Zeitschrift für philosophische Literatur 8. 2 (2020), 55–64

Wallace, R. Jay: The Moral Nexus. Princeton: Princeton University Press 2019. 328 Seiten. [978-0691172170]

Rezensiert von Jonas Zahn (Universität Leipzig)

„Man muss tun, was man versprochen hat!“ Unser praktisches Überlegen und Handeln ist entscheidend durch moralische Forderungen wie diese bestimmt. In seinem neuen Buch The Moral Nexus unternimmt R. Jay Wallace den Versuch, die Natur solcher Forderungen philosophisch zu erläutern. Dazu bestimmt er das Thema seines Buches in einem ersten Schritt näher als „interpersonale Moral“ (1). Damit sind solche moralischen Standards oder Forderungen gemeint, die sich auf die Effekte beziehen, die Handlungen auf die Interessen und das Wohlergehen anderer Personen haben (vgl. 3). Die zentrale Idee von Wallace ist, dass wir interpersonale Moral und ihre wesentlichen Eigenschaften am besten auf der Grundlage einer sogenannten relationalen Interpretation von Moral verstehen können. Die Kernthese der relationalen Interpretation lautet dabei, dass moralische Forderungen konstitutiv mit Ansprüchen verknüpft sind, die andere Personen allein kraft des Umstands gegen uns erheben können, dass sie Personen sind. Gemäß der relationalen Interpretation ist interpersonale Moral somit grundsätzlich eine Angelegenheit davon, was wir – um auf die von T.M. Scanlon geprägte Formulierung zurückzugreifen (vgl. Scanlon 1998) – einander kraft unseres Personenseins schulden (what we owe to each other) (vgl. 1ff.). Wallace startet sein anregendes und in vielen Punkten äußerst erhellendes Buch mit einer Skizze der relationalen Interpretation von Moral und ihrer Grundthese im Einleitungskapitel. Ziel der sich anschließenden fünf großen Kapitel ist es dann, die relationale Interpretation zu entwickeln, zu verteidigen und zu zeigen, dass sie die zentralen Eigenschaften interpersonaler Moral erklärt.

Eine dieser zentralen Eigenschaften ist laut Wallace, dass moralische Gründe in Form sogenannter präsumtiver Forderungen (presumptive constraints) im praktischen Überlegen auftreten. Als Forderungen unterscheiden sie sich von sogenannten „aspirativen“ (aspirational) praktischen Gründen, die in unterschiedlicher Stärke dafür oder dagegen sprechen, bestimmte Dinge zu tun. Im Unterschied zu diesen können moralische Überlegungen nämlich, so Wallace, weder mit anderen praktischen Gründen verrechnet noch von diesen ausgestochen werden. Weiterhin gibt es ihnen gegenüber keinerlei Spielraum, sie in unserem Tun nicht zu beachten (vgl. 26-27). Ihr präsumtiver und damit mutmaßlicher Charakter zeigt sich darin, dass es dennoch spezielle Umstände geben kann – z.B. Notfallsituationen –, in denen wir nicht durch sie gebunden sind (vgl. 27-29). Gemäß Wallace besteht nun eine zentrale Aufgabe für philosophische Theorien interpersonaler Moral darin, diese „deontische Struktur“ (26) moralischer Forderungen zu erklären. In Kapitel 2 argumentiert Wallace dafür, dass die relationale Interpretation dies leistet. Dabei bedient sich Wallace – wie so oft im Verlauf des Buches – des Gebens und Nehmens von Versprechen als Modell, anhand dessen sich die Natur von Forderungen interpersonaler Moral allgemein erhellen lässt (vgl. 48ff.). Der zentrale Gedanke ist, dass ein Versprechen einen normativen Nexus konstituiert, in dem einer Pflicht auf Seiten der Person, die das Versprechen gibt, notwendig ein Anspruch auf Seiten der Person korrespondiert, der das Versprechen gegeben wird. Wallace drückt diese konstitutive Verknüpfung zwischen Pflicht und Anspruch auch so aus, dass die mit dem Geben eines Versprechens verknüpfte Pflicht wesentlich auf die Person gerichtet ist (directed), der das Versprechen gegeben wird. Auf Grundlage eines solchen normativen Nexus kann man nun gemäß Wallace verständlich machen, warum moralische Forderungen präsumtive Forderungen konstituieren. Wenn moralische Forderungen nämlich als Elemente eines interpersonalen normativen Nexus verstanden werden – wie er paradigmatisch im Geben und Nehmen von Versprechen enthalten ist –, dann gilt, dass sie in einen normativen Komplex eingebettet sind, der nicht allein die Person betrifft, an die sich die Forderung richtet. Vielmehr ist die Forderung konstitutiv an den Anspruch einer anderen Person gebunden, was laut Wallace verständlich macht, warum sie sich im praktischen Überlegen gerade nicht mit anderen Gründen verrechnen lässt und es ihr gegenüber keinerlei Spielraum der Nichtbeachtung gibt.

