Wolf, Markus: Gerechtigkeit als Dekonstruktion. Zur kulturellen Form von Recht und Demokratie nach Jacques Derrida. Konstanz: Konstanz University Press 2019. 375 Seiten. [978-3-8353-9111-6]
Rezensiert von Mareike Gebhardt (Universität Münster)
Wie kann Demokratie im Angesicht von Pluralität gedacht werden? Mit dieser klassischen Frage der politischen Philosophie und Demokratietheorie beginnt Markus Wolfs Buch Gerechtigkeit als Dekonstruktion. Die Frage soll beantwortet werden, indem das Verhältnis zwischen Kultur, als einer partikularen Un/Einheit, und Gerechtigkeit, als einem allgemeinen Anspruch, aus der Perspektive der Derridaschen Dekonstruktion analysiert wird.
Zunächst beleuchtet Wolf die in der Moderne dominante Rechtsphilosophie, die die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Gerechtigkeit entweder kulturalistisch oder transkulturell beantwortet bzw. beide Antworten versöhnend kombiniert. Dies erweist sich für Wolf als eine unzureichende Beschreibung. Deshalb sollen die metaphysikkritischen Einsichten der Dekonstruktion für die aufgeworfene Frage fruchtbar gemacht werden, indem die historisch-kulturelle Situiertheit von normativen Geltungsansprüchen ebenso herausgearbeitet wird wie ihr kontexttranszendierender Charakter. Wolf zeigt auf, dass eine dekonstruktive Herangehensweise an die Relation von Kultur und Gerechtigkeit analytische Potentiale entfaltet, da sie einerseits an die rechtsphilosophische Tradition anknüpft, aber durch die Temporalstruktur des Kommenden über sie hinausweist.
Das Buch gliedert sich in drei große Kapitel: Das erste Kapitel wirft die forschungsleitende Frage nach der Beziehung von Kultur und Gerechtigkeit auf und stellt den Aufbau und die Konzeption der Arbeit vor. Das zweite Kapitel Zeitlichkeit und Normativität entfaltet die zentrale These, dass sich normative Vollzüge auf Maßstäbe beziehen, die einerseits faktisch gegeben und daher kulturell geprägt, andererseits aber offen, unbestimmt und überhistorisch, d.h. transkulturell sind. Das dritte Kapitel Gerechtigkeit und Demokratie als Dekonstruktion fokussiert auf die Konfrontation von klassischem rechts- und politikphilosophischem Denken mit der Dekonstruktion; es sucht nach den Wirkungen des herausgearbeiteten Spannungsverhältnisses von Besonderheit und Allgemeinheit auf die Analyse des Verhältnisses von Kultur und Gerechtigkeit, wenn dekonstruktiv vorgegangen wird. Schließlich stellt das Kapitel nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Demokratie als Dekonstruktion vor.
Wolf schreibt eine Arbeit, die in das Denken Derridas einführt. Sie richtet sich daher an Leser*innen, die sich noch mit dem Werk Derridas vertraut machen. Weiterhin schreibt er auch für eine Leser*innenschaft aus der Rechtswissenschaft, -theorie und -philosophie, weniger für Leser*innen aus den Kultur-, Sprach- und Sozialwissenschaften, in denen das Werk Derridas eine größere Rezeption erfährt. Etwas hinderlich für eine Einführung ist jedoch, dass die Arbeit an rechts- und politikphilosophische Diskussionen des 20. Jahrhunderts angebunden ist und man zumindest ansatzweise mit diesen vertraut sein muss, will man Wolfs Argumentation zugunsten einer Integration von Derridas Denken in bestimmte Rechtsdiskurse nachvollziehen können. Ich habe Wolfs Arbeit aus einer Perspektive gelesen, die die angesprochenen rechts- und gerechtigkeitsphilosophischen Diskussionen kennt, diese allerdings aus einer geschlechterkritischen wie auch poststrukturalistischen Position liest und dabei gerade auch Derridas Begriffe nutzt, um jene zu problematisieren. Daraus ergibt sich eine Kritik an der Differenz- und Machtblindheit dieser traditionellen Rechts- und Gerechtigkeitsphilosophien, die von Wolf nur bis zu einem gewissen Grad herausgefordert werden. Aus meiner Leseperspektive fällt dann auf, dass feministische und postkoloniale Diskurse in Wolfs Argumentation kaum Beachtung finden, obwohl das Derridasche Projekt genau diese ‚stützen‘ kann. Dieses grundlegende Paradox zieht sich durch die drei Hauptkapitel und wird im Folgenden näher ausgeführt.
