Zeitschrift für philosophische Literatur 8.1 (2020), 46–56

Gescheiterte Rückkehr

Eribons Bildungsgeschichte kritischer Subjektivität

Eribon, Didier: Grundlagen eines kritischen Denkens. Wien: Turia + Kant. 246 Seiten. [978-3-85132-896-7]. Übersetzt aus dem Französischem von Oliver Precht.

Rezensiert von Victor Kempf (HU Berlin)

Möchte man Didier Eribons Schriften aus philosophischer Sicht rezipieren, steht man vor einer nicht unerheblichen Schwierigkeit. Auf der einen Seite erhebt Eribon selbst einen generalisierenden Anspruch, wenn er seine Rückkehr nach Reims (2016) ausdrücklich als „politische Theorie des Subjekts" verstanden wissen will (18). Andererseits dominiert in seinen Arbeiten ganz bewusst ein narrativer, fast anekdotischer Zugang, der eine explizite und in sich systematische Konzeptualisierung des Erzählten vermissen lässt. Seine Erfahrungen und Erinnerungen als schwuler „Klassenflüchtling" proletarischer Herkunft, der, angekommen in der Pariser Geisteswelt, mit anhaltender sozialer Scham zu kämpfen hat, scheinen auf den ersten Blick hoch interessant und sind durchaus mit sozialtheoretischen Begrifflichkeiten verknüpft (vgl. Eribon 2016). Man kann allerdings leicht den Eindruck gewinnen, dass etwa Bourdieus Determinismus, der am meisten die Sicht Eribons prägt, von ihm nur populärwissenschaftlich und meistens eher aus- und abschweifend bebildert wird, während der konzentrierte Durchbruch zu einem eigenständigen Ansatz, der es mit seinen Meistern Sartre, Bourdieu und Foucault aufnehmen könnte, ausbleibt. Eribons aktuelle Vortragssammlung versucht nun diesem Eindruck entgegenzuwirken und aus den mannigfaltigen Selbst- und Sozialanalysen des „Klassenflüchtlings" die „Grundlagen eines kritischen Denkens" zu destillieren. Erneut werden der Leserin eine Vielzahl involvierter, engagierter und mitunter sehr scharfsinniger Betrachtungen geboten, die überwiegend der Frage nachgehen, wie die unterdrückte Sicht und Stimme beleidigter und beschämter Subjekte ihrer Scham abgetrotzt, unter der ideologischen Oberfläche der Mehrheitsgesellschaft entborgen und als Ausgangs- und Ankerpunkt gesellschaftskritischen Denkens freigesetzt werden kann. Vielmehr als noch in Rückkehr nach Reims oder im Nachfolgebuch Gesellschaft als Urteil (2017) sind die kritischen Denkmotive um ein Projekt, um eine theoretische Aufgabenstellung versammelt. Aber eine konzeptionelle Gesamtstruktur, die sich selbst ausweist und rechtfertigt, tritt immer noch nicht bündig zum Vorschein, was erneut den Anschein des bloß Feuilletonistischen erweckt. Aber Eribons Darstellungsweise tut dem Gehalt seiner Betrachtungen unrecht. Trotz des oft anekdotischen, ausschweifenden und non-konklusiven Vorgehens manifestieren die verschiedenen Reflexionen Eribons in der Gesamtschau eine Bildungsgeschichte kritischer Subjektivität, aus der sich sozialphilosophisch wichtige Schlüsse ziehen lassen.

