Debray, Eva/Lordon, Frédéric/Ong-Van-Cung, Kim Sang: Spinoza et les passions du social. Paris: Éditions Amsterdam. 355 Seiten. [978-2-35480-166-3]

Rezensiert von Daniel Bella (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Manchmal mag es scheinen, als seien theoretische Innovationen einfach dadurch entstanden, dass eine Fußnote auf den Kopf gestellt wurde; so etwa jene lapidare Anmerkung aus Niklas Luhmanns 1988 erschienenem Werk Die Wirtschaft der Gesellschaft: „Nicht unbedingt ein neuer Gedanke. Siehe z.B. Spinoza, Ethica III, Prop. 31 und 32, zit. nach Opera, Bd. II, Darmstadt 1967, S. 304ff.“ (Luhmann 2015: 183, Fn.12). Der Gedanke, auf den sich diese Fußnote bezieht, stammt unter anderem von den Ökonomen Michel Aglietta und André Orléan, die versuchen, die Wertbildung durch eine mimetische Ansteckung zwischen den Handeltreibenden zu erklären (vgl. hierzu auch Luhmann 2015: 103).

20 Jahre später erscheint in Frankreich ein Sammelband mit dem Titel Spinoza et les sciences sociales. In ihm findet sich ein Beitrag, in dem André Orléan und Frédéric Lordon ihren ökonomischen Ansatz explizit auf Spinoza beziehen. Gleichzeitig plädieren die Herausgeber Frédéric Lordon und Yves Citton dafür, die Philosophie des niederländischen Philosophen als neues Paradigma in die Sozialwissenschaften einzutragen. Um diesen Brückenschlag zu plausibilisieren, enthält der Band einerseits eine auf sozialwissenschaftliche Perspektiven zugeschnittene Rekonstruktion von Spinozas Denken. Andererseits gleichen verschiedene Artikel diesen Denkrahmen mit den in Frankreich dominierenden Theorien des Sozialen – namentlich Tarde, Bourdieu und Foucault – ab.

Mit Spinoza et les passions du social liegt nun eine Fortsetzung des vor über zehn Jahren inaugurierten Projekts vor. Der neue Band verfolgt dabei das Ziel, den Ansatz unter dem Vorzeichen einer thematischen Zuspitzung weiter auszuführen. Gegenstand der Beiträge ist nun nicht mehr die Beziehung Spinozas zu den Sozialwissenschaften im Allgemeinen, sondern die Bearbeitung eines Phänomens, das im Titel als „die Leidenschaften des Sozialen (les passions du social)“ bezeichnet wird. Diese Benennung mag all diejenigen überraschen, die Spinozas Philosophie insbesondere mit dem Begriff des Affekts in Verbindung bringen. Anders als es zunächst scheinen mag, verlassen die Autor*innen mit ihrer Entscheidung für den Terminus Leidenschaft allerdings gerade nicht das Feld spinozistischer Konzepte, sondern präzisieren durch ihn den Zugriff auf den Begriff des Affekts.

Im Unterschied zu den ihnen entgegengesetzten actiones bezeichnen die passiones bei Spinoza einen affektiven Zustand, der zumindest zum Teil ‚von außen’ bestimmt ist. Indem die Herausgebenden auf diese interdependente Seite des Affekts den Schwerpunkt legen, kann ihre Beschreibung des Sozialen nicht von unabhängigen Individuen ausgehen. Stattdessen besteht der Anspruch darin, aus Spinozas Philosophie ein Theorieangebot abzuleiten, welches die Gegenstände der Sozialwissenschaften jenseits der Alternativen von Individualismus oder Holismus beschreibt. Auf der Ebene der Individuen bedeutet dies, dass ihre Handlungen nicht einfach durch die Unterstellung von Rationalität erklärt werden können. Vielmehr schlüsselt eine an den Affekten orientierte Sozialwissenschaft gerade auch Handlungsmuster auf, die für andere Theorien widersprüchlich erscheinen müssen. Obgleich der relationale Charakter von Empfindungen und Handlungen sehr stark betont wird, bedeutet dies andererseits jedoch nicht, dass Individuen auf den Gesamtzusammenhang reduziert werden können. Beide stehen vielmehr in einem wechselseitigen Verhältnis. Das Soziale ergibt sich aus den Beziehungen der Individuen zueinander, die wiederum innerhalb dieser Beziehungen dasjenige werden, was sie sind.