Kultur und Gerechtigkeit: Grundlegende Arbeiten und Vorannahmen
Das Kapitel I beginnt mit einer dichten Darstellung und Kritik der ideengeschichtlichen Ausprägungen der Rechtsphilosophie zwischen Naturrechtstheorie und Rechtspositivismus. Dieser Abschnitt ist sicherlich nur für geübte Leser*innen rechtsphilosophischer Diskussionen produktiv. Hans Kelsen, Georg Mohr, Emil Lask kommen ebenso zu Wort wie John Rawls, Ronald Dworkin, Jürgen Habermas und Rainer Forst. Bereits hier fällt auf, dass ausschließlich ‚westliche‘ Philosophen (!) des euro-nordamerikanischen Raums zu Wort kommen, die die Theoretisierung der Gerechtigkeit dominieren. Dieser Kanon wird durch Wolf nur bedingt in Frage gestellt. Einen Blick über den euro- und androzentrischen Tellerrand der Rechtsphilosophie hinaus in (queer-)feministische, post-humanistische oder postkoloniale Debatten hätte zu einer Pluralisierung der Theorien über Gerechtigkeit beigetragen, der sich Derridas Denken schließlich auch verpflichtet fühlt.
Das Buch treibt also die Leser*innen durch die konfliktreiche Konfrontation kanonischer Paradigmen des 20. (und in Ansätzen beginnenden 21.) Jahrhunderts, um aufzuzeigen, dass bestehende rechtsphilosophische Ansätze drei – nach Wolf ungenügende – Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Gerechtigkeit formulieren: eine kulturalistische Antwort, die das Ideal der Gerechtigkeit kultur- und kontextspezifisch liest; eine transkulturelle, die es als kultur- und geschichtsübergreifendes Prinzip versteht, und eine dritte Antwort, die beide Momente zu vereinigen sucht und die Wolf als kulturalistisch-transkulturell umschreibt. Allen drei Antworten ist nach Wolf gemein, dass das Verhältnis zwischen Kultur und Gerechtigkeit ein „externe[s]“ (50) sei, was Wolf als eine „zeitlose“ Beziehung jenseits historischer Situiertheit liest. Dabei bleibt unklar, was Wolf selbst unter „Kultur“ versteht, wenngleich er einen Container-Begriff abzulehnen scheint.
Die Arbeit kritisiert diese drei Ansätze und formuliert die grundlegende These, dass Gerechtigkeit und Kultur in einem „interne[n]“ (50) Verweisungszusammenhang stehen, den es herauszuarbeiten gilt – und zwar über einen Fokus auf die „prekäre Zeitlichkeit normativer Prinzipien“ (39). Dies begründe, warum Derridas Denken und die Dekonstruktion im Mittelpunkt stehen. Denn Derridas „dekonstruktive Gerechtigkeitsauffassung [unterlaufe] die Unterscheidung zwischen einer kulturalistischen und transkulturellen Theorieebene theoretisch und praktisch produktiv“ (59). Dabei gilt die Aufarbeitung einer Derridaschen Theorie der Gerechtigkeit als ein Desiderat der (deutschsprachigen) Rechtsphilosophie, das Wolf durch seine Arbeit zu illuminieren sucht.
Zeitlichkeit und Normativität: Von Derrida zu Heidegger und zurück
Das Kapitel II unterteilt sich in drei Unterkapitel, die zunächst in die wesentlichen Elemente von Derridas Sprachphilosophie einführen (3), im Anschluss Martin Heideggers fundamentalontologische Analyse der Normativität diskutieren (4), um in einem letzten Unterkapitel (5) Derridas Konzeption von normativer Verpflichtung, mit und gegen Heidegger, als „Aporetologie“ (158) vorzustellen. Dabei versteht Wolf Aporetologie als ein Denken, das das Verhältnis von Kultur und Gerechtigkeit in einer Unbestimmtheit hält, die weder zu einem normativen Relativismus noch zu ethischer Orientierungslosigkeit führt. Damit sucht er einen Vorwurf zu entkräften, der routinemäßig poststrukturalistischem Denken im Allgemeinen, der Dekonstruktion im Besondern gemacht wird. Gerade hier sehe ich das Verdienst von Wolfs Buch: Es zeigt auch auf, dass Derrida eine Ethik gegen Rassismen, Sexismen und Nationalismen entwickelt – und sich damit eindeutig von einem unterstellten anything goes distanziert.