Nachdem im Vorwort die Determinismen der sozialen Welt als historisch wandelbar herausgestellt und mithin die Sinnhaftigkeit und die Möglichkeit kritischen Denkens ganz grundlegend etabliert wurden (7–12), beschäftigt sich das erste Kapitel ausführlich mit der Methode, dem Subjekt und der spezifischen Bewegung, die Eribon zufolge dieses Denken charakterisieren. Eribon geht vom situierten Ich aus, das sich selbst in seiner sozialen Konstituiertheit analysiert und dadurch zum Subjekt kritischen Denkens avanciert (15–19). Doch wird rasch deutlich, dass er nicht jedes Subjekt als mögliches Subjekt der Kritik überhaupt ins Auge fasst. Die gesellschaftliche Subjektivierung, die in der „Selbstanalyse" durchgearbeitet werden soll, denkt Eribon nämlich negativistisch nach dem Modell einer beleidigenden Anrufung, die wie ein Schuldspruch funktioniert, der die schambesetzten Individuen vor allem eigenen Handeln in einer subalternen Position festsetzt, aus der es kein Entrinnen gibt, weil die sozialen Instanzen, die das Urteil sprechen, omnipräsent und unnachgiebig sind (19–24). Die Hartnäckigkeit des Urteils zeigt sich nicht zuletzt darin, dass selbst noch diejenigen, die sich in Prozessen des gesellschaftlichen Aufstiegs aus ihrer Subalternität scheinbar herausgewunden haben, anhaltend mit Gefühlen der Scham und der Ausgrenzung konfrontiert sind, die sie im Sinne einer dröhnenden Vergangenheit geradezu kafkaesk verfolgen (100–111). Diese „Klassenflüchtlinge" sind es nun auch, die Eribon unter der Hand als werdende Subjekte eines kritischen Denkens zentriert (24, 62f). Sie haben die Stufenleiter der offiziellen Kultur erklommen, sie besitzen Zugang zum wissenschaftlichen Wissen. Und trotzdem, so lässt sich aus Eribons Werk rekonstruieren, ist ihre Möglichkeit zur kritischen Artikulation noch gehemmt durch die Scham und die Selbstabwertung, die mit ihr einhergeht (116–121). Einen Ausweg aus dieser Hemmung soll nun die Selbstanalyse bieten, indem sie, so Eribon programmatisch, Scham in Stolz transformiert, also zu einer kritischen Umeignung und „positiven Wiederaneignung" des Schuldspruchs und seiner Sprache führt (40–53). Das eingängige Bild der „Rückkehr" (50) soll genau diese Bewegung der umeignenden Wiederaneignung plastisch machen.

Alle weiteren Kapitel kreisen mehr oder weniger um die Schwierigkeiten und Herausforderungen, auf die eine kritische Selbstanalyse im Sinne der epistemisch-ermächtigenden Rückkehr stößt bzw. stoßen kann, wobei die systematischen Partien einer solchen Problematisierung rar sind und aus etlichen Ausschweifungen und Redundanzen sprichwörtlich heraus gesiebt werden müssen. Kapitel 2 liefert nochmal eine spezifischere methodologische Funktionsbeschreibung der Rückkehr: Sie dient der non-linearen, in Hin-und-Her-Bewegungen erfolgenden Durchquerung der Schichten des gesellschaftlich Habitualisierten bzw. „Unbewussten“, in denen sich die Scham des subalternen Subjekts sedimentiert hat (61). Nirgends wird ganz klar, weshalb oder in welchem Sinne sich aus der sezierten Scham der Stolz gewinnen lässt, der das subalterne erst in ein kritisches Denken überführt. Der Befreiungsschlag scheint für Eribon wohl darin zu liegen, dass die Analyse der Scham, die sozialen Stigmata, auf die sie sich bezieht, in einem neuen Licht erscheinen lässt und die Möglichkeit einer affirmativen Neu- oder Umwertung des Verworfenen eröffnet (123, 133, 154–156). Doch die Frage nach Funktionsweise und Möglichkeit der anvisierten kritischen Inversion der Scham findet bei Eribon keine systematische Bearbeitung. Stattdessen überwiegt bereits im zweiten Kapitel die Betonung und ausführliche Beschreibung der Widerstände, auf die die epistemische Rückkehrbewegung zum sozialen Ausgangspunkt der Scham, das heißt zum Herkunftsmilieu, bei diesem selbst trifft. Statt Anhaltspunkt für erneuten proletarischen Stolz zu sein, werden Eribons Mutter und Geschwister ein weiteres Mal beschämt von dem soziologischen Porträt, das er von ihnen gezeichnet hat (74–84). In scheinbar trotziger Einvernehmlichkeit mit ihrer Beherrschung klammern sie sich, so die Darstellung Eribons, in Reaktion darauf an die Merkmale ihrer Inferiorität (Bildungsferne, ökonomischer Mangel) fest, adeln diese zum Zufriedenen, Geglückten, Kraftvollen (75f, 79–84). Eribon stellt den verletzenden Effekt der soziologischen Objektivierung zwar in Rechnung (82), aber hinterfragt nicht, ob die pathologisierende und damit unweigerlich beschämende Objektivierung seines Herkunftsmilieus, die er produziert, einer emanzipatorischen Umeignung der Scham entgegensteht, statt sie zu fördern. Dafür macht Eribons Schilderung sehr eindrücklich klar, dass es neben einer richtigen und kritischen Invertierung der Scham auch eine falsche gibt, die das blinde Einverständnis mit dem eigenen Beherrschtsein erst ermöglicht. Auch wenn hier keine Unterscheidungskriterien expliziert werden, wird doch ein zentrales Problem der Rückkehr greifbar: Das kritische Wissen entbirgt sich nicht einfach, wenn der „Klassenflüchtling” erst einmal in die Binnensicht seiner Verwandten zurückgeschlüpft ist und sich ihren subkulturellen und insgeheimen Stolz zurückgeholt hat. Statt das herrschaftskritische Wissen einer subversiven Kultur zu befördern, droht eine Ethnomethodologie, die den Subjekten nur spontan „auf den Mund schaut", lediglich die regressive Aufwertung der eigenen Repression zu Tage zu bringen (77–81).

