Zeitschrift für philosophische Literatur 8. 2 (2020), 44–54

Scheuerman, William E.: Civil Disobedience, Cambridge: Polity Press 2018. 204 Seiten. [978-1509518630]

Rezensiert von Marco Fatfat (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Mit „zivilem Ungehorsam“ werden, grob gesprochen, moderate, politisch motivierte Handlungen bezeichnet, die sich jenseits oder am Rande des legalen Rahmens bewegen. Hierzu zählen klassischer Weise u.a. Blockadeaktionen oder die Besetzung öffentlicher Einrichtungen. Dass derartige Handlungen in ihrer normativen Bewertung nicht nur von gewöhnlichen Straftaten, sondern auch von anderen gesetzeswidrigen politischen Aktionen wie revolutionären Umsturzversuchen oder terroristischen Anschlägen zu unterscheiden sind, dürfte heute weitgehend unstrittig sein. Vermutlich besteht mittlerweile gar ein vorsichtiger öffentlicher Konsens darüber, dass ziviler Ungehorsam, wie Jürgen Habermas bereits Anfang der 1980er Jahre mit Blick auf die noch junge Bundesrepublik betonte, als Ausdruck einer „reifen politischen Kultur“ (Habermas 1983, 32) anzusehen ist. Die jüngsten, vergleichsweise unaufgeregten Diskussionen um die Aktionen der Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion oder Ende Gelände mögen hierfür als Beleg dienen.

Wie das Konzept des zivilen Ungehorsams im Detail zu verstehen ist, auf welcher theoretischen Grundlage es gerechtfertigt werden kann und welche konkreten Aktionen letztlich als ziviler Ungehorsam anerkannt werden sollten, ist hingegen nicht nur politisch noch immer äußerst umstritten, sondern wird seit einigen Jahren auch in der akademischen Auseinandersetzung wieder verstärkt diskutiert.

Vor diesem Hintergrund besteht das wesentliche Anliegen von William E. Scheuermans Einführungswerk Civil Disobedience darin, der grundsätzlichen Frage nachzugehen, wie das Konzept des zivilen Ungehorsams bestimmt werden sollte, um einen analytisch und normativ hinreichend klaren und überzeugenden Rahmen bieten zu können. In insgesamt sieben Kapiteln zeichnet Scheuerman diesem systematischen Interesse entsprechend chronologisch historische und theoretische Entwicklungen seit Gandhi nach und wendet sich aktuellen Herausforderungen zu, mit denen er das Konzept des zivilen Ungehorsams konfrontiert sieht. Dabei untersucht er insbesondere, inwiefern wesentliche Elemente der äußerst einflussreichen, aber auch vielfach problematisierten Konzeption zivilen Ungehorsams, die John Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975) entworfen hat, der Überarbeitung bedürfen.

Civil Disobedience bietet, so viel sei vorweggeschickt, einen sehr gelungenen, argumentativ klaren Überblick und Einstieg in die Thematik und empfiehlt sich insbesondere dadurch, dass es zahlreiche Brücken zu aktuellen akademischen und politischen Diskussionen schlägt. Das Buch erweist sich somit zweifellos als wichtiger Beitrag zur jüngeren, vor allem in Form von kürzeren Texten vorliegenden Einführungsliteratur (vgl. u.a. Braune 2017; Brownlee 2017; Delmas 2016). Darüber hinaus markiert es einen umsichtigen Diskussionsbeitrag zur neueren Debatte. Grundsätzlich mahnt Scheuerman immer wieder an, das Konzept des zivilen Ungehorsams nicht zu sehr aufzuweichen, und argumentiert, dass insbesondere die rechtsstaatliche Dimension des Begriffs nicht aus den Augen verloren werden sollte.

Im Folgenden möchte ich, der Struktur des Buches folgend, einige der zentralen Punkte Scheuermans ausführlicher erläutern und im Rahmen einiger Anmerkungen kommentieren.

