung streben, besteht der Anreiz für tugendhaftes Verhalten für den aufgeklärten Gentleman in sozialer Anerkennung (33).

Lockes Ziel sei es, dem jungen Gentleman das Streben nach sozialer Anerkennung zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Hier taucht zum ersten Mal das Konzept der Verinnerlichung auf, das Schuck für alle untersuchten Autoren hervorhebt. Locke gehe es vor allem darum, das Streben nach einem guten Ruf zu verinnerlichen. Der Lockesche Mensch ist durch eine permanente „uneasiness“ gekennzeichnet, die aus der Sorge um den eigenen guten Ruf entsteht. Dieses Unbehagen soll bei Kindern gezielt hergestellt werden, indem das Bedürfnis nach Anerkennung mit einer Kombination aus Lob und Beschämung angestachelt wird. Schuck betont, dass für Locke Anerkennung und Beschämung nicht unvereinbar sind. Ganz im Gegenteil: Der gezielte Einsatz von Beschämung als Sanktionsinstrument kann das Begehren nach Anerkennung erst richtig disziplinieren und verstärken.

Lockes Erziehungsmodell zielt nicht auf äußerliche Züchtigung durch körperliche Gewalt, sondern auf innere Zurichtung durch die Verinnerlichung eines zivilisierten Habitus (48). Da das Kind lernen soll, seinen Selbstwert an die Anerkennung durch andere zu koppeln, unterscheidet sich Lockes Erziehungsbild grundlegend von Rousseaus Würdigung der Natur des Kindes, die durch die zivilisatorische Anerkennungsversessenheit gerade korrumpiert werde. Schuck zeigt, worin die innere Logik der Lockeschen Pädagogik besteht: Für Locke ist die Grundlage einer selbstbestimmten Existenz die Sorge um den eigenen guten Ruf, die als Fähigkeit erlernt werden muss. Denn der Schein der „civility“ ist unerlässlich, um in feinen Milieus reüssieren zu können. Lockes Erziehungsbild lässt sich frei nach Pascal als eine „raison des effets“ bezeichnen, wonach die Einübung des zivilisierten Scheins die reale Grundlage einer „civil society“ bilden kann.

Der dritte Earl von Shaftesbury, dem das zweite Kapitel gewidmet ist, radikalisiert gegenüber seinem Hauslehrer Locke den moral sense. Was bei Locke erst durch das Ausjäten der Herrschsucht durch ein fein kalibriertes Sanktionssystem eingepflanzt werden muss, wird bei Shaftesbury mit einem Streich zur menschlichen Natur erklärt. Shaftesbury erscheint so als der unverblümteste Vertreter der Idee, dass der Mensch über eine soziale Natur verfügt, deren Empfindsamkeit als moralischer Kompass dienen kann. Das „Herz“ diene bei Shaftesbury als „Auskunftsorgan“ für die Beurteilung von Unrecht (58). Schuck legt jedoch großen Wert darauf, Shaftesbury nicht als naiv-träumerischen Liebeskommunisten erscheinen zu lassen, sondern die Funktion, die die hypostasierte soziale Natur einnimmt, herauszuarbeiten. Die Funktion sieht Schuck in einer Begründung der „civil society“ auf Grundlage der sozialen Natur des Menschen. Im Unterschied zu Hobbes diene der Staat nun nicht mehr der Einhegung menschlichen Machtstrebens, sondern sei das „Produkt zwischenmenschlicher Interaktionen“ (65, 76). Anders ausgedrückt: Der Staat erscheint als natürliches Produkt einer natürlichen menschlichen Sozialität.

Wie aber kommt die naturgegebene menschliche Sozialität zustande? Als zentralen Begriff der Interaktionstheorie von Shaftesbury analysiert Schuck die sympathy. Sie ermöglicht ein natürliches Gemeinschaftsgefühl, das sich auf individualpsychologischer Ebene schlicht als Freude, auf einer zweiten Ebene wiederum als soziale Reputation äußert. Individuen, die miteinander sympathisieren, lösen wechselseitig Freude aus und haben ein gutes Bild voneinander (65). Ist dieser Mechanismus erst einmal habitualisiert, so entwickelt sich aus den „pleasures of sympathy“ das Verlangen nach einem guten Ruf. Die List des Gefühls besteht bei Shaftesbury darin, dass in seinem Modell kein Widerspruch zwischen der „Erfahrung von ‚sympathy‘“ und „einem narzisstischen Rausch“ besteht (69). Nächstenliebe und Selbstliebe fallen in eins. So wird dann auch die vanity, die Eitelkeit, aus dem Lasterkatalog gestrichen, weil die Integration der Perspektive der Anderen für Shaftesbury in gelingende moralische Selbstreflexion einbezogen werden muss (78).