Im zweiten Teil wendet Eribon seine Suche nach einer kritischen Subjektivität der Subalternen ins Politische. Wiederum ist ein „Klassenflüchtling" der Ausgangspunkt und seine „Rückkehr" die spezifische Richtung des Bildungsprozesses. Angeregt durch Violette Leducs literarischen Versuch, ihre „soziale Geburt" als „Bastard" zur Basis eines subalternen Stolzes zu wandeln, um so die sie selbst im etablierten Paris heimsuchende und unterminierende Scham zu bannen, stößt Eribon auf die kollektive Dimension dieses Prozesses (111–132). Der einzelne Bastard hält sein Haupt hartnäckig gesenkt. Nur als gemeinsame „Bewegung der Bastarde" lässt sich das Stigma selbstbewusst umwenden und zu einem Identifikationskern sozialer Kämpfe metamorphisieren (123, 127). Eribon erkennt, dass alleine in der kollektiven Dimension die Scham überwunden werden kann, dass nur, wenn seinesgleichen das Haupt hebt, er es selbst heben kann, ohne als vereinzelter Aussätziger ohne Halt unmittelbar und ausschließlich dem Blick der Herrschenden ausgesetzt zu sein. Doch wenn die Kollektivität hier gewissermaßen der Schlüssel zur Lösung ist, bleibt die Möglichkeit ihres Zustandekommens vom Ausgangspunkt der Scham her gerade fraglich. Wie Eribon zurecht betont, wird die kollektive Invertierung des Stigmas durch das massenhafte Gefühl der Scham gerade gehemmt; sie unterbindet ausgerechnet durch ihre massenhafte bzw. „serielle" Verbreitung erst einmal, dass die Vereinzelung hin zu einer selbstbewussten Gruppenbildung überwunden wird (123). Aber Eribon entledigt sich dieses Problems, indem er die Scham kurzerhand auch als mögliche Motivationsquelle widerständiger Subjektivierung auszeichnet (127, 156). Ungeklärt bleibt, ob die Pein der sozialen Scham zum Kampf treibt? Oder ist in die Scham selbst immer auch schon ein gleichsam natürlicher Stolz der Gegenkultur eingeschrieben, womit aber gerade eine subversive kollektive Bezugswelt ontologisierend vorausgesetzt wird, statt die Möglichkeit ihres offenbar nicht selbstverständlichen gesellschaftlichen Zustandekommens tatsächlich zu rekonstruieren.

In den weiteren Kapiteln werden die bereits angesprochenen Probleme der Selbstanalyse noch einmal vertieft. Insbesondere wird wiederholt klargestellt, dass der „Klassenflüchtling" nicht einfach damit rechnen kann, ein selbstbewusstes Sprechen der Subalternen wiederzufinden, wenn er in das Milieu seiner Herkunft zurückkehrt und den verzerrenden Blick der offiziellen Kultur nur gründlich genug abstreift. Die „Rückkehr" erweist sich allzu oft als regelrechte „Odyssee der Wiederaneignung" (zitiert nach Bourdieu; 154), als ein langwieriger und zäher Prozess der Wiederfreilegung verschütteter Selbst- und Weltbilder, da die beschämten Milieus in der Scham gefangen sind und sich jeder eigenen Stimme enthalten. Wie die trotzige Beschönigung der Subalternität, so kulminiert auch die beschämte Sprachlosigkeit der Subalternen in ihrem herrschaftskonformen Selbstausschluss aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs (141–143, 148f, 160f). Daraus entwickelt Eribon in Kapitel 4 die „unabschließbare Aufgabe der Verallgemeinerung", d.h. einer entgrenzenden Universalisierung des Diskurses, die den Selbstausschluss überwindet, indem sie die unterdrückten Stimmen re-artikuliert (156f).