Wie bereits 2008 ist auch für die Explikation dieses Theorierahmens im aktuellen Sammelband die Interpretation Alexandre Matherons verbindlich, der im Januar dieses Jahres verstoben ist. Für eine neue Grundlegung der Sozialwissenschaften ist Matherons Interpretation in hohem Maße anschlussfähig, weil dieser bei seiner Lektüre von Spinozas Ethik die Bestimmung des Menschen ins Zentrum stellt. Sein Vorhaben setzt also nicht mit dem ersten Teil ein, sondern erschließt sich Spinozas Philosophie von demjenigen Strukturtitel aus, der die ontologische und die sozial-anthropologische Ebene miteinander verklammert. Der Name für diese Struktur ist conatus und bezeichnet zunächst allgemein das Streben, das eigene Existieren aufrechtzuerhalten (vgl. Spinoza 2010 [1677]: 239; E3prop6). Handelt es sich um den conatus des Menschen, so hat dieser einen konkreten Inhalt, den Spinoza als Begierde (cupiditas) bezeichnet. Der entscheidende Punkt ist nun, dass sich der Inhalt der Begierde nicht durch eine autonome Reflexion des Individuums auf seine Präferenzen ergibt. Konträr: Was ein Individuum erstrebt ist abhängig davon, was andere Individuen, mit denen es in einem affektiven Zusammenhang steht, erstreben.

Dieser Ansatz ist in hohem Grad dynamisch, da die affektiven Beziehungen ihrem emotionalen Inhalt nach veränderbar, auf andere Personen erweiterbar und steigerbar sind. Citton spricht in diesem Zusammenhang von affektiver Ansteckung und führt dieses Prinzip an dem Lehrsatz 22 aus dem dritten Teil von Spinozas Ethik aus (vgl. hierzu Citton/Lordon 2008: 121): Bilde ich mir ein, dass X für die Freude von Y verantwortlich ist, dann bin ich, vorausgesetzt ich liebe Y, auch X mit einem Affekt der Liebe verbunden. Wichtig ist dabei, dass das Soziale nicht nur aus Individuen und deren Beziehungen zueinander besteht. Vielmehr erfahren die Individuen diese Beziehungen meist durch die Vermittlung von Institutionen. Geld, Schule und Regierungen sind Beispiele für solche Institutionen, die ihren gesellschaftlichen Einfluss dadurch ausüben können, dass die Mitglieder einer Gesellschaft zu ihnen in einem affektiven Verhältnis stehen.

Die Beiträge des neuen Sammelbandes entwickeln diese Grundüberlegungen in unterschiedlicher Weise weiter. Dabei haben die Herausgebenden die Artikel durch die Einteilung in drei Überkapitel grob geordnet. Im Verlauf der Lektüre weitet sich der Gegenstandsbereich von der Beschreibung des individuellen conatus über die Struktur der Institutionen bis hin zu historischen Perspektiven auf. Beim Band aus dem Jahr 2008 waren Lordon und Citton für mehr als die Hälfte des Textes verantwortlich, nun ist der Umfang zwischen den elf Beiträgen deutlich ausgeglichener. Auch inhaltlich wird das Feld erweitert, da einige Artikel Bezüge auf Autoren vornehmen, die weniger offensichtlich mit Spinoza in Verbindung stehen, etwa Jean-Paul Sartre oder Philip Pettit.