Das klänge dann doch eher nach einem Wunschkonzert als nach Sozialphilosophie, wenn Shaftesbury nicht auch die Abweichung von dieser sozialen Natur thematisiert hätte. Gerade weil der moralische Sinn bei Shaftesbury als Teil der menschlichen Natur erscheint – und für ihn selbst Räuberbanden durch den sozialen Umgang innerhalb der Bande von dieser sozialen Natur zeugen – erscheinen Menschen, die dem moralischen Sinn zuwiderhandeln, schlicht als pathologische Fälle (74). Eine solche „Pathologisierung politischer Dissidenz“ (ebd.) ist die herrschaftstechnische Kehrseite von Shaftesburys Theorie der sozialen Natur. Das Ich muss durchdrungen sein vom moralischen Sinn. Gerade in dieser Überbestimmtheit des „wahren Selbst“, wie Schuck es in Anknüpfung an Isaiah Berlin nennt, sieht Schuck den herrschaftspsychologischen Subtext bei Shaftesbury (74). Schucks Wortwahl scheint hier etwas unglücklich. Man müsste wohl eher von einer Pathologisierung moralischer Devianz sprechen, muss doch das abweichende Verhalten nicht notwendig in einem politischen Kontext stehen. Als entscheidend bei Shaftesbury stellt Schuck letztlich heraus, dass der moral sense nicht mehr, wie bei Locke, über ein Sanktionssystem „ausgejätet“ wird, sondern aufgrund der in der menschlichen Natur veranlagten sympathy gedeihen kann, sofern deren Triebe naturgemäß wachsen.

David Hume (Kapitel drei) erklärt den moral sense nicht mehr anhand der menschlichen Natur, sondern versteht ihn als ein empirisch beobachtbares psychologisches und soziales Phänomen. Er leitet die wahrscheinliche Existenz des moralischen Sinns daraus ab, dass Menschen dazu tendieren, das Verhalten anderer moralisch zu bewerten (84). Aufgrund dieser quasi-sozialwissenschaftlichen Einstellung wird Hume der wichtigste Gewährsmann für Schucks sozialphilosophische Lesart des Sentimentalismusdiskurses. Hume erläutert den Einfühlungsprozess und die Fähigkeit zum Mitleiden im Hinblick auf deren subjektive Voraussetzungen. Der Einfühlungsprozess, der immer stattfindet, wenn sich Menschen mit Gefühlsregungen begegnen, ist noch moralisch neutral. Das Resultat dieser Einfühlung impliziert dann jedoch eine moralische Bewertung (113). Dabei zielen Humes Überlegungen auf die Fragestellung ab, unter welchen Umständen Menschen zu Mitleid fähig sind. Denn es sei ebenso möglich, dass der Einfühlungsprozess nicht Mitleid, sondern Schadenfreude zur Folge habe. Um zum Mitleid fähig zu sein und nicht schadenfroh zu werden, benötigt der Mensch laut Hume Sicherheit und Bestätigung. Denn wenn er dauerhaft mit existenzieller Ungewissheit konfrontiert sei, entwickle er eine nicht mehr zu bändigende Furcht und gerate in ein Schwanken, das einen Mangel an Stolz und im Extremfall den kompletten Verlust der Urteils- und Handlungsfähigkeit zur Folge habe. Diesen Mangel an Stolz versuche das Subjekt durch eine Einfühlung in andere, bei dem es im Vergleich besser abschneidet, zu kompensieren. Ist der unsichere Mensch also mit einer leidenden Anderen konfrontiert, empfinde er nach der Einfühlung eher Schadenfreude, um sich selbst und seinen Stolz zu stabilisieren (117).

Das Mitleid erscheint so als nur noch eine mögliche Konsequenz der Einfühlung, die komplexer sozialer Voraussetzungen bedarf. In Schucks Lesart hat Hume einen sozialwissenschaftlichen Blick auf die Konstitution eines zum Mitleid fähigen Subjekts entwickelt, denn er fragt nach den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen dieses Subjekts. Hume geht dabei kategorisch davon aus, dass Mitleid Ähnlichkeit voraussetzt. Deshalb sei es leichter, Mitleid mit einem Familienmitglied zu haben als mit einer fernerstehenden Person, die womöglich noch einer anderen Kultur und Schicht entstamme – hierin sieht Schuck Humes Anti-Kosmopolitismus begründet.