Kehren wir also zunächst mit Wolf zu Derridas Sprachphilosophie zurück, die sich aus der Kritik an gängigen Kommunikationsmodellen (z.B. Austin, Searle) nährt, in denen Sprache/Schrift Sinn transportiert, der durch die Empfänger*innen verstanden werden kann, weil Sender*in und Empfänger*in auf eine gemeinsame Idee rekurrieren. Stattdessen erhalten für Derrida sprachliche Zeichen Sinn durch ihre Wiederholbarkeit (Iterabilität), d. h. die Stabilität der Zeichen besteht in ihrer Instabilität und Kontingenz. Zeichen können damit sowohl systemstabilisierend als auch -transformierend iteriert werden. Wolf liest Derridas Dekonstruktion des Sinns als eine kritische Hermeneutik (95f.), nicht als relativistische Methode: Nur weil sie die Fixierung sprachlicher Zeichen an eine, in Derridas Worten, absolute Präsenz negiert und Zeichen als stets wiederholbar markiert, favorisiert die Dekonstruktion gerade nicht ethischen Relativismus. Vielmehr kann die Dekonstruktion sowohl die absolute Gründung eines Zeichens in einem Grund verneinen und bestimmte Geltungsansprüche eines gelingenden Verstehens einfordern; ersteres markiert die metaphysikkritische Dimension der Dekonstruktion, letzteres ihren ethischen Anspruch (98f.).
Nach dieser Einführung in die Grundbegriffe der Derridaschen Sprachphilosophie wird Heideggers Fundamentalontologie als eine Philosophie vorgestellt, die die Zeitlichkeit normativer Vollzüge untersucht. Wolf identifiziert das „Sein zum Tode“ als die zentrale fundamentalontologische Temporalstruktur: Die eigene Existenz wird dem Subjekt erst dann bewusst, wenn es sich in Verhältnis zu seinem eigenen Tod setzt. Damit richtet Heidegger menschliches Sein auf die Zukunft hin aus, oder genauer: auf den zukünftigen Tod, durch den das Selbst zu sich wie auch zur Welt in Beziehung tritt. Doch auch der Bezug zur Vergangenheit bleibt für Heidegger bedeutend, denn das Wissen um den zukünftigen Tod kann erst durch einen Rückbezug auf die Vergangenheit verstanden werden. Die Kontingenz des eigenen Lebens wird durch die Einbindung von Vergangenem verständlich. So knüpft Heidegger laut Wolf eine „einheitliche[.] Struktur“ aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (105), die es mit Derrida herauszufordern gilt: Die lineare Chronologie Heideggers suggeriert eine Einheit, die aufgrund der Iterabilität von Normen so nicht bestehen kann.
Darüber hinaus kritisiert Derrida im Anschluss an Levinas‘ alteritätsphilosophische Überlegungen den solipsistisch-eskapistischen Modus von Heideggers Selbst, das allein und ohne Bezüge zu anderen seine eigene Existenz verstehen kann. Wolf resümiert, dass die Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, die sich in der Ambivalenz zwischen Tradierung und Herausforderung der Normen niederschlägt, in Heideggers Fundamentalontologie unzureichend ausgearbeitet ist. Die Beziehung zwischen Kultur und Gerechtigkeit bleibt bei Heidegger unklar.
Das umfangreichste Kapitel 5 verdichtet diese Überlegungen, um Derridas Theorie der „différance und Iterabilität von Sinnbezügen […] mit dem Verständnis ihrer Zeitlichkeit […] und Geschichtlichkeit […] zu einer Deutung der ‚aporetischen‘ Struktur normativer Maßstäbe“ zu verbinden (139). Wolf möchte zeigen, „dass es Derrida […] besser als Heidegger gelingt, die Einheit von geschichtlicher Faktizität und zukunftsbezogener Offenheit verständlich zu machen, die normative Maßstäbe und Vollzüge grundsätzlich kennzeichnet“ (139). Erst die Dekonstruktion der Zeitlichkeit geschichtlicher Bezugnahmen in Form der différance ermöglicht es, diese nicht einfach als Ambivalenz zwischen historischer Determiniertheit und zukunftsbezogener Offenheit zu lesen. Vielmehr spannen sie sich zwischen kultureller Bestimmtheit und Transkulturalität auf. Um der Struktur dieser ‚Auf-Spannung‘ auf die Spur zu kommen, untersucht Wolf Levinas‘ Kritik an Heidegger, von der wiederum Derrida beeinflusst war, um die entscheidende Schwäche von Heideggers Fundamentalontologie herauszuarbeiten: das Fehlen des Alteritätsbezugs als konstitutive Dimension von Normativität. An dieser Stelle arbeitet Wolf klar die Position Derridas heraus und macht seine Argumentation für eine Leser*innenschaft zugänglich, die mit dem Denken Derridas noch nicht vertraut ist.