In Kapitel 3 beschäftigt sich Wallace mit einer zweiten grundlegenden Eigenschaft moralischer Forderungen. Diese besteht darin, dass interpersonale Moral nicht nur in dem Sinn interpersonal ist, dass sich ihre Forderungen auf die Interessen und das Wohlergehen anderer Personen beziehen. Vielmehr ist sie auch insofern interpersonal, als dass sie normative Signifikanz für diese anderen Personen hat (vgl. 66ff.). Moralische Forderungen konstituieren nämlich normative Gründe für diese Personen, Akteure dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass sie moralische Forderungen, die sich an sie richten, nicht adäquat beachten. Was es hiermit auf sich hat, lässt sich wiederum am Geben und Nehmen von Versprechen verdeutlichen. Angenommen, Jakob verspricht Lea, ihr beim Umziehen zu helfen, schenkt seinem Versprechen aber keine weitere Beachtung und verbringt den Tag des Umzugs lieber im Bett. In diesem Fall konstituiert Jakobs Verhalten einen normativen Grund für Lea, ihn für das Brechen seines Versprechens zur Rechenschaft zu ziehen. So hat sie z.B. normativen Grund, ihm die Missachtung seines Versprechens zum Vorwurf zu machen (blame). Der entscheidende Gedanke von Wallace ist nun, dass diese soziale Dimension moralischer Forderungen in ihrer Natur verankert ist (vgl. 71). Im Lichte dieses Gedankens kritisiert er dann an sogenannten individualistischen Konzeptionen des moralisch Richtigen, dass sie gerade nicht in der Lage sind, diesen wesentlichen Zug moralischer Forderungen verständlich zu machen (vgl. 76ff.). Das tiefere Problem an solchen individualistischen Konzeptionen – zu denen Wallace so verschiedenartige Positionen wie den Utilitarismus und Foots ethischen Naturalismus zählt – liegt gemäß Wallace’ Diagnose darin, dass sie moralische Forderungen auf der Grundlage von nichtpersonalen Standards des guten oder richtigen Handelns begreifen. Individualistische Konzeptionen verstehen unmoralisches Handeln damit primär als Verletzung solcher Standards und nicht als Verletzung von Ansprüchen anderer Personen. Der große Vorteil der relationalen Interpretation interpersonaler Moral gegenüber solchen Positionen ist nun, so Wallace, dass sie den sozialen Charakter moralischer Forderungen unmittelbar verständlich macht (vgl. 81ff.). Gemäß der relationalen Interpretation sind moralische Forderungen nämlich als solche auf andere Personen gerichtet (directed) und damit konstitutiv mit Ansprüchen auf Seiten dieser Personen verknüpft. Dies bedeutet, dass die Nichtbeachtung moralischer Forderungen notwendig mit der Verletzung von Ansprüchen anderer Person einhergeht, was wiederum erklärt, warum man von letzteren hierfür zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Gegenstand von Kapitel 4 ist eine weitere zentrale Eigenschaft der Forderungen interpersonaler Moral. Die Rede ist hier von dem, was Wallace bereits in Kapitel 2 als ihre „kosmopolitische normative Struktur“ (37) bezeichnet. Damit ist gemeint, dass sich moralische Forderungen – zumindest gemäß unserem modernen Verständnis von Moral – nicht auf bestimmte Gruppen von Personen beschränken, sondern für eine „maximal inklusive Gemeinschaft moralisch Gleicher“ (46) gelten. Aus diesem kosmopolitischen Aspekt von Moral ergibt sich nun eine spezifische Herausforderung für Wallace’ relationale Interpretation (vgl. 107ff.). Gemäß dieser sind moralische Forderungen nämlich grundsätzlich Forderungen, die auf konkrete andere Personen bezogen und diesen geschuldet sind. Wie die mit dem Geben und Nehmen von Versprechen verknüpften Forderungen und Ansprüche, die Wallace als Modell für interpersonale Moral als Ganze verwendet, nun aber nahelegen, setzt das Bestehen solcher Forderungen und Ansprüche eine vorgängige Interaktion zwischen den durch sie gebundenen Personen voraus – oder zumindest eine geteilte soziale Praxis oder Konvention. Da Moral aber eine kosmopolitische und damit unbegrenzte normative Struktur aufweisen soll, können ihre Forderungen nicht grundsätzlich von solchen Interaktionen bzw. einer geteilten sozialen Praxis abhängen. Der Grund hierfür lautet, dass letztere notwendig zeitlich und räumlich begrenzt sind. Wallace begegnet dieser Herausforderung, indem er zuerst die in Kapitel 2 und 3 herausgearbeiteten Vorteile der relationalen Interpretation betont (vgl. 116-119). In einem zweiten Schritt untersucht er, ob es generelle theoretische Einwände dagegen gibt, die relationale Interpretation auch auf solche moralischen Forderungen auszuweiten, die nicht auf einer vorgängigen Interaktion bzw. einer geteilten sozialen Praxis beruhen können (vgl. 119ff.). In kritischer Auseinandersetzung mit Überlegungen von Michael Thompson (vgl. Thompson 2004) und Margaret Gilbert (vgl. Gilbert 2013) argumentiert er, dass dem nicht so ist. Der moralische Nexus kann damit, so Wallace, als Domäne moralischer Forderungen und Ansprüche interpretiert werden, die in dem Sinn selbstständig ist, dass sie gerade nicht in vorgängigen Interaktionen bzw. einer geteilten sozialen Praxis gründet.