Dass der Mensch zum Mitleid fähig ist, ist für Hume notwendig zum Zweck gesellschaftlicher Stabilität. Deswegen ist es, wie Schuck herausarbeitet, für Hume so entscheidend, den Stolz an das Streben nach Anerkennung Anderer zu koppeln (121). Dabei ist Humes Überlegung äußerst pragmatisch: Man soll in der Gesellschaft Anerkennung erhalten, indem man sich um Andere verdient macht (123). Somit wird der individuelle Wunsch nach Anerkennung für die gesamte Gesellschaft nützlich gemacht. Die Motivation dafür hält Hume für irrelevant, d.h. auch er ist wie Locke Vertreter einer Pascalschen „raison des effets“, die auf den Effekt, und nicht, wie Shaftesbury, auf ein wahres Selbst zielt. Hume schließt sich also an den Sympathydiskurs Shaftesburys an, gibt diesem aber eine moralpsychologische Grundierung, die beansprucht realistischer zu sein.

Das Herzstück des Buches bildet das vierte und längste Kapitel zu Adam Smith, vor allem zu seiner Theorie der ethischen Gefühle. Hat schon Hume die sympathy nicht mehr als Wundermittel gesellschaftlicher Vermittlung erachtet, so gerät bei Smith das Mitleid selbst in den Verdacht, die civil society unterminieren zu können. Denn was ist gefährlicher für gesellschaftlichen Zusammenhalt als Menschen, die mit ihrem unmittelbaren Umfeld mitleiden, aber in diesem Zuge darüber hinaus geltende Gerechtigkeitsmaßstäbe vergessen? Dies ist nach Schuck Smiths zentrales mitleidstheoretisches Problem, für das er eine nur noch rudimentär sentimentalistische Lösung biete. Das Problem, dass das Mitleid ein unzureichender Gerechtigkeitsindikator ist, liegt in Smiths Verständnis von sympathy begründet. Für ihn besteht sympathy immer in einer doppelten „imaginäre[n] Perspektivübernahme“ (134), d.h. die bemitleidende Person stellt sich vor, wie die bemitleidete Person sich fühlt, aber auch, wie jene auf die bemitleidende Person zurückschaut. Sie nutzten damit den Mechanismus der Perspektivübernahme aus. Für Smith besteht eine zentrale Aufgabe von Erziehung darin, dass Kinder diese Perspektivübernahme erlernen und so verstehen, wie ihr Verhalten aus der Sicht anderer erscheint. Diese Verinnerlichung der Fremdperspektive übe einen wichtigen Disziplinierungseffekt aus, da die Zurückhaltung so erst als natürliche Haltung inkorporiert werde. Schuck hebt hervor, dass Smith im gesellschaftlichen Blick von außen zwar, wie Rousseau, ein konstitutives Moment für die bürgerliche Gesellschaft sieht, ihm aber im Gegensatz zu jenem einen moralisch positiven Effekt zuschreibt (167).

Aber sympathy lasse sich auch manipulieren. Smiths Paradebeispiel dafür ist der Bettler, der sein Leid offen zur Schau stellt. Dieser ist für Smith zu verurteilen, da der richtig erzogene Bürger zu dem Schluss kommen muss, dass das Leid nicht so ostentativ präsentiert werden dürfte. Stattdessen müsste es so weit wie möglich verborgen werden, um das Ersehnen einer bürgerlichen Existenz glaubhaft zu machen. Der geschickte Bettler erscheint bei Smith als kompetenter Manipulator des Einfühlungsprozesses. Neben der Manipulierbarkeit hat das unmittelbare Mitleid laut Smith aber noch einen weiteren Makel: Es bleibt zwangsläufig imaginär. Smith liefert hierfür weitere Beispiele, z.B. das intensive Mitleid der guten Gesellschaft bei ihren Sonntagsbesuchen in Asylen mit psychisch gestörten Insassen (142). Diese fühlen zum Teil aber eventuell gar kein Leid. Eine zusätzliche Gefahr des imaginären Mitleids erster Ordnung besteht für Smith darin, dass das Subjekt immer dazu tendiere, das in der Einfühlung vollzogene moralische Urteil nach den eigenen Interessen auszulegen (161). Diese Tendenz verstärkt sich, wenn das Subjekt selbst z.B. als Opfer oder Täter*in unmittelbar in die zu beurteilende Situation involviert ist.