Dass jedoch nicht jede Form des subalternen Stolzes dazu angetan ist, als Ermöglichungsgrund kritischen Denkens zu fungieren, macht Eribon erneut in Kapitel 6 deutlich.1 Die Selbstanalyse im Modus der Rückkehr zielt ja darauf, den Ansatz einer selbstbewussten Gegensubjektivierung freizulegen, aus der heraus das beschämende Urteil der Gesellschaft invertiert und diese selbst zum Gegenstand kritischer Beurteilung werden kann (19–21, 44). Eribon hat anhand seines proletarischen Herkunftsmilieus bereits gezeigt, wie es zu einer falschen Umwertung der Negativität kommen kann, etwa wenn Bildungsferne zu einem Ausdruck von maskuliner Stärke verklärt wird, mit homophoben Konnotationen und der korrespondierenden Bereitschaft „seinen Platz" innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung scheinbar zufrieden einzunehmen. Aber auch im queeren Milieu lauert die Gefahr einer falschen Umwertung der Negativität, einer falschen Gegensubjektivität, die sich letztlich in die bestehenden Verhältnisse einfügt, statt als Ansatzpunkt ihrer Kritik und Transgression zu fungieren. Eribon macht das anhand eines gewissen, fehlgeleiteten Radikalismus innerhalb der LGBTQ*-Bewegung deutlich, der den Ausschluss aus den bürgerlichen Institutionen der Ehe und der Familie zum Wesensmerkmal einer authentischen queeren Identität verklärt, die durch Promiskuität und Reproduktionsverweigerung definiert (223–226), im Extremen sogar durch die autodestruktiven Praktiken des Barebackings, die sich bewusst auf die Seite des Todes stellen würden, um der heterosexuellen Selbstgefälligkeit des sich erhaltenden Lebens etwas „Subversives" entgegenzusetzen (216–223). Eribon geht es keine Sekunde darum, Promiskuität, Kinderlosigkeit oder Barebacking zu verurteilen (229). Vielmehr sieht er das Problem darin, dass sich der Radikalismus als scheinhaft herausstellt, da die subversiv gemeinten Praktiken und Lebensformen sich sozusagen harmonisch-kehrseitig zur Normalität verhalten und somit letztere unangetastet lassen, gar stabilisieren: Man begibt sich in das wohlumschlossene und subkulturell abgeschottete Gehege des Anormalen, statt das Normale und die Grenzlinien, die es definieren, herauszufordern und durch die Kreation neuer Subjektivitäten zu durchkreuzen (223–229, 237–246). Das Kriterium für die positive Wendung der reinen Negation in die kreative Schaffung neuer Gegensubjektivitäten bleibt bei Eribon vollständig offen (240–246). Es geht ihm um die Weitergabe und Tradierung einer homosexuellen Kultur im Sinne von Foucaults „Ästhetik des Selbst" (242–246). Doch diese entsteht prinzipiell auch in jener Affirmation des “heimgesuchten Lebens”, dieses „Lebens zum Tode", das Eribon als selbstdestruktiv und nihilistisch kritisiert (216–223). Hier wäre viel zu diskutieren. Festhalten lässt sich aber, dass Eribon ein weiteres Mal die entscheidende Gefahr der Rückkehr thematisiert: Motiviert durch das Verlangen des beleidigten Subjektes, Scham in Stolz zu überführen, droht die Rückkehr zum Verfemten auf alternative, auf den ersten Blick vielleicht sogar widerständige Subjektivitäten zu stoßen, die jedoch, statt kritisch und in einem emanzipatorischen Sinne ermächtigend zu sein, die Subalternität nur befrieden und festsetzen.