Eine weitere Geste der Öffnung besteht darin, dass den Band eine französische Übersetzung von Judith Butlers Artikel „The Desire to Live: Spinoza’s Ethics Under Pressure“ eröffnet. Zehn Jahre zuvor haben Lordon und Citton in ihrer Einleitung noch deutlich gemacht, dass Butlers Spinozarezeption quer zu ihren eignen Annahmen liege (vgl. hierzu Citton/Lordon 2008: 43). Dass nun ein Text Butlers aus dem Jahre 2006 aufgenommen wurde, lässt aufmerken. Verdienstvoll ist zudem, dass in einem anschließenden Artikel Butlers Spinozarezeption nochmals erläutert wird. Trotz dieser Anstrengungen beziehen sich die folgenden Beiträge höchstens im Vorbeigehen auf Butler und ihre Referenzautor*innen. Butlers Aufsatz wirkt damit wie ein Kontrastmittel, durch das sich der interpretative Rahmen der anderen Beiträge des Bandes deutlich abzeichnet.

Mindestens drei Artikel nutzen den Begriff des conatus als Angebot, um bereits bestehende Beschreibungen des Sozialen zu fundieren. So bringt Kim Sang Ong-Van-Cung etwa Sartre und Spinoza in ein Spannungsfeld und arbeitet Gemeinsamkeiten beider Ansätze heraus. Christophe Miqueu versucht mit Rückgriff auf eine Beschreibung sozialer Affektivität zu zeigen, dass Varianten des Republikanismus, die lediglich die Abwesenheit von Herrschaft fordern, zu kurz greifen (vgl. 169). Sie übersehen, dass Aushandlungsprozesse im Bereich des Politischen notwendig einen agonalen Charakter besitzen. Selbst wenn die Menge eine Organisationsform im Sinne des Republikanismus ausbilden sollte, wird ihre Macht nicht einfach durch ein Gesetz, das gegenseitige Beherrschung untersagt, absorbiert. „Das Bewahren der Menge in ihrer Macht bezeichnet deshalb den conatus des republikanischen Staates und der Fortschritt des republikanischen Rechts in einem bestimmten Staat ist nichts anderes als die Steigerung der Macht der Menge.“ (180)1

Eva Debray schließlich argumentiert, dass sich René Girards Begriff des désir durch Spinozas Begriff conatus besser erklären lässt (vgl. 149). Damit rechtfertigt sie nochmals direkt am Material den Schwenk von Girard zu Spinoza, den ja insbesondere Lordon und Orléan mit Hinblick auf ihre ökonomischen Theorien vollzogen haben. Ein besonderes Interesse verdient Debrays Beitrag dadurch, dass sie als einzige die Heterogenität des gemeinsamen Bezugspunktes deutlich macht. Denn Matherons Theorie ist alles andere als einheitlich, was sich besonders daran zeigt, dass er ab den 1980er Jahren sein Projekt vom Grundaffekt der Freude auf denjenigen der Furcht verschoben hat (vgl. hierzu Diefenbach 2018: 317ff.). Der Vorschlag Debrays, diese Beschreibung um das Begehren nach Ruhm anzureichern, ist deshalb bedenkenswert, da Ruhm eine durch andere vermittelte positive Beziehung zu sich selbst ist, in die die Möglichkeit der Entkopplung vom Urteil der anderen (Hochmut) eingeschrieben ist.

Beziehen sich die genannten Artikel konkret auf einzelne Autor*innen, so nehmen die letzten drei Beiträge des Bandes den Fluchtpunkt anthropologischer Forschung ein. Der Ausgangspunkt ist dabei weniger die generelle Explikation der Affektdynamik in Spinozas Ethik. Vielmehr beziehen sich die Autoren auf Spinozas historische Untersuchung des Hebräischen Staates in seinem Theologisch-politischen Traktat. Nicolas Israël liefert eine konzise Rekonstruktion dieses Teils von Spinozas Werk. Pierre-François Moreau legt dar, inwiefern sich mit dem Begriff ingenium die Unterschiede zwischen Völkern fassen lassen, auf die eine naturrechtliche Tradition keinen Zugriff hat. Dabei muss das ingenium als Träger einer Art individueller Biographie verstanden werden, in das die unterschiedlichen Erfahrungen eingespeichert sind (vgl. 321). Pascal Séverac schließt direkt an Moreau an und widmet sich der Frage, wie es sein kann, dass sich ein dominanter Affekt in einem Volk herausbildet. Dazu bringt er seine Überlegungen mit der Mentalitätsgeschichte der Annales-Schule zusammen.

