Drerup, Johannes und Gottfried Schweiger (Hrsg.): Handbuch Philosophie der Kindheit. Stuttgart: Metzler 2019. 464 Seiten. [978-3-476-04744-1]

Rezensiert von Jakob Falkinger (Universität Wien)

Was ist die Rolle des Kindes und der Kindheit im philosophischen Diskurs? Welche Implikationen für das ethische und politische Denken hat die Tatsache, dass jeder erwachsene Mensch einmal die besondere und kurze Phase der Kindheit durchlaufen hat? Wie gehen Gesellschaften mit dem erhöhten Schutzbedürfnis von Kindern um? Wo verläuft die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein und kann diese Grenzziehung überhaupt legitim sein? Diesen und vielen anderen ähnlich gelagerten Fragen und Problemstellungen geht das von Johannes Drerup und Gottfried Schweiger herausgegebene Handbuch Philosophie der Kindheit nach. Philosophie der Kindheit ist als philosophische Disziplin im deutschsprachigen Raum noch relativ unbeackert, weswegen vor allem auch Bezüge zu internationalen Debatten hergestellt werden. Dass eine eigenständige Philosophie der Kindheit noch ein derart junges Phänomen ist, hat wohl unter anderem mit der einfachen Tatsache zu tun, dass Fragen der Kindheit und des Kindes ihrem Wesen nach interdisziplinär sind. Für die Herausgeber ist es von eminenter Bedeutung, dass diese Pluralität der Perspektiven und Ansätze alles andere als defizitär ist. Vielmehr ist ihr Ziel, „Vertreter unterschiedlicher Disziplinen und Forschungstraditionen zusammenzubringen, um so potentielle blind spots aufzudecken und unterschiedliche Perspektiven miteinander zu vermitteln“ (4).

In diesem Sinne bietet der Blick auf das Inhaltsverzeichnis (I Einleitung, II Kontexte & Konstellationen, III Grundbegriffe der Philosophie der Kindheit, IV Kindheit und Ethik, V Kindheit und Politik) einen ersten Überblick über den in der Philosophie weitgehend vernachlässigten Themenkomplex Kind und Kindheit. Der erste Abschnitt „Kontexte & Konstellationen“ kann zunächst als ein erster ordnender Versuch gesehen werden, der Komplexität des Themenfeldes beizukommen, indem Kindheit jeweils aus historischer, anthropologischer, ökonomischer, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive erfasst wird: „Kinder und Kindheit betreffende philosophische Fragen treten an allen Stellen in der Wissenschaftslandschaft auf, die sich mit der Biologie, Kultur, Gesellschaft, Geschichte, Bildung und Erziehung der Menschen befassen.“ (4) Darüber hinaus wird auf die prägende Rolle des „New Materialism“ für die aufkommenden Childhood Studies verwiesen und die Frage nach der differenziellen Beziehung von Erwachsenen und Kindern aufgeworfen. Anstatt vorschnell eine allgemeine und eindimensionale Definition von Kind(heit) zu geben, zeichnet sich die Zugangsweise der Herausgeber gerade dadurch aus, dass sie versuchen der Komplexität des Themas Rechnung zu tragen. In diesem Sinne wird Kindheit „nicht an sich, sondern nur als historisch, kulturell und gesellschaftlich je spezifisch gestaltete verfügbar und empirisch rekonstruierbar“ (18), weswegen auch die „Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Institutionalisierungsprozessen von Kindheit in der wohlfahrtsstaatlich verfassten Gesellschaft“ (26) von Interesse ist. Die gesellschaftlich-dynamische Konstitution der Kategorie Kindheit bzw. Subjektform Kind hat unter anderem zur Konsequenz, dass die historische Quellenlage der Kindheitsforschung neu beurteilt wird, da davon ausgegangen werden muss, dass Kinder nur in den seltensten Fällen Autor*innen ihrer eigenen Geschichte waren (15). Diese mehrheitlich interdisziplinären – zumeist sozial- und kulturwissenschaftlichen – Positionen der jüngeren Zeit bieten den theoretischen Rahmen für eine Reflexion auf Grundbegriffe einer Philosophie der Kindheit.