Das religiöse, das liberale und das demokratische Modell zivilen Ungehorsams

In den ersten drei Kapiteln sortiert Scheuerman zahlreiche Positionen, diskutiert deren Stärken und Schwächen und verschafft der Leserin einen hilfreichen Überblick – dass er sich im Rahmen eines Einführungswerks nicht mit allen Autorinnen und Autoren im Detail auseinandersetzen kann, ist verständlich. Genauer unterscheidet Scheuerman zwischen drei Modellen zivilen Ungehorsams, deren Entwicklung er als historischen Lernprozess rekonstruiert: das religiöse, das liberale und das demokratische Modell.

Trotz aller Unterschiede, die sich zwischen diesen Modellen ausmachen lassen, sieht Scheuerman sie durch ein geteiltes Grundverständnis von zivilem Ungehorsam verbunden. So betrachten alle drei Modelle zivilen Ungehorsam grundsätzlich „as a distinctive mode of lawbreaking, predicated, however paradoxically, on a deeper respect for law and legality“ (7). Aktionen zivilen Ungehorsams zielen demnach darauf ab, politische und rechtliche Veränderungen innerhalb eines Staates herbeizuführen, stellen die grundsätzliche Legitimität der rechtsstaatlichen Ordnung jedoch nicht in Frage. Hiermit verbindet sich, so Scheuerman, auch die Forderung, dass sich Aktivistinnen und Aktivisten, um ihre grundsätzliche Achtung für die konstitutionelle Ordnung zum Ausdruck zu bringen, nicht der rechtlichen Verantwortung entziehen dürfen und bereit sein müssen, rechtliche Sanktionen zu akzeptieren.

Darüber hinaus teilen die drei Modelle, wie Scheuerman erklärt, weitere zentrale begriffliche und inhaltliche Gemeinsamkeiten (8, 82ff.). So stimmen diese darin überein, dass sich die besondere Normativität zivilen Ungehorsams aus drei Quellen, nämlich moralischen, politischen und rechtlichen Überlegungen, speist. Scheuerman spricht entsprechend von einer „triple-pronged normativity“ (83). Ferner werden Aktionen zivilen Ungehorsams in allen drei Modellen an bestimmte Bedingungen geknüpft. Sie sollten einen zivilen Charakter aufweisen („civility“), durch gewissenhaftes und öffentliches Vorgehen gekennzeichnet sein („conscientiousness“ und „publicity“) und auf Gewalt verzichten („nonviolence“).

Erhebliche Unterschiede zwischen den Modellen lassen sich, wie Scheuerman herausarbeitet, darin erkennen, wie diese Punkte im Einzelnen ausbuchstabiert und begründet werden. Im religiösen Modell (Kapitel 1), für das Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. exemplarisch stehen, ist das Konzept und dessen einzelne Komponenten mit einer religiös-spirituellen Bedeutung versehen. Gegen ungerechte Gesetze vorzugehen, wird, so betont Scheuerman mit Blick auf Gandhi, als göttliche Verpflichtung verstanden und vor allem mit Verweis auf das Gewissen des oder der Einzelnen gerechtfertigt. Und auch die einzelnen Bedingungen, die an Akte zivilen Ungehorsams gestellt werden, werden in diesem Modell religiös interpretiert. Dies gelte letztlich auch für Martin Luther King Jr., wenngleich dieser, wie Scheuerman zurecht anmerkt, das Konzept zivilen Ungehorsams bereits stärker an zentrale liberale und demokratische Ideen der Verfassung zurückbindet.