Die ideengeschichtliche Rekonstruktion um Derrida, Heidegger und Levinas ergänzt Wolf um einen Exkurs zu Søren Kierkegaards Überlegungen zum Glauben (176ff.) – an denen Derrida ebenfalls anknüpft, die aber an dieser Stelle den Zugang zu Wolfs eigener Argumentation verstellen. Wolf begründet den Exkurs zu Kierkegaard mit der Diskussion des Begriffs der Aporie, der für die gesamte Arbeit zentral werden wird. Ob der Kierkegaard-Exkurs dies jedoch tatsächlich leistet, bleibt fraglich. Jedenfalls schlussfolgert Wolf aus der Diskussion des Verhältnisses zwischen Kierkegaards und Derridas Philosophie, dass normative Maßstäbe aus einer dekonstruktiven Sicht immer schon durch die Struktur der Aporie gekennzeichnet sind, d. h. sie können über rational-hermeneutische Verfahren nicht vollständig eingeholt werden – vielleicht ist dies die Verbindung zu Kierkegaards Religionsphilosophie, in der sich Glaube auch einer vollständigen Rationalisierung entzieht.
Die Analyse einer strukturellen Aporie – Wolf spricht auch von „Aporetizität“ (140) – ermöglicht nun das Spannungsverhältnis zwischen historisch-kultureller Bestimmtheit und offenem Zukunftsbezug von Normen darzulegen. Dabei betont Wolf überzeugend, dass Aporie hier weder als handlungsblockierend noch theoretisch-mystifizierend verstanden werden soll. Vielmehr argumentiert er, dass die Aporetizität normativer Maßstäbe aufzeigt, dass sie sowohl kulturell geprägt als auch allgemein sind (140). Sie stehen damit nicht in einem Spannungsverhältnis, sondern in einem internen Verweisungszusammenhang. Wolf argumentiert also, dass Gerechtigkeit als normativer Maßstab einer aporetischen, keiner ambivalenten Struktur unterliegt. Die Differenzierung erscheint wichtig, wird an dieser Stelle nur ansatzweise argumentativ ausgeführt. Um dies aufzuzeigen, wird wieder eine Kontrastierung zwischen Heidegger und Derrida von Wolf bemüht: In Bezug auf die Historizität von Gerechtigkeit geht Heidegger davon aus, dass sich normative Maßstäbe nur innerhalb einer bestimmten historischen Situation erschließen lassen: dass ihr Sinn nur intragenerationell zu verstehen sei. Denn um, nach Heidegger, Normen sinnstiftend verstehen zu können, muss sich auf eine einheitliche kulturalistische Normenapparatur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt bezogen werden. Derrida zeigt dagegen auf, dass normative Maßstäbe ihre Wirkmacht gerade auch intergenerationell und transversal entfalten: Ihre Wiederholbarkeit spannt sich überhistorisch und transkulturell auf – aber nicht in einer einheitlich-universalen Gestalt, sondern in iterativen Modifikationen, die offen, aber kontextspezifisch reformuliert werden.
Zusammenfassend formuliert Wolf, dass trotz der „eng verwandte[n] Konzeption der Geschichtlichkeit normativer Maßstäbe“ beider Denker, Derridas Überlegungen „überzeugender“ erscheinen (157), da Heidegger die Quelle von Normativität in einer statischen und gegebenen kulturellen Fixiertheit gründet – sie ist einfach da (Präsenz). Dagegen konzipiert Derrida Normativität als spannungsreiches Oszillieren zwischen Gegebenheit und Unbestimmtheit. Sie ist nicht einfach präsent, sondern muss aktualisiert, re-formuliert und situativ angepasst werden. Dass Gesellschaften zu sich selbst kommen, also gerecht sind, erscheint Derrida als ein Phantasma der Identität, das jeden Streit über und jede Politik der Gerechtigkeit sinnlos machen würde. Denn es ist gerade diese politisch-politisierende Struktur, die Gerechtigkeit zu einer ethischen Forderung macht, in der diejenigen, die in der rezenten Gerechtigkeitsiteration ausgeschlossen sind, den Einschluss einfordern und damit eine Reiteration der Gerechtigkeitsnormen verlangen. Diese alteritäts- und pluralitätstheoretische Positionierung Derridas wird in der Arbeit klar herausgearbeitet, jedoch durch die einseitige Auswahl der Referenzautor*innen unterminiert.