All diese Beiträge sind schlüssig durchargumentiert. Allerdings beschränken sie sich zumeist darauf, bereits vorhandene Texte und Positionen zu rekonstruieren. Nur Lordons und Cittons Beiträge besitzen in besonderer Weise einen programmatischen Charakter. An ihnen lassen sich die Konsequenzen des Eintrags von Spinozas Philosophie in die Sozialwissenschaften am besten beurteilen. Beide Autoren plädieren dafür, eine Beschreibung, die das Soziale als einen Gesamtzusammenhang unterstellt, nicht aufzugeben. Gleichzeitig versuchen sie herauszuarbeiten, auf welche Weise lokale und globale Ereignisse miteinander verwoben sind. Citton konzentriert sich hierfür insbesondere darauf, wie die Medien mit ihren Berichten Affizierung in der Gesellschaft organisieren und verstärken.

So argumentiert Citton, dass eine spinozistische Sozialwissenschaft Ressourcen liefert, um Mikro- und Makrosoziologie miteinander zu verbinden. Dabei unterscheidet er die zwei Ebenen der statistischen Zählung (compte) und der narrativen Erzählung (conte), die beide gleichermaßen Veränderungen in den affektiven Bezügen der Gesellschaft hervorrufen können. Während die Erzählung auf die Darstellung einzelner Sachverhalte abhebt, nimmt die Zählung die Gesellschaft als Ganzes in den Blick. Hat allein die Ebene individueller Erzählungen Gültigkeit, dann können Phänomene, die sich nur auf einer Makroperspektive erschließen, weder beobachtet noch diskutiert werden. Der Klimawandel etwa lässt sich aus einer lokalen Perspektive heraus nur unzureichend erfahren, was politische Konsequenzen hat. „Die Herstellung statistischer Daten ermöglicht es mir, eine katastrophale Entwicklung vorauszusehen, zu weit entfernt, um von meinem lokalen Standpunkt aus bemerkt zu werden, deren Bedrohung mich aber dazu zwingt, mein Verhalten bereits hier und jetzt zu verändern.“ (276) Citton schwebt dabei eine Verschränkung der beiden Zugriffsweisen auf unsere soziale Welt vor, die er als unterschiedliche Figuren bezeichnet. Beide Perspektiven korrigieren sich gegenseitig, indem sie jeweils auf blinde Flecke aufmerksam machen. Da freilich auch beide Sichtweisen nur partiell sind, bedarf es für Citton zusätzlich einer Übersetzerin, die auf blinde Flecken in beiden Bereichen aufmerksam macht.

Auch Lordon geht in seinem Beitrag davon aus, dass sich das Soziale als Ganzes nicht von einem Standpunkt innerhalb des Sozialen aus erkennen lässt. Denn Theorien und Beschreibungen des Sozialen sind selbst wiederum ein Teil des Sozialen. Gleichwohl hält er aber daran fest, dass – zumindest konzeptuell – der Bereich des Sozialen als ein Ganzes von Beziehungen betrachtet werden muss (vgl. 118). Lordon expliziert daher die Annahme, dass es gerade ein Mangel an Determinismus in der Theorie Bourdieus ist, der für ihr Defizit bei der Erklärung von Aufständen und Revolutionen verantwortlich ist. Eine deterministische Theorie darf – so der Einsatz – nicht darauf hinauslaufen, Veränderungen im Bereich des Sozialen auszuschließen. Diese Veränderungen können nicht allein durch den spontanen Entschluss einzelner Individuen erklärt werden, sondern müssen mit Rückgriff auf den Zusammenhang des Sozialen beschrieben werden. „In Wirklichkeit ist das Soziale überall. Es befindet sich nicht nur zwischen den Individuen, sondern in ihnen. Eine Sozialwissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes ist eine Wissenschaft, die diese Eigenschaft vollkommen anerkennt.“ (111)