Die Grenzen des religiösen Modells erkennt Scheuerman darin, dass es sich vor dem Hintergrund des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, der moderne Gesellschaft kennzeichnet, als wenig geeignet erweist. So bleibe insbesondere unklar, inwiefern sich das religiöse Modell im Zweifelsfall mit den Werten einer pluralistischen Gesellschaft verträgt (27–31). Das liberale Modell (Kapitel 2), für welches besonders die Überlegungen John Rawls’ stehen, stellt Scheuerman zufolge daher eine entscheidende Weiterentwicklung dar. Ziviler Ungehorsam wird in diesem nicht auf der Grundlage religiöser Wahrheit gerechtfertigt, sondern auf dem für viele anschlussfähigeren Verständnis von Bürgerinnen und Bürgern als Freie und Gleiche, die eine kooperative politische Gemeinschaft bilden (34f.). Der Zweck zivilen Ungehorsams besteht hier darin, die gesellschaftliche Mehrheit auf die Verletzung von Grundfreiheiten und die Notwendigkeit von rechtlichen und politischen Veränderungen aufmerksam zu machen – das eigene Gewissen spielt anders als im religiösen Modell nur eine nachgeordnete Rolle.

Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit („rule of law“) und die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Anerkennung der Legitimität der rechtsstaatlichen Ordnung werden im liberalen Modell besonders betont, allerdings wiederum freilich nicht religiös fundiert. Stattdessen, so Scheuerman, verweisen Vertreterinnen und Vertreter des liberalen Modells auf den zentralen Stellenwert der Idee der Rechtsstaatlichkeit und der mit dieser Idee verbundenen Tugenden (u.a. „clarity, publicity, generality“ (51)) als Grundvoraussetzung von Rechtssicherheit und Freiheit, die folglich nicht leichtfertig in Frage gestellt werden sollten.

Scheuermans wesentlicher Einwand gegen das liberale Modell besteht darin, dass es das Konzept zivilen Ungehorsams zwar auf einem festeren theoretischen Boden stellt, dabei jedoch die mit dem religiös fundierten Vorläufer verbundenen politischen Ambitionen weitgehend neutralisiert werden (52). Der Grund hierfür liegt insbesondere darin, dass ziviler Ungehorsam im liberalen Modell – wie Scheuerman mit Verweis auf Rawls bemerkt – vor dem Hintergrund einer als fast gerecht verstandenen, demokratisch verfassten Gesellschaft theoretisiert wird, in der es in erster Linie lediglich darum gehen kann, bestimmte, politische und bürgerliche Grundfreiheiten und -rechte betreffende Korrekturen an Mehrheitsentscheidungen anzumahnen (40ff., 51f.). Die Art der Missstände, die zivilen Ungehorsam rechtfertigen, sind bei Rawls folglich eng umgrenzt und klammern damit wesentliche soziale, ökologische und wirtschaftliche Themen aus.

Das demokratische Modell (Kapitel 3), welches Scheuerman in Auseinandersetzung mit Hannah Arendt und vor allem Jürgen Habermas diskutiert, schafft hier Abhilfe und kann die entscheidenden Schwachstellen des liberalen Modells beheben. Theoretischer Ausgangspunkt des demokratischen Modells ist die Überzeugung, dass Demokratie grundsätzlich als „unfinished project“ (75) zu verstehen und ziviler Ungehorsam entsprechend als wichtiger Bestandteil des deliberativen und partizipatorischen demokratischen Prozesses anzusehen ist. Die wesentlichen Vorzüge des demokratischen Modells – trotz aller Gemeinsamkeiten mit dem liberalen Modell – sind dabei insbesondere darin zu erkennen, dass sich ersteres durch ein kritischeres Verständnis bestehender Institutionen und demokratischer Prozesse auszeichnet, in dem es u.a. vorhandene Demokratiedefizite und politische Machtungleichheiten in den Blick nimmt (57ff.). Ferner erweist sich das Modell im Vergleich zum liberalen als weniger exklusiv, wenn es darum geht, welche Missstände im Rahmen zivilen Ungehorsams aufgegriffen und auf diesem Wege der demokratischen Auseinandersetzung um politische Veränderungen zugeführt werden können. Konkreter gesprochen, so macht Scheuerman deutlich, gestattet das demokratische Modell Bürgerinnen und Bürgern „to address any potentially grave or serious issues and sometimes push for broad change“ (78).