An dieser Stelle leitet Wallace aus der relationalen Interpretation eine wichtige metaethische Konsequenz ab. Diese besteht darin, dass ein Verständnis von Moral als einer selbstständigen Domäne moralischer Forderungen und Ansprüche unvereinbar mit sogenannten individualistischen Konzeptionen des Normativen ist (vgl. 125ff.). Mit letzteren sind Positionen gemeint, die normative Gründe in der einen oder anderen Weise in den subjektiven Einstellungen von partikularen Akteuren verankern. Der Gedanke von Wallace ist folgender: Wenn praktische Normativität in subjektiven Einstellungen partikularer Akteure gründen würde, dann könnte es nur einen moralischen Nexus zwischen Personen geben, deren individuelle psychologische Profile vorgängig aufeinander abgestimmt wären. Moralische Forderungen und die ihnen korrespondierenden Ansprüche würden damit aber gerade vorgängige Interaktionen zwischen den durch sie gebundenen Parteien voraussetzen, was die Interpretation des moralischen Nexus als selbstständige Domäne moralischer Forderungen und Ansprüche verunmöglichen würde. Wallace folgert aus dieser Überlegung, dass die relationale Interpretation von Moral metaethisch einen, wie er es nennt, Antiindividualismus des Normativen voraussetzt. Da Wallace humeanische und konstruktivistische Positionen zu den individualistischen Konzeptionen des Normativen zählt, kann die relationale Interpretation von Moral, so Wallace, durch keine von beiden Positionen metaethisch fundiert werden. Anders verhält es sich laut Wallace mit einem normativen Realismus, wie er ihn an anderer Stelle verteidigt (vgl. Wallace 2006). Ein solcher Realismus verankert praktische Normativität nämlich in geistunabhängigen normativen Tatsachen und damit gerade nicht in den subjektiven Einstellungen partikularer Akteure. Als antiindividualistische Konzeption des Normativen erweist sich dieser somit, wie Wallace abschließend andeutet, als vielversprechende metaethische Fundierung der relationalen Interpretation des Moralischen (vgl. 134 FN 54).