Gerechtigkeit und Demokratie als Dekonstruktion: Die Temporalitätsstruktur des Kommenden
Während die ersten beiden Kapitel von rechts- und politikphilosophischen Überlegungen geprägt waren, fokussiert das Kapitel III darauf, Derrida als Demokratietheoretiker vorzustellen, der einen „konstruktive[n] Beitrag zur Diskussion über die kulturellen und normativen Grundlagen einer liberalen Demokratie“ leisten kann (231). Dieser Sprung von Gerechtigkeits- zu Demokratietheorie ist für versierte Leser*innen Derridas nicht überraschend, könnte aber für weniger kenntnisreiche Leser*innen besser vorbereitet werden.
Wieder beginnt Wolf mit einem ideentheoretischen Vergleich und zeigt auf, wie Derrida, dieses Mal in Rekurs auf Benjamins Kritik der Gewalt, das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Recht als gewaltförmig dekonstruiert: Dass sich der Ursprung des Rechts – in seiner Gründung und Setzung als Gesetz – selbst nicht in das Recht einschließen lässt, wird zur Grundlage für eine dekonstruktive Rechtskritik, mit der sich Derrida einer Theoretisierung von Demokratie annähert. Denn in dieser dem Recht innewohnenden Ungerechtigkeit – der Ausschließung – steckt nach Derrida eine Möglichkeit der demokratischen Öffnung, die dekonstruktiv vollzogen wird: Die Gewalt, die in der grundlosen Gründung des Rechts besteht, wird aufgedeckt, woraus sich für die Ausgeschlossenen die Chance ergibt, Recht selbst geltend zu machen – und somit Politik als Forderung an das Recht in das Recht einzuspeisen: es zu öffnen und damit gerechter und demokratischer zu machen. Daher sind Dekonstruktion und Gerechtigkeit identisch: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“, zitiert Wolf Derrida.
Wolf (251ff.) orientiert sich im weiteren Verlauf dann stark an Christoph Menkes – erneut ein Philosoph des euro-nordamerikanischen Raums – Ausführungen zu Derridas Rechts- und Gerechtigkeitstheorie, um deren Konsequenzen für das Verhältnis von Kultur und Gerechtigkeit aufzuzeigen: Rechtsentscheidungen beziehen sich immer auf Gründe und damit auf die im Recht als Institution realisierte Idee einer normativen Begründung (Gerechtigkeit), während die Rede von der Stiftung oder Evidenz der Gerechtigkeit darauf hinweist, dass sie in einer selbstbezüglichen kulturellen Tradition steht, an die diese Rechtsentscheidungen anknüpfen müssen – ohne selbst absolut begründet oder ‚an sich‘ vernünftig zu sein.
Benjamin – der von Wolf nachvollziehbar als Dekonstrukteur „avant la lettre“ (282) interpretiert wird – und Derrida teilen die Kritik am Zusammenhang von Recht und Gewalt, doch Derrida bleibt gegenüber dem Benjaminschen Messianismus skeptisch. Für ihn erfordert Gerechtigkeit keine ‚reine‘, d.h. revolutionäre, Gewalt, die Recht und Staat aufhebt (wie bei Benjamin), sondern vollzieht sich im Namen eines noch nicht existierenden und unbestimmten Rechts, das das bestehende Unrecht – das Ausgeschlossensein der anderen – zu verändern vermögen wird. Damit unterliegen Gerechtigkeitsnormen einer dekonstruktiv-iterativen Bewegung, die Derrida als kommend beschreibt: Gerechtigkeit ist nie ganz ‚da‘, nicht vollständig verwirklicht, sondern trägt Spuren vergangener Un-/Gerechtigkeit in sich. Denn im Vollzug des Rechts wird nicht jeder*r als Rechtsperson anerkannt und bleibt damit als Ungleiche*r unberücksichtigt: Gerechtigkeit ist deshalb ein Anspruch, der niemals absolut erfüllt werden kann. Deshalb ist es treffend, wenn Derrida von einer Zukunft spricht, die ‚im Kommen‘ (to-come, à-venir) bleibt (275). Damit wendet sich Derrida mit der Zeitstruktur des Kommenden gegen eine messianische Konzeption des Politischen. Vielmehr hat für Derrida, laut Wolf, das Politische die „bescheidenere und zugleich auch anspruchsvollere Funktion, den Verantwortungsentwurf für den ethischen Anspruch des anderen zu öffnen.“ (284) Damit beschreibt Wolf einen Umstand, der gerade in rassismus- und geschlechterkritischer Forschung zur Geltung kommt, die an Derridas Gerechtigkeitsethik ebenso anschließt wie an seine Vorstellung von Demokratie als Radikalisierung durch den stets zu erweiternden Anspruch der anderen, gerechtere Behandlung zu erfahren. Allerdings bleibt der Zusammenhang zwischen der Aporetizität von Normen und der Zeitstruktur des Kommenden nur angedeutet und hätte durch Wolf noch stärker herausgearbeitet werden können.