Die anarchistische Herausforderung

In den übrigen vier Kapiteln liegt Scheuermans Fokus, wie eingangs erwähnt, auf verschiedenen Herausforderungen, vor die sich das zuvor herausgearbeitete Konzept zivilen Ungehorsams gestellt sieht. Hierzu geht er im vierten Kapitel zunächst auf ein mögliches weiteres, anarchistisches Modell ein.

Anarchistische Positionen zeichnen sich Scheuerman zufolge durch grundsätzliche Zweifel an der Legitimität staatlicher Herrschaft aus und weisen folglich zentrale Grundannahmen der anderen drei Modelle zurück. Genauer unterscheidet er zwischen politischen Ansätzen, die den Fokus auf militante politische Aktionen zur Bekämpfung bestehender staatlicher Strukturen richten, und philosophischen Zugängen, die vor allem die Vorstellung kritisieren, es bestehe eine besondere Pflicht zum Gehorsam gegenüber bestehenden Gesetzen.

Gegen die politische Strömung, die er gegenwärtig vor allem durch David Graeber repräsentiert sieht, wendet er insbesondere ein, dass diese in einem einseitigen Bild repressiver Staatsgewalt gefangen sei und vor dem Hintergrund des Pluralismus, der moderne Gesellschaften kennzeichnet, den Wert demokratischer und rechtlicher Strukturen verkenne. Dem philosophischen Anarchismus, der sich politisch umsichtiger zeigt und den er vor allem mit John Simmons’ libertären Modell in Verbindung bringt, wirft er vor, auf einem „tendentious brand of individualism“ (96) aufzubauen und die geforderte Treue gegenüber Staat und Recht, die Aktionen zivilen Ungehorsams aufweisen müssen, zu rigide zu interpretieren und somit misszuverstehen (97f.). Obwohl Scheuerman die wichtigen Einsichten anarchistischer Ansätze hinsichtlich der Gefahren staatlicher Repression anerkennt, kritisiert er sie letztlich dafür, dass sie das Konzept des zivilen Ungehorsams zu sehr aufweichen und folglich kein überzeugendes Alternativmodell anbieten können.

Veränderte gesellschaftliche und politische Bedingungen und digitaler Ungehorsam

Wie Scheuerman im fünften Kapitel plausibel ausführt, sieht er das Konzept des zivilen Ungehorsams ferner dadurch herausgefordert, dass sich berechtigterweise fragen lässt, inwiefern sich Rawls’ wegweisendes und bis heute prägendes liberales Modell angesichts veränderter politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen noch als zeitgemäß erweist.

Scheuerman betont insbesondere, dass Rawls’ Modell vor dem Hintergrund eines Systems weitgehend souveräner und abgeschlossener Staaten operiere, in welchem die theoretische Auseinandersetzung mit zivilem Ungehorsam auf demokratisch verfasste und durch eine gemeinsame liberale pluralistische Kultur geprägte Gesellschaften beschränkt bleibt (103–108). Die diesem Bild zugrundeliegenden Annahmen, so Scheuerman, werden grundsätzlich dadurch in Frage gestellt, dass politische Autorität heutzutage weniger klar an einzelne staatliche Akteure gebunden werden kann: Nicht nur verteilen sich politische Entscheidungsstrukturen zunehmend auf unterschiedliche Ebenen („Postnationalization“), sondern verfügen Staaten auch aufgrund von Privatisierungsprozessen über eine verminderte Handlungsfähigkeit (108–110). Politischer Protest beschränkt sich entsprechend heute oftmals auch nicht auf Missstände innerhalb von Staaten, sondern nimmt gravierende globale soziale Ungerechtigkeiten in den Blick und richtet sich dabei sowohl gegen öffentliche als auch gegen private Akteure (104). Auch in diesem Zusammenhang verweist Scheuerman darauf, dass das reichhaltigere demokratische Modell diesen veränderten politischen Realitäten besser gerecht werden kann (111–117) – von Rawls’ Modell, so Scheuermans Fazit, bleibt letztlich wohl lediglich das Gerippe übrig (121).