Auf wichtige Grundzüge und zentrale theoretische Begriffe – von Autonomie über Kultur, Lehren und Lernen bis hin zu Verletzbarkeit und Würde – wird von den einschlägigen Wissenschaftler*innen und Expert*innen immer wieder zurückgegriffen. Zunächst erscheint die Zusammenstellung etwas zufällig, sind doch „große“ Begriffe der politischen Philosophie wie Autonomie oder Macht ebenso in diesem Abschnitt versammelt wie Themen aus dem angewandten Bereich, zum Beispiel „Lehren und Lernen“, „Elternschaft“, oder „Philosophieren mit Kindern“. Daran wird der Anspruch der Herausgeber deutlich, ein möglichst breit gefächertes Bild von den aktuellen Debatten und Diskursen nachzuzeichnen. Nahezu alle der besprochenen Grundbegriffe verweisen auf zentrale Positionen innerhalb philosophischer Traditionslinien und öffnen gleichzeitig Anknüpfungspunkte für eine philosophische Perspektive auf das Kind und die Kindheit. So müssen, wie Monika Betzler ausführt, etwa in der Diskussion des Begriffs der Autonomie (61–69) im Kontext einer „Philosophie der Kindheit“ andere Aspekte gewichtet werden, als wenn er ausgehend vom erwachsenen, mündigen Subjekt gedacht wird. Analog verhält es sich mit dem Begriff der Verletzbarkeit (185–190): Weil Kindern prima facie eine spezifische Form der Vulnerabilität zukommt bzw. Kinder als besonders vulnerabel gesehen werden können, wie Claudia Wiesemann in ihrem Beitrag erläutert, erfährt die Diskussion über den Begriff eine Dynamisierung.

Es kann durchaus als ein das Buch übergreifendes Moment erkannt werden, dass das Kind als Grenze und Kriterium dieser Begrifflichkeiten fungiert. In diesem Sinne werden Begriffe gleichermaßen entgrenzt und in ihre Schranken gewiesen. Darüber hinaus kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Perspektive der Philosophie der Kindheit in ihrer Randständigkeit Aspekte an den genannten Begriffen zutage fördert, die ansonsten als selbstverständlich vorausgesetzt, also unhinterfragt bleiben. Eine Reflexion auf Macht, Autonomie und Liebe hat nicht nur für Erwachsene andere Bedeutungen und folgt anderen Regeln als für Kinder, sondern erfordert auch die Anerkennung des Kindes als denkendes Wesen, wie Cornelia Bruell in ihrem Beitrag zum Philosophieren mit Kindern (178–184) deutlich macht. Denn der philosophische Diskurs, an dessen Grenzen das Kind (als konkretes Kind, wie auch als Figur, als Status) situiert ist, ist geprägt von der Vorannahme eines in sich ruhenden, mündigen und souveränen Subjekts. In diesem Sinne können die im Handbuch zusammengestellten Begriffe als eine Einladung gesehen werden, an weiteren philosophischen Problemstellungen eine Sicht anzubringen, die die Philosophie der Kindheit mitberücksichtigt. Die Schwierigkeit liegt wohl darin anzuerkennen, dass die praktisch-philosophische Relevanz dieser Themenfelder stets eines Übersetzungsprozesses bedarf, der es schließlich ermöglichen können soll, die Perspektive der Kindheit adäquat einzuholen. Anders gesagt: Der Anspruch besteht nicht einfach darin, Kind und Kindheit eindeutiger definitorisch festschreiben zu können, sondern eine kindheitsspezifische Perspektive ohne übermäßigen Paternalismus erst zu ermöglichen.