Wie kann nun aber auf dieser Grundlage der Tatsache Rechnung getragen werden, dass selbst Menschen, die aus sehr ähnlichen affektiven Umfeldern stammen, unterschiedliche Verhaltensweisen ausprägen? Lordon bringt für seine Erklärung den Begriff ingenium ins Spiel, von dem – wie bereits erwähnt – auch Moreau in seinem Beitrag systematischen Gebrauch macht. Die Idee dahinter ist, dass vergangene Affektionen die zukünftige Affizierbarkeit eines Menschen steuern. Welche Affizierungen von einzelnen Menschen erfahren werden und welche Emotionen sie auslösen, ist damit aus dem Zusammenspiel von vergangenen und gegenwärtigen Affizierungserfahrungen ableitbar. „Die Individuen erfahren niemals vollkommen dieselben Affektionen, deshalb werden sie nie vollkommen in gleichartige Bahnen gelenkt und ihre Affizierbarkeiten (ihre ingenia) sind deshalb nie vollständig gleich – hier öffnet sich die Möglichkeit, dass manche darauf ‚vorbereitet’ sind durch Begegnungen affiziert zu werden, welche die anderen nicht machen werden oder die sie gleichgültig lassen.“ (114)

Lordons Ausführungen wären deutlicher ausgefallen, wenn er in dieser Frage auf den Vorgängerband verwiesen hätte. Dort bezieht sich Citton auf den 14. Lehrsatz im dritten Buch von Spinozas Ethik, um zu zeigen, dass die Erinnerung eine wichtige Rolle für die Varianz der Affekte spielt (vgl. Citton/Lordon 2008: 132f.). Spinoza formuliert dort: „Wenn der Geist einmal mit zwei Affekten zugleich affiziert worden ist, wird er später, wenn er mit einem von ihnen affiziert wird, auch mit dem anderen affiziert werden.“ (Spinoza 2010 [1677]: 249; E3prop14) Diese und weitere Lehrsätze hätten Lordon dazu dienen können, genauer diejenigen Stellschrauben aufzuzeigen, die für die unterschiedlichen Affizierbarkeiten verantwortlich sind. So bleibt der Begründungszusammenhang im Dunkeln, zumal Lordon seinen Ansatz an Ort und Stelle einseitiger darstellt, als er ihn selbst anderswo bereits ausgeführt hat. So fehlt etwa der Hinweis, dass gegenwärtige Erfahrungen, die einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, die Strukturen der ingenia tiefgreifend verändern können (vgl. Lordon 2016: 176) und somit durchaus Sprünge im affektiven Gefüge möglich sind. Da Lordon diese älteren Theoriestücke nicht mehr aufgreift, stellt sich die Frage, inwiefern er das Agens für Veränderungen von Affekten im Bereich des Sozialen immer auf der Seite der Institutionen verorten muss. Denn zumindest stellenweise liest sich seine Argumentation so, als müssten die vorhandenen Institutionen selbst einen Beitrag dazu leisten, dass Empörung über sie entsteht (vgl. insbesondere 122). Das würde bedeuten, dass die Existenz einer Institution nie vollständig durch äußere Ursachen beendet werden kann und damit über einen Rest verfügt, der nicht in der Relationalität aufgeht.