Auch bleibt das Verhältnis zwischen Demokratie und dem Politischen teilweise unklar. Für Wolf wird das Politische in zweifacher Hinsicht deutlich: Erstens, im Verantwortungsentwurf, der immer schon politisch sei, weil die Faktizität, die ihn kennzeichnet, immer schon heterogen, plural und konfliktiv sei – diese Definition setzt einen bestimmen Begriff des Politischen als Streit voraus, wird allerdings nicht hergeleitet. Zweitens, schafft gerade dieser Konflikt eine Form politischer Vergemeinschaftung, durch die sich die „Sphäre des Politischen“ (287) als solche erst konstituiert.
Das Politische umfasst die sozialen Praktiken, die sich auf die immer umstrittene und konflikthafte Frage beziehen, wer wie berücksichtigt oder geopfert wird. Der Begriff bezeichnet somit die kollektive und konflikthafte Dimension der Aushandlungsprozesse, die die Aporie der Verantwortung notwendig macht. In diesem Sinne ist das Politische die ontologische Basis von Prozessen der Anerkennung […]. (287)
Vor dem Hintergrund dieser Agonalität des Politischen wird dann die Unterscheidung zwischen dem Ethischen und dem Politischen deutlicher: Während das Ethische notwendig normativ sei, weil es immer schon den Anspruch stellt, die anderen einzuschließen, stellt das Politische einen deskriptiven Begriff dar; denn es ist nicht notwendig von ethischen Ansprüchen durchzogen, aber immer schon agonal: Die Dekonstruktion des Rechts im Namen der Gerechtigkeit bleibt hier auf politisches Handeln als Streit angewiesen. Insofern ist das Politische, so Wolf, nicht notwendig dekonstruktiv, die Dekonstruktion jedoch notwendig politisch, weil sie in ihrem Streben nach Gerechtigkeit nach einer dissensuellen Neuaushandlung des Verantwortungsentwurfes unter Berücksichtigung der ausgeschlossenen anderen verlangt. Das Ethische, oder: Gerechtigkeit, wird nur über das Demokratische – den Anspruch der anderen auf Einschluss – im Politischen verankert: „Gerechtigkeit […] ist ohne eine […] demokratische Politik nicht zu haben“, schließt Wolf (288). Das Verhältnis zwischen Demokratie, dem Politischen und dem Ethischen wird hier dann deutlicher.
Damit stellt sich die Frage, ob bestehende Normen nur neu ausgedeutet oder revolutionär umgestürzt werden müssen – wenn wir noch einmal an Benjamin denken – gerade nicht. Die Dekonstruktion unterläuft diese Alternative: Prozesse der Politisierung können nicht vollständig an ihr Ende kommen, zugleich weisen sie aber immer einen Überschuss auf, der sich in der Unbestimmtheit, der différance und Iterabilität sozialer Normen manifestiert. Prozesse der Politisierung, also eine emanzipatorische Dekonstruktion des Verantwortungsentwurfes, sind weder durch ein abstraktes Naturrecht noch durch die Faktizität einer konkreten Rechtskultur begrenzt. Sie zielen vielmehr auf eine kritische Befragung und eine Revision der in diesen Normen fixierten Anerkennungsverhältnisse, die sowohl als Neuerfindung als auch als Artikulation des eigentlich immer schon in ihnen angelegten normativen Gehalts zu lesen ist (293).
Demokratie als Dekonstruktion
Im letzten Abschnitt kommt Wolf auf die Eingangsfrage nach der normativen Integration moderner demokratischer Gesellschaften zurück, – oder: Wie verhalten sich „Pluralismus“, Dekonstruktion und Demokratie zueinander? Wie kann die Partikularität der demokratischen Gemeinschaft mit der Idee der Öffnung zum anderen hin vereinbart werden?