Damit zeigt das Handbuch vor allem, dass die Ausgangslage für eine Philosophie der Kindheit durchaus paradox ist: Denn einerseits soll sie ein tieferes Verständnis über den Status und das Wesen der Kindheit ermöglichen, ohne bloß über den Gegenstand zu sprechen. Gleichzeitig wird im traditionellen philosophischen Denken, auf dessen Basis sich die Philosophie der Kindheit ebenso bewegt, wie im unmittelbaren, wechselseitigen Austausch zu benachbarten Forschungsgebieten, den Kindern die Diskursfähigkeit weitgehend abgesprochen, und Teilhabe an politischen Entscheidungen zumeist versagt – ihre Stimmen als Expert*innen für ihre jeweiligen spezifischen Lebenslagen bleiben ungehört. Folgt man dieser Linie, lässt sich die Kindheit bzw. das Kind wie ein Forschungsgegenstand unter vielen behandeln und abgrenzen – sein Inhalt ergibt sich aus der distanzierten Beobachtung und Auswertung von Datenmaterial. Die Autor*innen des Handbuches erkennen die (historische) Faktizität und Kontingenz dieser Zugänge und machen gleichermaßen klar, dass es darüber hinaus auch einer kritischen Zuwendung bedarf.

Auf diese eben umrissene und scheinbar unauflösbare Schieflage nimmt das Handbuch besonders in den letzten beiden Kapiteln Bezug, die sich den Themenkomplexen Kindheit und Ethik sowie Kindheit und Politik widmen. In den interessanten und erhellenden Ausführungen wird der Fokus neben theoretischen Debatten, wie dem Wert der Kindheit, dem moralischen Status von Kindern oder Gerechtigkeitsdiskurse, vor allem auf praktische, d. h. anwendungsorientierte, Bereiche gelegt. Hervorzuheben ist, dass die Autor*innen des Handbuchs einen weiten Überblick vor allem über den aktuellen Stand der fachspezifischen sowie der medialen Auseinandersetzung abbilden und insofern komplexe und kontroverse Thematiken ansprechen. Dazu möchte ich beispielsweise auf den Artikel von Anke Dreier-Horning zu Kinderarbeit (295–303) oder den Beitrag von Jörg Tremmel über Gerechtigkeit zwischen den Generationen (371–379) verweisen. Allgemeine Bezüge zur Politischen Philosophie und Theoriebildung wie auch zur Ethik und Moralphilosophie bleiben aufgrund der aktualitätsbezogenen Schwerpunktsetzung weitgehend unbesprochen.

Den Ausgang für die Grundlagen einer Ethik der Kindheit bilden im Handbuch die zentralen Fragestellungen der liberalen Moraltheorie: nach dem Wert und dem moralischen Status von Kindheit/Kindern sowie dem guten Leben. Auch wenn immer wieder kritische Anknüpfungspunkte, etwa unter Bezugnahme auf Care-Ethik (219ff), oder der Problematisierung exkludierender Dynamiken im Zusammenhang mit dem moralischen Status von Kindern (215), hergestellt werden, bleiben die Rahmenbedingungen dafür klassisch liberal geprägt. Die versammelten Perspektiven auf Kind und Kindheit, die vor allem vom liberalen Staats- und Gesellschaftsmodell ausgehen, nehmen jedoch emanzipatorische, radikaldemokratische Sichtweisen und soziale und politische Bewegungen, die dem kapitalistischen Staat kritisch bis ablehnend gegenüber stehen, nicht ausreichend in den Blick. Das bedeutet, dass etwa die Frage nach dem Zusammenhang von Kindheit und Kapitalismus nur am Rande, jedoch nicht als zentrales Moment der Hervorbringung von Kindheit thematisiert werden kann. Hier wäre zu fragen, wie Kindheit in einer nicht-hierarchischen, radikal egalitären Gesellschaft aussehen könnte. Dafür wäre es interessant, feministische Perspektiven in ihrer Opposition zum familialen und patriarchalen Gesellschaftssystem stärker zu Wort kommen zu lassen. Insofern würden diese Aspekte es erfordern, marxistische und feministische Theorien und vor allem auch Praxiserfahrungen verstärkt in die philosophische Reflexion über Kinder miteinzubeziehen.