Moral ist kosmopolitisch in dem Sinn, dass sie für eine maximal inklusive Gemeinschaft moralisch Gleicher gilt. Die Frage, wer zu dieser Gemeinschaft gehört, markiert den Übergang zu Kapitel 5. Zu Beginn dieses Kapitels lernen wir, dass die Menge der Individuen, an die sich moralische Forderungen richten, nicht identisch ist mit der Menge von Individuen, die moralische Ansprüche haben. Moralische Forderungen richten sich nur an solche Akteure, die in der Lage sind, bipolar-normative Gedanken zu denken (vgl. 148ff.). Für die Frage, welche Individuen moralische Ansprüche haben, ist hingegen entscheidend, was Wallace „persönliche Interessen“ (personal interests) nennt (vgl. 156ff.). Der Gegenstand solcher Interessen sind Aspekte des Lebens eines Individuums, denen es Bedeutung beimisst (vgl. 160-162). Gemäß Wallace können die moralischen Ansprüche eines Individuums zwar nicht mit solchen Interessen gleichgesetzt werden, es gilt aber, dass man nur solchen Wesen etwas moralisch schuldet, für deren persönliche Interessen das eigene Handeln Folgen haben kann.

Der Begriff des persönlichen Interesses führt Wallace schließlich zu einem weiteren wichtigen Aspekt seines Buches, dem Begriff moralischen Überlegens (vgl. 165ff.). Wallace vertritt die These, dass moralische Forderungen kein spezieller Input moralischen Überlegens sind, der mit anderen Überlegungen und Gründen in diesem Überlegen verrechnet wird. Gemäß Wallace muss moralisches Überlegen vielmehr so verstanden werden, dass es auf der Grundlage der Zuschreibung von persönlichen Interessen in moralischen Forderungen als seinem Output mündet, die – so die Lehre von Kapitel 2 – im Gewand präsumtiver Forderungen auftreten. Wallace endet Kapitel 5 mit der Frage, wie der relevante Prozess der Rechtfertigung von moralischen Ansprüchen auf der Grundlage von Interessen näher beschrieben werden kann (vgl. 176ff.). Eine mögliche Option in diesem Zusammenhang ist eine relationale Variante des Intuitionismus. Was wir anderen schulden, verdankt sich gemäß dieser Position Wahrheiten, die wir kraft eines Vermögens rationaler Anschauung von Situation zu Situation neu erkennen müssen (vgl. 178). Ohne gegen den Intuitionismus zu argumentieren, neigt Wallace aber einer nicht-intuitionistischen Position zu, die er, Scanlon folgend, moralischen Kontraktualismus nennt (vgl. 179ff.). Dieser besagt, dass es einen allgemeinen Prozess der Rechtfertigung von moralischen Ansprüchen auf der Grundlage von Überzeugungen gibt, der sich folgendermaßen beschreiben lässt: Es gilt zu fragen, ob die von einer Handlung betroffenen Individuen auf der Grundlage ihrer persönlichen Interessen vernünftige Einwände gegen allgemeine Handlungsprinzipien vorbringen könnten, die besagte Handlung erlauben würden. Gibt es solche Einwände, dann hat man eine auf diese Personen gerichtete Pflicht, nicht so zu handeln, und diese Personen haben einen Anspruch darauf, nicht so behandelt zu werden. So könnten z.B. Personen, denen ein Versprechen gegeben wurde, auf Grundlage ihrer persönlichen Interessen vernünftige Einwände gegen Handlungsprinzipien vorbringen, die es den Personen, die die Versprechen gegeben haben, erlauben würden, ihre Versprechen zu missachten. Gemäß Wallace lässt sich also durch Überlegungen dieser Art zeigen, dass Jakob in der oben beschriebenen Situation Lea schuldet, ihr beim Umziehen zu helfen, und Lea umgekehrt einen Anspruch gegenüber Jakob hat, dass er sein Versprechen hält.