Abschließend sei auf den Artikel von Nicola Marcucci eingegangen, der die Rezeption Spinozas im Rahmen der französischen Soziologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht. Marcucci zeigt detailliert, wie Spinoza dafür eingesetzt wurde, die Dichotomie zwischen dem Notwendigkeitscharakter wissenschaftlicher Erklärungen und dem Postulat einer persönlichen Freiheit der Individuen aufzulösen. Marcucci schließt somit einerseits eine Lücke, die im Band von 2008 als Desiderat ausgewiesen wurde (vgl. Citton/Lordon 2008: 37f.). Sein Beitrag lässt sich andererseits aber auch als ein Historisierungsangebot für die im Buch entwickelten Ansätze verstehen. Dies schließt die Frage ein, in welche Richtung der Ansatz, Spinoza für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen, weiterverfolgt werden kann. Als Mitherausgeber des Bandes Spinoza e la storia (2019) hat Marcucci vielleicht bereits den Teil einer Antwort geben, die mit darin besteht, Spinoza im Anschluss an Althusser als einen Denker radikaler Temporalität zu verstehen.

Anders als der Vorgängerband liefert Spinoza et les passions du social keine neuen Ansätze, dafür aber Anwendungen des Theorieprogramms auf bisher noch nicht beachtete Bereiche. Dabei muss überraschen, dass die Differenzierungsleistungen des Vorgängerprojekts an vielen Punkten unbeachtet bleiben. Ein Beispiel für solch ein „loses Ende“ ist Cittons Hinweis darauf, dass die Affekte bei Spinoza maßgeblich differentiell sind (vgl. Citton/Lordon 2008: 110). Affektionen sind damit nur spürbar, wenn sie eine Differenz in der Handlungsmacht eines Individuums erzeugen. Auf den Bereich des Sozialen übertragen bedeutet dies, dass viel von dem, womit die Menschen affiziert werden und was sich in ihrem ingenium sedimentiert, für sie nicht spürbar ist. Hieraus ergeben sich Anschlussmöglichkeiten an einen ideologiekritischen Ansatz, der von der Differenz zwischen den Erfahrungen und den ihnen zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen ausgeht. In keinem der Artikel aus dem neuen Band werden die Konsequenzen aus dieser Feststellung gezogen.

Eine Lektüre des vorliegenden Sammelbandes ist dennoch lohnend. Gerade in seiner Vielfältigkeit gibt er einen guten Überblick über den Stand eines Theorieprojekts, das sich sehr nah an Spinozas Text entfaltet und vielleicht gerade deshalb teilweise spektakulärere Interpretationen von Gilles Deleuze oder Antonio Negri kaum berücksichtigt. Gleichzeitig dokumentiert der Band eine Öffnung hin zu neuen Referenzautor*innen. Die Anschlussmöglichkeiten eines solchen Projektes – insbesondere im Rahmen eines deutschsprachigen Theoriekontextes – sind bisher noch wenig ausgelotet. Und wer weiß, ob nicht auch Luhmann, dessen Fußnote auf das hier vorgestellte Theorieangebot noch keine Wirkung entfalten konnte, ein herausfordernder Bezugspunkt für eine spinozistische Sozialwissenschaft sein könnte.2

Literatur

Citton, Yves, und Frédéric Lordon. Spinoza et les sciences sociales. De la puissance de la multitude à l’économie des affects. Paris: Éditions Amsterdam, 2008.

Diefenbach, Katja. Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie. Wien: Turia+Kant, 2018.

Lordon, Frédéric. Les Affects de la politique. Paris: Le Seuil, 2016.

Luhmann, Niklas. Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2015 [1988].

Marcucci, Nicola, und Zaltier, Cristina. Spinoza e la storia. Castel d’Ario: Negretto Editore, 2019

Spinoza, Benedictus de. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Lateinisch- deutsch. Hamburg: Meiner, 2010 [1677].


  1. Sämtliche Übersetzungen in diesem Text sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, von Daniel Bella.↩︎

  2. Für ihre äußerst hilfreichen Anregungen und Anmerkungen zu einer Rohfassung dieser Rezension möchte ich mich herzlich bei Andrea Blättler bedanken.↩︎

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