Eribons Auseinandersetzung mit autobiographischen Versuchen der Selbstanalyse und der „Rückkehr" lässt sich auf verschiedenen Ebenen diskutieren. Seine Vorträge sind reich an konkreten Einblicken in unterschiedliche Erfahrungen der Subalternität und dem meist literarischen Versuchen ihrer kritischen Aneignung. Es ist bemerkenswert, wie es Eribon gelingt, den subjektiven Standpunkt des „Klassenflüchtlings" zum Ausgangspunkt einer kritischen Soziologie zu machen und hiermit überhaupt etwas zur Sprache zu bringen, das in den akademischen Debatten und bürgerlich besetzten Colloquien nach wie vor stumm bleibt. Es ist die immer wieder reproduzierte Scham, die das eigene Sprechen und die Fähigkeit zur kritischen Einrede beeinträchtigt und die, so zumindest die Hypothese, erst durch die Rückkehr zu ihrem gesellschaftlichen Ursprungs- und Herkunftsort überwunden werden kann. Ernst zu nehmen ist bei alldem zuvorderst der epistemische Anspruch, der mit dieser Rückkehr verbunden wird: Es geht Eribon nämlich nicht nur darum, einem bildungsbürgerlichen Publikum die ihm unbekannte Welt der Arbeiterklasse darzubieten, also einfach nur das bestehende soziologische Wissen auto-ethnographisch zu erweitern. Vielmehr sollen mit der Rückkehr die „Grundlagen" eines anderen, eines „kritischen Denkens" der sozialen Welt allererst etabliert und zum Tragen gebracht werden. Eribon verbindet mit dem Motiv der Rückkehr eine Bildungsgeschichte kritischer Subjektivität, deren theoretische Annahmen, Erwartungen und potentielle Komplikationen nun in eine Struktur gebracht werden sollen (1). Darauf aufbauend soll abschließend eine Lesart von Eribons Rückkehr vorgeschlagen werden, die ihr konkretes Scheitern selbst als Platzhalter eines kritischen Denkens interpretiert, das sich selbst erst noch finden und etablieren muss (2).

(ad 1) Eribons Bildungsgeschichte kritischer Subjektivität ist hochgradig situiert, spezifisch und voraussetzungsreich. Sie lässt sich nicht an jedem sozialen Ort beginnen, sondern setzt die negative Erfahrung der Beleidigung voraus, die zugleich als Movens ihrer Invertierung gedacht wird. Beleidigte Subjekte werden als potentielle Träger kritischen Wissens in den Fokus gerückt. Aufgrund ihres subalternen Erfahrungshintergrunds scheinen sie einerseits die prinzipiell naheliegenden Subjekte kritischen Denkens, müssen diese aber andererseits erst noch im Prozess der Selbstanalyse werden. Eribon scheint zu Beginn auf eine epistemische Privilegierung der subalternen Sicht als solche hinaus zu wollen. Sehr schnell wird aber klar, dass er sich spezifisch, für die gleichsam nachwirkende Subalternität des „Klassenflüchtlings" interessiert. Der Klassenflüchtling vereint beides: Die Erfahrung der Beleidigung in nach- und fortwirkender Form und doch auch das Wissen und die Kompetenz der offiziellen Kultur, die Eribon als sozusagen formale Grundvoraussetzung auch des kritischen Denkens demonstrativ bejaht (Eribon 2017: 91, 94, 150, 219, 256f), auch wenn er in ihr immer der „Klassenflüchtling" geblieben ist.

Doch trotz dieser Einübung in das wissenschaftliche Wissen der offiziellen Kultur wird der epistemische Standpunkt des Klassenflüchtlings durch die Scham unterminiert, die ihn unnachgiebig verfolgt und ihm scheinbar das für die gesellschaftskritische Artikulation nötige Selbstbewusstsein raubt. Noch kann der Klassenflüchtling, so die initiale Blockade, von der Eribon ausgeht, die Gesellschaft keinem freien Urteil unterziehen, da ihn das über ihn selbst ergehende gesellschaftliche Urteil in einer wie auch immer unmündigen Lage festhält (116–121; Eribon 2017: 63, 67–69). Er muss deshalb Scham in Stolz invertieren, um seine Verurteilung durch die soziale Welt in ein kritisches Urteil über die soziale Welt zu kehren, das emanzipierend über ihre beschränkende Verfasstheit hinausweist. Dies soll durch die Selbstanalyse geschehen, welche im Modus der Rückkehr die subalternen Ursprünge neu aneignet. Der Ansatz der Selbstanalyse folgt dabei der Erwartung, dass das rückkehrende Durcharbeiten der Scham ex negativo verschüttete Momente des Stolzes entbirgt, deren Wiederaneignung das kritische Sprechen der Subalternen über die soziale Welt allererst ermöglicht.