In Kapitel 6 behandelt Wallace schließlich einige „praktische Konsequenzen“, die sich aus seiner relationalen Interpretation von interpersonaler Moral ergeben. Wallace geht dabei insbesondere auf moralische Intuitionen ein, von denen nicht ohne weiteres klar ist, wie sie sich mit der relationalen Interpretation in Einklang bringen lassen. Besonders problematisch sind dabei Intuitionen, wonach in bestimmten Handlungssituationen Zahlen moralisch ausschlaggebend sind (vgl. 210ff.). Müssen wir uns z.B. entscheiden, entweder eine Person oder fünf Personen vor dem sicheren Tod zu retten, dann scheint es moralisch geboten, letzteres zu tun. Im Lichte der relationalen Interpretation ist aber nicht klar, warum das so sein sollte. Der Grund hierfür ist, dass gemäß der relationalen Interpretation letztlich die individuellen Ansprüche konkreter Personen gegenüber anderen Personen moralisch zählen und in besagtem Szenario alle betroffenen Personen uns gegenüber den gleichen individuellen Anspruch haben, gerettet zu werden. Eine Weise, wie Wallace der Intuition, dass Zahlen moralisch relevant sein können, dann dennoch gerecht zu werden versucht, ist durch sogenannte ex ante Forderungen (vgl. 216ff.). Die Idee ist, dass sich kraft des moralischen Kontraktualismus (vgl. Kapitel 5) Prinzipien rechtfertigen lassen, wonach im Falle solcher Extremsituationen Zahlen den Ausschlag geben können. Solche Prinzipien würden nämlich im Voraus die Chance jedes einzelnen Individuums erhöhen – sollte es in eine solche Situation geraten –, gerettet zu werden. Eine andere Option, die Wallace in diesem Zusammenhang in den Blick nimmt, ist, dass Überlegungen, wonach menschliches Wohlergehen zu maximieren ist, eine genuine und damit nicht-moralische Quelle präsumtiver Forderungen darstellen (vgl. 229ff.). Dies hätte zur Folge, dass es unauflösbare praktische Dilemmata zwischen Moral und menschlichem Wohlergehen geben könnte. Dass Wallace diese Möglichkeit nicht grundsätzlich ablehnt, unterstreicht abschließend nochmals einen der zentralen Gedanken seines Buches: Interpersonale Moral ist eine Quelle von praktischen Gründen mit deontischer Struktur, d.h. von Gründen, die sich weder mit anderen Überlegungen verrechnen lassen noch von diesen ausgestochen werden können.