Um diese und andere Aberrationen zu vermeiden, verfügt der Mensch für Smith in Schucks Analyse über die Möglichkeit, die Mitleidsfähigkeit in einer Weise auszubilden, in der diese doch ein verlässlicher Gerechtigkeitsindikator sein könne. Schuck prägt dafür den Begriff vom „Mitleid zweiter Ordnung“. Mit diesem Begriff, der an Harry Frankfurts „second order volition“ erinnert, aber konzeptuell Hegels zweiter Natur noch nähersteht, ist ein „positives Mitgefühl mit der Sittengemeinschaft“ (157) gemeint. Ersichtlich wird der Unterschied zwischen dem Mitleid erster und zweiter Ordnung etwa bei einer Hinrichtungsszene. Während das Mitleid erster Ordnung auf den Delinquenten gerichtet sei, zeige sich das Mitleid zweiter Ordnung als eines mit der Gemeinschaft, die am supponierten Unrechthandeln des Delinquenten Schaden genommen hat (159) und die Hinrichtung zustimmend in Kauf nimmt.

Schucks Begriff des Mitleids zweiter Ordnung wird im Kontext von Smiths Konstruktion des unparteiischen Zuschauers (impartial spectator) weiter vertieft, wobei nicht ganz klar wird, ob dieses als Begleitgefühl von jenem zu verstehen ist. Die Funktion beider ist für Schuck in jedem Fall identisch: die Durchbrechung des unkontrollierten Mitgefühls zugunsten einer Einfühlung, die das Wohl der gesamten Gesellschaft im Blick hat. Die in der Smith-Forschung kontrovers diskutierte Frage, wieso die Urteile des unparteiischen Zuschauers ethische Gültigkeit beanspruchen können, wird von Schuck zuungunsten proto-kantianischer Antworten als „Konventionalismus des unparteiischen Zuschauers“ (173) beschrieben. Für Schuck ist klar, dass es für Smiths unparteiischen Zuschauer keinen moralischen Kompass abseits der gesellschaftlichen Normen gibt.

Smiths theoretische Leistung sieht Schuck vor allem in dessen Theorie der Verinnerlichung sozialer Verhaltenserwartungen, die auch im Angesicht unmittelbarer Appelle an das Mitgefühl erster Ordnung, wie z.B. durch den um Gnade bettelnden Hinzurichtenden oder auch das um Ausnahmen bettelnde Kind, Bestand haben. Zwar ist das Mitleid zweiter Ordnung, das beim Verbrecher auf den öffentlichen Frieden und beim Kind auf eine Persönlichkeit, die ihre Bedürfnisse kontrollieren kann, abzielt, noch immer emotional verankert, aber es ist das Ergebnis eines sozialen Vermittlungsprozesses. Schuck resümiert: „Alle sittliche Ordnung ist menschengemacht, insofern sie auf der Verinnerlichung einer zweiten Natur beruht“ (172). Aufgrund des tiefen Misstrauens gegenüber dem Mitleid erster Ordnung wird Smith von Schuck als derjenige porträtiert, der das schnelle Ende des Sentimentalismus und dessen Idee, eine Zivilgesellschaft auf dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden zu gründen, besiegelte.

Besonders lesenswert im letzten Kapitel ist das Unterkapitel zu Mary Wollstonecraft, von der Schuck eindrücklich zeigt, wie sie mit Smith über diesen hinausdenkt. Smith charakterisiert Frauen als zu oberflächlich und als unfähig, sich von unmittelbarem Lob frei zu machen. So würden geschminkte Frauen bereitwillig Komplimente für einen Hautton einheimsen, den sie gar nicht besitzen (181). Hiermit meint Smith erklären zu können, dass Frauen nicht in der Lage seien, die „love of praise“ und damit die Fixierung auf unmittelbare Reaktionen auf sie und vor allem ihr Äußeres zugunsten einer „love of praiseworthiness“, also der Internalisierung des unparteiischen Zuschauers hinter sich zu lassen. Wollstonecraft habe Smiths Einlassung mit dessen theoretischen Mitteln gegen ihn gewendet: Was Smith den Frauen als Verhaftung am Mitleid erster Ordnung vorwerfe, sei faktisch das Resultat gesellschaftlichen Zwangs. Von Frauen wird laut Wollstonecraft ein bestimmtes Verhalten erwartet, und da sich die Frau etwa in die Erwartungen ihres Ehemannes hineinversetzt, versucht sie auch diese zu erfüllen. Dieser wiederum findet seine Erwartungen an die soziale Natur der Frau bestätigt (185). Somit wendet Wollstonecraft Smiths Intersubjektivitätskonzept auf das Geschlechterverhältnis an und weist es als sozial konstruiert aus. Auch wenn Smith dem Sentimentalismus bereits den Todesstoß verpasst habe, zeigt Schuck mit Wollstonecraft, dass er doch noch einer naturalisierenden Tendenz hinsichtlich eines spezifisch weiblichen Mitleids erster Ordnung unterlag.