In ähnlicher Weise reagiert Scheuerman im sechsten Kapitel auf die vielfältigen neueren Formen von politischem Aktivismus wie Whistleblowing und Hacktivismus, die sich unter dem Stichwort „digital disobedience“ zusammenfassen lassen. So sei zu klären, inwiefern beispielsweise Hacker-Angriffe, die oftmals im Geheimen ablaufen, der Bedingung der Öffentlichkeit zivilen Ungehorsams gerecht werden können. Ferner weist Scheuerman darauf hin, dass sich viele der digital operierenden Aktivistinnen und Aktivisten einer rechtlichen Verantwortung entziehen und sich demnach auch die Frage stellt, inwiefern sich digitaler Ungehorsam mit der grundsätzlichen Forderung nach einer Anerkennung von Recht und Gesetz verträgt (132f.).

Scheuerman warnt grundsätzlich davor, das Konzept leichtfertig an die empirische Realität von illegalem Aktivismus anzupassen und zu offen zu interpretieren, da dieses sonst keine analytische und normative Orientierung mehr bieten würde (142f.). Er zeigt sich trotz der komplizierten Lage jedoch zuversichtlich, dass sich viele Aktionen digitalen Ungehorsams, sofern sie zentrale Inhalte des Konzepts wie Gewaltlosigkeit berücksichtigen, plausibel als ziviler Ungehorsam verstehen lassen und „potentially vital contributions to democracy and the rule of law“ (139) darstellen. Er verweist dabei explizit auf Edward Snowden, der zwar zunächst geheim agierte, seine Taten dann allerdings öffentlich gemacht und immer wieder unter Berufung auf Recht und Verfassung gerechtfertigt hat, um massive Grundrechtseingriffe durch staatliche und nichtstaatliche Akteure aufzudecken (127–129, 132f.).

Durchaus bemerkenswert ist, dass Scheuerman im Zuge dieser Auseinandersetzung mit digitalem Ungehorsam kurz anspricht, dass unter Umständen politische Aktionen, die den konzeptuellen Rahmen zivilen Ungehorsams überschreiten, legitim sein könnten und diesen mit einer gewissen rechtlichen Milde begegnet werden sollte (135). Die zweifellos spannende Frage, wie ein solches, den Begriff des zivilen Ungehorsams ergänzendes Konzept aussehen und begründet sein könnte, wird von Scheuerman leider nicht weiterverfolgt.

Anti-Legalismus in der aktuellen Diskussion

Im letzten inhaltlichen Kapitel setzt sich Scheuerman kritisch mit einigen einflussreichen gegenwärtigen Autorinnen und Autoren wie Robin Celikates, Kimberley Brownlee und Tony Milligan auseinander. Er gibt dabei zum einen zu bedenken, dass es diesen bei genauerer Betrachtung nicht gelingt, überzeugende theoretische Alternativen zu entwerfen, die sich deutlich von einflussreichen klassischen Modellen zivilen Ungehorsams unterscheiden. Insofern, so Scheuerman, tendieren die Kritikerinnen und Kritiker dazu, das Rad lediglich immer wieder neu zu erfinden und insbesondere Rawls’ Standard-Modell vorschnell zu verwerfen (141–147). Zum anderen greift Scheuerman seine bereits gegen anarchistische Positionen in Anschlag gebrachten Einwände wieder auf und argumentiert, dass die Kritikerinnen und Kritiker oftmals gar problematische anti-legalistische Tendenzen aufweisen (147–152).