Wie diese zusammenfassende Darstellung andeutet, ist The Moral Nexus ein umfangreiches und komplexes Buch, dessen Facettenreichtum ich hier nicht annähernd gerecht werden kann. Eine der großen Stärken des Buches besteht in meinen Augen in drei eng miteinander zusammenhängenden Punkten. Zum einen gelingt es Wallace, bestimmte grundlegende Eigenschaften moralischer Forderungen zu identifizieren, die eine befriedigende philosophische Theorie erklären können sollte. Ich denke hier vor allem an das, was Wallace die „deontische Struktur“ und die „soziale Dimension“ moralischer Forderungen nennt. Wallace’ Buch ist daher allein schon deshalb eine gewinnbringende Lektüre, weil es präzise aufzeigt, was eine Theorie moralischer Forderungen leisten muss. Zum zweiten entwickelt Wallace auf der Grundlage dieser Eigenschaften triftige Argumente gegen Positionen, die dem interpersonalen Charakter moralischer Forderungen nicht hinreichend Rechnung tragen. Besonders überzeugend ist hier seine Kritik an sogenannten individualistischen Konzeptionen des moralisch Richtigen. Wie oben erläutert, entspringen moralische Forderungen gemäß solchen Positionen nicht aus einem bestimmten Nexus zwischen Personen, sondern aus dem Verhältnis zwischen Handelnden und nichtpersonalen Standards des moralisch Richtigen. Teilt man nun die plausible These, dass die soziale Dimension, wie Wallace sie in Kapitel 3 erläutert, moralische Forderungen wesentlich charakterisiert, dann scheint mir sein Punkt treffend, dass individualistische Konzeptionen an diesem Aspekt des Moralischen scheitern müssen. Die Konsequenzen dieses Ergebnisses wären weitreichend. So würde es z.B. zeigen, dass der Utilitarismus als Erläuterung moralischer Forderungen scheitert. Zum dritten gelingt es Wallace vor dem Hintergrund der ersten beiden Punkte, die relationale Interpretation von interpersonaler Moral insofern als vielversprechende Alternative darzustellen, als dass sie die von ihm identifizierten zentralen Eigenschaften moralischer Forderungen zu erklären verspricht. Damit lässt sich unter dem Strich festhalten, dass Wallace’ Buch ein überzeugendes, in jedem Fall aber bedenkenswertes Plädoyer für die relationale Interpretation moralischer Forderungen ist.

Was die metaethischen Folgerungen angeht, die Wallace aus der relationalen Interpretation moralischer Forderungen ziehen will, lässt sein Buch in meinen Augen jedoch einige Fragen offen. Wie oben besprochen, argumentiert Wallace dafür, dass die relationale Konzeption mit sogenannten individualistischen Konzeptionen des Normativen unvereinbar ist. Solche Konzeptionen verankern die für partikulare Akteure einschlägigen normativen Gründe in der einen oder anderen Weise in ihren subjektiven und damit kontingenten Einstellungen (vgl. 126). Solche individualistischen Konzeptionen haben laut Wallace zur Folge, dass ein moralischer Nexus nur zwischen Akteuren bestehen kann, deren individuelle psychologische Profile durch vorgängige Interaktionen aufeinander abgestimmt wurden. Dies würde aber der Idee des moralischen Nexus als einer selbstständigen, d.h. von vorgängigen Interaktionen gerade unabhängigen, Domäne moralischer Forderungen und Ansprüche zuwiderlaufen. Da Wallace sowohl humeanische als auch konstruktivistische Positionen als individualistische Konzeptionen des Normativen begreift, läuft das in seinen Augen letztlich darauf hinaus, dass die relationale Interpretation von Moral durch einen normativen Realismus zu fundieren ist.

Ich denke allerdings, dass dieses Argument nicht schlüssig ist und die metaethischen Voraussetzungen bzw. Implikationen der relationalen Interpretation von Moral damit weit weniger eindeutig sind, als Wallace es darstellt. Denn selbst wenn man mit Wallace’ plausibler These mitgeht, dass die relationale Interpretation von Moral eine antiindividualistische Konzeption des Normativen voraussetzt, scheint mir das keine hinreichende Grundlage, um die Vereinbarkeit des moralischen Nexus als selbstständiger normativer Domäne mit bestimmten konstruktivistischen Positionen auszuschließen. Ich denke hier insbesondere an konstruktivistische Positionen, die in der Tradition Kants stehen. So verankern kantische Positionen – wie z.B. die Position von Christine Korsgaard (vgl. Korsgaard 1996; 2009) – die für partikulare Akteure einschlägigen Gründe nämlich gerade nicht in ihren subjektiven und damit kontingenten praktischen Einstellungen. Praktische Gründe sind gemäß kantischen Positionen vielmehr – wie man es ausdrücken kann – im Vermögen verankert, überhaupt praktische Einstellungen zu haben bzw. überhaupt zu handeln und damit ein Akteur zu sein. Damit sind praktische Gründe gemäß solchen Positionen aber letztlich in etwas verankert, das von allen Akteuren wesentlich oder immer schon geteilt wird, nämlich in dem Vermögen, das sie zuallererst zu Handelnden macht (kantisch formuliert: in ihrer praktischen Vernunft). Positionen, die sich einem kantischen Konstruktivismus verschreiben, vertreten – zumindest ihrem Anspruch nach – also gerade keine individualistische Konzeption des Normativen in Wallace’ Sinn.