Im Schlussteil wird der Sentimentalismus in den Kontext des frühen Liberalismus gestellt, der die Verinnerlichung von Freiheit als Verwirklichungsbedingung einer menschengerechten Gesellschaft ansah. Schuck betont, dass die von ihm untersuchten Autoren ihre Reflexionen auf die Verinnerlichung eines moralischen Sinns im Hinblick auf deren soziale Verwirklichung entwickelt haben. Doch letztlich sei der Sentimentalismus als „freiheitlich-bürgerliche Ordnungstheorie“ gescheitert, da Einfühlung erstens auch ermögliche, sich über andere zu erheben (Stichwort Schadenfreude), zweitens der narzisstische Anteil am Mitleid auch dessen Manipulation erleichtere, und drittens die imaginäre Dimension der Perspektivübernahme in der Einfühlung letztlich der Selbsttäuschung zu viel Raum gebe (198). Mit Blick auf die Entwicklung digitaler interaktiver Kontrollsysteme in der Gegenwart schlägt Schuck vor, diese als Disziplinarinstrumente zur Regulierung moralischer Gefühle zu interpretieren. Wie der Autor sorgenvoll anmerkt, scheinen Smartphone-Apps mit der Verinnerlichung solcher Gefühle keinen emanzipatorischen Anspruch mehr zu verbinden (194).

Abschließend lässt sich sagen, dass das Buch sowohl in historischer als auch in sozialphilosophischer Hinsicht gewinnbringend gelesen werden kann (etwas störend sind nur die sprachlichen Flüchtigkeitsfehler). Der ideengeschichtliche Gewinn ist offenkundig: Schuck hat den Sentimentalismus als kohärente und selbstkritische Strömung im Kontext der aufkommenden commercial society verortet. Die untersuchten Autoren versuchen alle, Gründe dafür zu liefern, wie eine freiheitliche Ordnung möglichst ohne äußeren Zwang realisiert werden kann. Die Hypothese, dass sich der Mensch als einfühlendes Wesen und eine freiheitliche Gesellschaftsordnung automatisch ergänzen, wird in der Entwicklung von Shaftesbury bis Smith immer schwerer zu halten bzw. erscheint immer weniger als natürlich. Mit Smiths Erweiterung des sympathy-Konzepts zum Mitleid zweiter Ordnung verliert das Shaftesburysche „Herz“ seinen Charakter als unmittelbares moralisches „Auskunftsorgan“. Für Smith müssten die Menschen die Staatsraison praktisch vollständig verinnerlicht haben, damit ein Staat sich auf die berühmte Nachtwächterfunktion beschränken kann.

In sozialphilosophischer Hinsicht ist besonders hervorzuheben, wie Schuck im Sentimentalismus die individuellen Affekte als Brennpunkte nicht nur sozialer Vermittlung, sondern auch eines gelingenden Selbstverhältnisses in den Blick nimmt. Schuck scheint sich mit den Sentimentalisten und insbesondere mit Hume einig zu sein, dass die Herausbildung persönlicher Integrität im Umgang mit Affektschwankungen eine Voraussetzung dafür ist, sich frei in einer Gesellschaft zu bewegen. Dies galt, folgt man Schuck, im Vereinigten Königreich des achtzehnten Jahrhunderts ebenso wie heute. Wenn das Selbstverhältnis aber bis ins Kleinste mit gesellschaftlich vermittelten Verhaltenserwartungen übereinstimmt, ist das um ein Mitleid zweiter Ordnung erweiterte Einfühlungsvermögen zugleich ein äußerst wirkmächtiges Instrument sozialer Disziplinierung.


  1. Wir danken Benjamin Fischer (Berlin) für seine Anmerkungen.↩︎

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