Sein grundsätzlicher Vorwurf lautet dabei, dass die aus moralischen, politischen und rechtsstaatlichen Überlegungen gespeiste „triple-pronged normativity“, die das Konzept des zivilen Ungehorsams auszeichnet, um ihre „legal prong“ verkürzt wird. Konkreter erläutert er, dass die von Rawls und anderen geforderte Treue gegenüber Recht und Gesetz von den Kritikerinnen und Kritikern oftmals zu eng im Sinne einer unkritischen, den politischen Status quo rechtfertigenden Akzeptanz der bestehenden Rechtsordnung verstanden wird. Die Folge sei, dass das Konzept des zivilen Ungehorsams weitgehend von dieser Forderung entkoppelt wird und dessen klare normative Konturen zu verwischen drohen (147–152). Er verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf Kimberly Brownlee, die im Rahmen ihrer einflussreichen, stärker moralphilosophisch begründeten Konzeption und vor dem Hintergrund eines recht skeptischen Blicks auf die faktische Realität rechtsstaatlicher Strukturen für ein „moral right not to be punished“ (151) plädiert. Scheuerman zufolge werden moralische Überlegungen damit unangemessen überbetont.

Scheuerman selbst stellt demgegenüber die besondere Bedeutung heraus, die dem Recht als „collaborative source of normativity“ (148) in pluralistischen Gesellschaften im Zusammenhang mit Aktionen zivilen Ungehorsams gegenüber moralisch und politisch fundierten Überlegungen zukommt: „By speaking the language of law, disobedients productively transform controversial moral and political claims into broader and implicitly general normative appeals“ (148). Wer die zentrale Rolle der rechtsstaatlichen Komponente zivilen Ungehorsams vernachlässigt oder kleinredet, untergräbt laut Scheuerman eine seiner wesentlichen normativen Grundlagen und damit letztlich auch eine der wesentlichen Verteidigungsstrategien, auf die sich Aktivistinnen und Aktivisten berufen können, um ihren Widerspruch zum Ausdruck zu bringen und Debatten anzustoßen (149f.).

Abschließende kritische Würdigung

Scheuermans Kritik an den anti-legalistischen Tendenzen der zeitgenössischen Debatte und sein Plädoyer dafür, die rechtsstaatliche Dimension des Konzepts vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Pluralismus nicht aus den Augen zu verlieren, sind bedenkenswert und drängen die theoretische Auseinandersetzung zweifellos in eine spannende Richtung (für erste kritische Reaktionen auf den von Scheuerman bereits zu einem früheren Zeitpunkt geäußerten Anti-Legalismus-Vorwurf siehe Brownlee (2016) und Celikates (2016)).

Wie gravierend die Differenzen bezüglich der Einordnung konkreter politischer Aktionen zu jenen Autorinnen und Autoren ausfallen, die für eine offenere Definition von zivilem Ungehorsam eintreten, lässt sich letztlich nicht ganz einfach beurteilen. Klar ist, dass Scheuerman die grundsätzliche Gesetztestreue von Aktivistinnen und Aktivisten ebenso wie die Notwendigkeit, an den Bedingungen der Gewaltfreiheit oder der Öffentlichkeit festzuhalten, in den Vordergrund stellt. Wie diese vielfach diskutierten und kritisierten Bedingungen genauer verstanden werden sollten, deutet Scheuerman im Rahmen unterschiedlicher Erläuterungen aber lediglich an – und zeigt sich durchaus bereit, von einer zu engen Interpretation abzurücken (u.a. 45f.,132, 137, 144).

Für eine bessere Einschätzung der praktischen Implikationen und Grenzen seiner stärker rechtsstaatlichen Perspektive wäre es sicher auch hilfreich gewesen, wenn Scheuerman sich detaillierter zu weiteren konkreten, politisch und theoretisch besonders kontrovers diskutierten Aktionen geäußert hätte, die genau diese Bedingungen infrage stellen – man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an Tierbefreiungen oder Undercover-Filmaufnahmen in landwirtschaftlichen (Familien-)Betrieben zur Aufdeckung von Missständen in der Tierhaltung. Scheuerman verschreibt sich entsprechend abschließend selbst einer gewissen Zurückhaltung und gibt – u.a. im Rahmen einer kurzen Diskussion zur Einordnung der Aktionen der Black Lives Matter-Bewegung – recht allgemein zu bedenken, dass immer ein differenziertes Urteil nötig sein wird, wenn es darum geht, die vielzähligen aktuellen Formen von politischem Protest und Widerstand sinnvoll dem Konzept des zivilen Ungehorsams zuzuordnen (155–157).