Wenn der kantische Konstruktivismus nun aber keine individualistische Konzeption des Normativen vertritt, weil er praktische Gründe gerade nicht in den subjektiven Einstellungen partikularer Akteure und damit in ihren individuellen psychologischen Profilen verankert, dann hat das folgende Konsequenz: Das Argument, das Wallace im Lichte der Idee von Moral als einer selbstständigen Domäne relationaler Forderungen und Ansprüche gegen individualistische Konzeptionen entwickelt, funktioniert nicht ohne Weiteres gegen einen Konstruktivismus kantischer Spielart. Und zwar schlicht und einfach deshalb, weil der kantische Konstruktivismus nicht darauf festgelegt ist, dass es nur dann einen normativen moralischen Nexus zwischen Akteuren geben kann, wenn sie ihre individuellen psychologischen Profile vorgängig aufeinander abgestimmt haben. Selbst wenn man Wallace’ These zustimmt, dass relationale Moral als selbstständige normative Domäne einen Antiindividualismus des Normativen voraussetzt, ist sein Argument gegen den kantischen Konstruktivismus also nicht schlüssig. Und zwar deshalb, weil es auf der falschen Prämisse beruht, dass der kantische Konstruktivismus auf einen normativen Individualismus festgelegt ist.

Dies lässt freilich die Frage offen, ob ein kantischer Konstruktivismus à la Korsgaard letztlich in der Lage ist, eine relationale Interpretation von Moral, wie sie Wallace in seinem Buch entwickelt, einzuholen. Zusätzlich bleibt die Frage offen, ob der kantische Konstruktivismus nicht an anderen Fronten unüberwindbare Probleme hat. So führt Wallace in seinem Buch einige der bekannten Schwierigkeiten an, mit denen Positionen, die in der Tradition Kants stehen, konfrontiert sind. Hierzu gehört die Schwierigkeit, praktische Normativität in einem substanziellen Sinn aus der bloßen Struktur vernünftigen Handelns abzuleiten (vgl. 132). Oder auch das Problem, die Möglichkeit der Verletzung von Normen oder Prinzipien verständlich zu machen, die in der Struktur vernünftigen Handelns angelegt und damit konstitutiv für dieses sind (vgl. 32-33).

Unabhängig von diesen weiterführenden Fragen ist der entscheidende Punkt an dieser Stelle aber folgender: Was die Überlegungen von Wallace in The Moral Nexus angeht, bleibt es letztlich eine offene Frage, ob die Beschreibung von Moral als selbstständige Domäne wesentlich relationaler Forderungen tatsächlich auf den von Wallace präferierten metaethischen Realismus hinausläuft oder ob sie metaethisch nicht auch auf andere Weise – z.B. im Sinne des kantischen Konstruktivismus – fundiert werden kann. In anderen Worten: Die metaethischen Voraussetzungen bzw. Konsequenzen der relationalen Interpretation von Moral sind in meinen Augen weit weniger eindeutig, als Wallace es in seinem alles in allem beeindruckenden Buch darstellt.

Literatur

Gilbert, Margaret. Joint Commitment: How We Make the Social World. Oxford University Press, 2013.

Korsgaard, Christine. The Sources of Normativity. Cambridge University Press, 1996.

Korsgaard, Christine. Self-Constitution – Agency, Identity, and Integrity. Harvard University Press, 2009.

Scanlon, T.M. What We Owe to Each Other. Harvard University Press, 1998.

Thompson, Michael. „What is it to wrong someone? A puzzle about justice“, in: Reason and Value: Themes from the Moral Philosophy of Joseph Raz. Hrsg. R. Jay Wallace et al. Oxford University Press, 333-384, 2004.

Wallace, R. Jay. Normativity and the Will – Selected Papers on Moral Psychology and Practical Reason. Oxford University Press, 2006.

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