Wolf setzt zunächst mit dem kulturalistisch-transkulturellen Ansatz an, der die Demokratie als ein Ensemble von Institutionen und Prozessen versteht, in denen universelle und partikulare Elemente versöhnt werden. Demokratische Entscheidungen sind durch das Volk als einer endlichen Gemeinschaft legitimierte souveräne Setzungen – dies ist für Wolf das kulturalistische Moment. Zugleich beruht die Demokratie auf einer über partikulare Bestimmungen hinausweisenden normativen Idee – das ist das transkulturelle oder universelle Moment. Hier kommt Wolf auf die Arbeiten von Jürgen Habermas und John Rawls zurück, die für ihn das Denken des politischen Liberalismus repräsentieren, der zum Negativ wird, vor dessen Hintergrund Derridas dekonstruktive Gerechtigkeits- und Demokratietheorie Gestalt erhält. Wolf (297) insistiert, dass die „dekonstruktive Deutung der demokratischen Gleichheit und Souveränität das Verhältnis von Kultur und Gerechtigkeit im Bereich des Politischen angemessener bestimmt als der politische Liberalismus von Rawls and Habermas.“ Er begründet diese Position durch zwei Momente der Derridaschen Demokratietheorie: Eine kritisch-dekonstruktive Perspektive auf, erstens, den konstitutiven Ausschluss, „der sich paradigmatisch daran zeigt, dass in der philosophischen Tradition […] immer nur von Freunden und Brüdern, nie aber von Freundinnen und Schwestern die Rede ist“ (300) – hier deutet Wolf zum ersten und einzigen Mal in der gesamten Schrift eine geschlechterkritische Lesart des Liberalismus nach Derrida an – und zweitens, die Linearität der liberalen Chronopolitik, die an regulativen Ideen festhält. Derrida zeigt dagegen auf, dass demokratische Zeitlichkeit der Gleichheit und Geschwisterlichkeit im Modus des Kommenden zu skizzieren, also: in eine nie ganz gegenwärtige Zu-kunft verschoben sei: „Die Demokratie ist ihrem Wesen nach nie demokratisch genug“ (326).
Dabei verweisen sowohl die Ausschlussblindheit als auch die lineare Temporalität des politischen Liberalismus auf ein Denken der Einheit, das Nationalismen, Rassismen, Ethno- und Andro-Zentrismen (re-)produzieren kann. Gegen dieses Denken des absoluten Ausschlusses, konzipiert Derrida Demokratie als Un/Einheit, die den Bedingungen der Iterabilität und différance unterliegt: Worin der Gehalt der demokratischen Gleichheit besteht, bleibt aufgeschoben, wird stets neu verhandelt, sodass der Ausschluss der anderen zwar konstitutiv bleibt, aber nie auf festgeschriebene Kategorien fixiert werden kann. So verbinden sich der demokratische Anspruch der Gleichheit mit dem Verantwortungsentwurf der Gerechtigkeit im Anspruch der anderen auf Einschluss. Damit beweist Wolf, dass die Dekonstruktion weder demokratieskeptisch noch anti-demokratisch ist, denn die Demokratie ist bereits durch eine dekonstruktive Bewegung des Kommenden gekennzeichnet, will sie nicht in Phantasmen völkischer Einheit und patriarchaler Zusammengehörigkeit aufgehen, sondern als Kritik die Frage nach den anderen stets stellen.
Wie lässt sich dies nun konkret auf Wolfs Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Gerechtigkeit anwenden? Für Wolf folgt Derrida zunächst gängigen Definitionen der Demokratie als Herrschaft des Volkes, das sich aus freien und gleichen Bürger*innen zusammensetzt, die sich als selbstgesetzgebend und souverän erfahren. Doch für Derrida ist Demokratie auch durch die Bewegung der différance gekennzeichnet, wodurch sie eine bloße Kombination kulturalistischer und transkultureller Ansätze übersteigt. Denn es ergibt sich in Derridas kommender Demokratie eine Spannung zwischen der Faktizität und Kulturalität des Politischen einerseits und dem unbedingten ethischen Anspruch der Gerechtigkeit andererseits, die im Begriff der Demokratie nicht kombinatorisch – wie z. B. im politischen Liberalismus – aufgehoben werden kann. Vielmehr stellt erst diese Spannung die Demokratie her – dies ist der Clou an Derridas Demokratietheorie.