Dabei ist einschränkend freilich zu bedenken, dass Scheuerman es sich, wie er selbst betont, im Rahmen eines Einführungswerks nicht zur Aufgabe gemacht hat, eine umfassend begründete und im Detail ausgearbeitete eigene Konzeption zivilen Ungehorsams zu präsentieren (5). Vielmehr tastet er sich über die Auseinandersetzung mit verschiedenen Modellen und konkreten Herausforderungen an das Konzept heran und will seine Ausführungen vor allem als Auftakt und Anregung für weitere Diskussionen verstanden wissen (155).

Relativ knapp und erst auf den letzten Seiten des Buches kommt Scheuerman überdies auf die wichtige und brisante Frage zu sprechen, inwieweit sich etwa Autoritäre und rassistisch motivierte Aktivistinnen und Aktivisten in einer liberalen Gesellschaft auf das Konzept des zivilen Ungehorsams berufen können (157–159). Scheuerman ist hierbei grundsätzlich zu weitgehenden Zugeständnissen bereit, da, wie er mit Verweis auf das liberale und demokratische Modell betont, in modernen, pluralistischen Gesellschaften niemand einen privilegierten Zugang zur Wahrheit beanspruchen kann. Zugleich gibt er allerdings zu bedenken, dass diese Bereitschaft Grenzen kennt: Aktionen, die nicht mit der fundamentalen Idee vereinbar sind, dass alle Menschen qua Menschsein zu achten sind, disqualifizieren sich grundsätzlich. Scheuerman gelingt es damit, einen spannenden Schlusspunkt zu setzen, der die Komplexität und Relevanz der Thematik noch einmal unterstreicht und die grundsätzliche Frage aufwirft, inwieweit ziviler Ungehorsam aus dem im weiteren Sinne rechten politischen Spektrum gerechtfertigt werden kann (man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise auch an die Aktionen von Abtreibungsgegnerinnen und ‑gegnern).

Civil Disobedience, so lässt sich zusammenfassend festhalten, greift weit aus und bietet dabei nicht nur einen ausgezeichneten systematischen Überblick über einflussreiche historische Positionen, sondern führt überdies engagiert in die zentralen Fragen ein, die die zeitgenössische akademische Debatte prägen. Dabei wird deutlich, dass das Konzept des zivilen Ungehorsams zu einem schwierigen Balanceakt herausfordert: Wie restriktiv sollte der Begriff zivilen Ungehorsams definiert werden, um auf der einen Seite seine klaren, einer pluralistischen Gesellschaft angemessenen normativen und konzeptuellen Konturen zu behalten, auf der anderen Seite jedoch das kritische, ja, emanzipatorische Potential, das viele Autorinnen und Autoren mit diesem verbinden, nicht unangemessen zu beschneiden?

Literatur

Braune, Andreas. „Zur Einführung: Definitionen, Rechtfertigungen und Funktionen politischen Ungehorsams.“ In Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, hg. von Andreas Braune, 9–38. Stuttgart: Reclam, 2017.

Brownlee, Kimberly. „The Civil Disobedience of Edward Snowden: A Reply to William Scheuerman.“ In Philosophy and Social Criticism 42.10 (2016), 965–970.

Brownlee, Kimberly. „Civil Disobedience.“ In The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward N. Zalta, 2017, zuletzt aufgerufen am 20.10.2019 [https://plato.stanford.edu/archives/fall2017/entries/civil-disobedience/].

Celikates, Robin. „Democratizing Civil Disobedience.“ In Philosophy and Social Criticism 42.10 (2016), 982–994.

Delmas, Candice. „Civil Diobedience.“ In Philosophy Compass 11.11 (2016), 681–691.

Habermas, Jürgen. „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik.“ In Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, hg. von Peter Glotz, 29–53. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983.

Rawls, John. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975.

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