Auch die Frage nach dem Zusammenhang von Politik und Kindheit lässt sich unter einem strukturell ähnlichen Gesichtspunkt betrachten: Ausgangspunkt für die Untersuchung des Zusammenhangs von Kindheit und Politik ist für die Herausgeber die UN-Kinderrechtskonvention, deren Ratifizierung nun 30 Jahre zurückliegt. Politik, und damit auch eine mögliche Politik der Kindheit, wird damit ausgehend von ihrer rechtstaatlichen Rahmung gedacht. Die Anerkennung von Kinderrechten wird im Handbuch als Teil der Staatsräson moderner, kapitalistischer Staaten dargestellt, weswegen, und das möchte ich kritisch anmerken, die Möglichkeit einer von der Philosophie der Kindheit kommenden Kritik an der staatlichen politischen Praxis nicht ausreichend in den Blick genommen werden kann. Das Kind als im politischen Diskurs randständiges, noch im Werden begriffenes Wesen böte aber genau dieses Potential, etwa die Ausweitung von Schutzrechten nicht nur für Kinder zu fordern, sondern für alle Lebewesen, ohne wesensmäßige Spezifika des Kindseins auf ein allgemeines Menschsein (das gleichbedeutend mit Erwachsensein wäre) zu reduzieren.

Der Schwierigkeit, ein so umfassendes Themengebiet wie das der Philosophie der Kindheit anzugehen, versuchen die Herausgeber nicht durch einen reduktionistischen Zugang (im Sinne einfacher definitorischer Setzungen z. B. von Kind und Kindheit) beizukommen, sondern indem sie die Vielzahl unterschiedlicher Forschungstätigkeiten und Fragestellungen, die um das Themenfeld kreisen, abbilden. Der Anspruch auf Erhellung von „blinden Flecken“ geschieht auf Kosten einer stärkeren Einbindung und Einbettung kanonischer philosophischer Autor*innen, Werke, Schulen und Traditionen, die Leser*innen eine wichtige systematische Orientierungshilfe bieten könnten. So wirken manche Artikel selbst im Kontext der Kapitel manchmal zusammenhangslos und isoliert, insofern sie sehr spezifische Debatten darstellen. Im bereits oben erwähnten ersten Abschnitt des fünften Kapitels „Politik und Kindheit“, der sich mit der Thematik der Kinder- und Menschenrechte (307ff.) beschäftigt, wird zwar etwa auf die Ratifizierung der Kinderrechte eingegangen, jedoch wird die philosophische Relevanz von zentralen Begriffen wie Recht und Politik und deren Zusammenhang mit dem Problemfeld der Philosophie der Kindheit nicht ausreichend systematisch erläutert. Das ist vor allem einem etwas einengenden politischen Blickwinkel geschuldet, der den Zusammenhang von Kindheit und Politik fast ausschließlich in einem staatsrechtlichen Rahmen verortet und so philosophische Positionen, die eben diesen Rahmen zu übersteigen suchen oder ihn nicht als Ausgangspunkt für das Nachdenken über das Verhältnis von Politik und Kind wählen, kaum zur Sprache kommen. Um die Problematik noch globaler darzustellen, wäre es wichtig, den Fragehorizont zu erweitern: Wie kann eine politische Ethik jenseits rechtsstaatlicher Institutionen auf die spezifische Situation des Kindes antworten? Welche Rolle spielen phänomenologische und ontologische Debatten im Zusammenhang einer Philosophie der Kindheit?

Trotz systematischer Schwachstellen wird erkenntlich, dass das Nachdenken über das Kind bzw. die Kindheit philosophische Theoriebildung seit jeher begleitet. Dabei muss es stets über disziplinäre Grenzen hinausgehen und hat sich deswegen erst in der jüngeren Vergangenheit in Richtung eines eigenständigen Forschungsgebietes entwickelt. Der Interdisziplinarität dieser Thematik wird das Handbuch gerecht, wodurch es ein wichtiges Nachschlagewerk für Pädagog*innen, Bildungswissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen und Berufspraktiker*innen aus angrenzenden Feldern zu werden verspricht. Die umfassenden Literaturangaben bieten eine profunde Ausgangsbasis für vertiefende Lektüre und Diskussion. Philosoph*innen sind gut beraten, dieses Werk zu konsultieren, nicht zuletzt auch dann, wenn Kindheit und die Rolle des Kindes in ihrem Denken bislang eine untergeordnete Rolle gespielt hat.

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