Kritik und Fazit
Deutlich arbeitet Wolf heraus, dass Derrida nicht nur eine zentrale Figur der (post-)modernen Sprachphilosophie ist, sondern auch wesentliche Beiträge zur Demokratietheorie leistet – ein Umstand, der immer wieder angezweifelt wird. Damit bezieht Wolf klar Stellung für die Integration des Derridaschen Denkens in aktuelle theoretische Debatten um den Status Quo der (liberalen) Demokratie. Angesichts der Anfeindungen, mit denen Derrida und seine Interpret*innen in Zeiten von postfaktischer Politik konfrontiert sind, ist Wolfs differenzierte, aber klare Parteinahme eine fast schon wagemutige Geste. Er legt eine fulminante Verteidigung des Derridaschen Denkens und der Dekonstruktion vor, die in (rechts- und politik-)philosophischer Forschung nur selten anzutreffen ist, und die die oft vorgetragenen Vorwürfe des moralisch-ethischen Relativismus überzeugend entkräftet.
Dafür arbeitet sich Wolf mit unendlicher Willenskraft und philosophischer Neugier durch die oft unzugänglichen Sprachspiele der Rechtsphilosophie, der Fundamentalontologie und des Poststrukturalismus – wenngleich Wolf diese Unzugänglichkeit in Teilen sprachlich reproduziert. Er ‚pflügt‘ durch die rechts- und politikphilosophische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts und bestellt dieses Feld souverän; für eine Leser*innenschaft, die erst beginnt, sich mit rechts- und gerechtigkeitsphilosophischen Diskussionen zu beschäftigen, bleibt Wolfs Arbeit hier leider hermetisch verschlossen. Mit dieser Hermetik bricht Wolf jedoch immer in den jeweiligen Zusammenfassungen der Kapitel, in denen die Argumentation für Leser*innen nachvollziehbar(er) wird. Auch entwickelt Wolf dann seine hermeneutischen Stärken, wenn es ganz intim zwischen ihm und Derrida wird – die Rezensionen, Kritiken und Interpretationen ausgeblendet sind – und Wolf seiner eigenen Lesart Raum und Zeit gewährt. Diese Klarheit hätte ich mir als Leserin öfter gewünscht.
Störend ist, dass Wolf die Argumente seiner Referenzautoren (!) oftmals als „einfach“ und „klar“ beschreibt, was seine Leser*innenschaft teilweise frustriert dastehen lässt, wenn man Argumente und Konzepte keineswegs als „einfach“ und „klar“ empfunden hatte – eine unnötige rhetorische Geste, die an manchen Stellen einen paternalistischen Modus annimmt. Neben diesem rhetorischen Stilmittel verwendet Wolf immer wieder einen argumentativen ‚Taschenspieler*innentrick‘: In einer pauschalisierenden Beurteilung setzt er, dass ein bestimmter Gedanke von Derrida unverständlich, absurd oder nicht einleuchtend sei. Wolf widerlegt dann die Verallgemeinerung und ‚beweist‘, dass das vermeintlich unverständliche Argument doch nicht so absurd ist (vgl. S. 213). Woher weiß Wolf, dass dieser Gedanke von der Leser*innenschaft als unverständlich oder absurd empfunden wird? Auf welcher Annahme beruht diese Verallgemeinerung? Von welcher Position aus soll das Argument nicht schlüssig wirken? Damit oktroyiert Wolf seinen Leser*innen eine bestimmte Lesart des Derridaschen Denkens auf, um diese dann im Sinne seiner Argumentation zu entkräften. Dabei wirken die Argumente Derridas auf eine z.B. poststrukturalistisch, (queer-)feministisch oder postkolonial informierte Leser*innenschaft nicht absurd, sondern schlüssig. Darüber hinaus bleibt unklar, aus welcher Position heraus Wolf seine eigene Argumentation beginnt oder von welcher Position aus Derridas Argumente unverständlich bleiben würden. Betrachtet man seine Referenzen, so scheint, dass Wolf bei letzterem von naturrechtlichen, rechtspositivistischen oder deliberativ-liberalen Positionen ausgeht – deutlich formuliert wird dies aber nicht.
Schließlich bleiben Wolfs denkerische Bezugspunkte frappant maskulin, wobei er doch explizit auf Derridas Kritik an der Hegemonie des Maskulinen in der philosophischen Tradition des ‚Westens‘ verweist – dem „Andro-gallo-fraternozentrismus“. Auf den Ausschluss der anderen und Derridas alteritätstheoretische Diskussion von Gerechtigkeit wird stets rekurriert und schließlich als ‚Kern‘ seiner Demokratietheorie identifiziert, während die Arbeit diesem Anspruch kaum Genüge leistet.
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