Allerdings sind Eribons Schilderungen dieser rückkehrenden Wiederaneignungen alles andere als optimistisch. Es droht ein Steckenbleiben in falschen, geradezu geist- und mithin kritikfeindlichen Gegensubjektivitäten, wie Eribon etwa anhand der Bildungsfeindlichkeit und des homophob durchsetzten Maskulinismus seines Herkunftsmilieus deutlich macht. Kein subversives Gegenwissen eröffnet sich, es droht vielmehr ein Rückfall hinter und eine Unterminierung bereits erlangter Emanzipation. In Eribons Fall erweist sich der „wiedergefundene Hügel" (zitiert nach Bourdieu; 154) der Heimat, der ja mit einer gewissen Hoffnung angesteuert wurde, als einigermaßen finstres Tal: Eribons Mutter wählt den FN statt die PCF, die progressive Arbeiterkultur des Klassenkampfes ist der Xenophobie und dem antiintellektuellem Ressentiment gewichen. Es ist weniger denn je möglich, „nach Hause" zu kommen und sich den unterdrückten Stolz der Herkunft als welterschließende Ressource eines herrschaftskritischen Denkens zu eigen zu machen. Eribon selbst bewältigt das Scheitern seiner Rückkehr, indem er seine Klassenflucht ein weiteres Mal vollzieht, indem er also zurückflüchtet in die Sphäre der offiziellen und hohen Kultur, von wo aus er eine soziologische Pathologie der kulturellen Rückständigkeit seiner Familie erstellt, um so die Essenz seiner Rückkehr als kritisches Wissen festzuhalten.

(ad 2) Eribons Bildungsgeschichte kritischer Subjektivität bleibt sicherlich hinter seinem vollmundigen Anspruch zurück, eine „politische Theorie des Subjekts" zu entwickeln. Die Stärke seines Schreibens liegt nicht im Allgemeinen, sondern in der Exponierung eines besonderen Typus subalterner Subjektivität und ihres spezifischen Versuchs, kritisch zu werden. Es ist äußerst strittig, „kritisches Denken" so eng und ausschließlich mit dem Klassenflüchtling (als dessen Subjekt) zu identifizieren und damit andere gesellschaftliche Lagen und Milieus als Orte entstehender Selbstreflexivität auszublenden oder gar zu verneinen. Aber auch wenn der Klassenflüchtling nicht das einzige denkbare Subjekt kritischen Denkens ist, so handelt es sich bei ihm doch um einen besonders aufschlussreichen Fall, weil hier eine Sicht zur Sprache kommt, die oberflächlich zwar mit der offiziellen Kultur übereingeht, sich ihrer bildungsbeflissen bedient, aber dennoch in Spannung zu ihr bleibt und nach der Möglichkeit einer anderen Artikulation sucht. Die Widerspenstigkeit und das Unbehagen der Aufgestiegenen und Angepassten, aber dennoch Beschämten, sind es also, die Eribon als Movens einer kritischen Subjektivierung interessiert. Wenn auch hier viele Fragen ungeklärt bleiben, ist doch die Stoßrichtung dieser Subjektivierung sehr attraktiv: Im Zuge der Rückkehr zu den subalternen Ursprüngen (die freilich keine positive Identität beschreiben, sondern bei Eribon stets etwas vollständig Negatives sind; 49; Eribon 2017: 228, 234) soll Scham in Stolz überführt werden – ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, das vermutlich nur durch die Rekonstruktion verschütteter Ansätze subalterner Selbstorganisation und alternativer Kultur, das heißt alleine auf politischer bzw. kollektiver Ebene, an sein Ziel gelangt.

Das spezifische Subjekt, um das sich Eribons Bildungsgeschichten drehen, ist von besonderem gesellschaftskritischem Interesse, der Modus der Rückkehr und die Intention der Invertierung scheinen aussichtsreich. Unbefriedigend ist dagegen, wie Eribon das konkrete Resultat seiner Rückkehr verarbeitet. Wenn die Erlangung eines kritischen Denkens für den Klassenflüchtling davon abhängt, ob er in der Durcharbeitung der Schichten seiner Scham, beziehungsweise in der rückkehrenden Durchquerung seines Herkunftsmilieus Rudimente einer emanzipatorischen Gegensubjektivität findet, deren Stolz es erlaubt, das gesellschaftliche Urteil über ihn in sein Urteil über die Gesellschaft zu verschieben, so dokumentiert Eribons eigene Geschichte ein Scheitern dieses Selbstfindungs- und Bildungsprozesses. Konfrontiert mit der Bildungsfeindlichkeit, dem breitbeinigen Maskulinismus und dem Rassismus seiner Familie flüchtet Eribon zurück in die geistige Welt, in die er einst schonmal geflohen ist, in die Sprache und das Wissen jener offiziellen Kultur, die ihn eigentlich verunsichert und in seiner Sprecherposition in gewisser Weise immer auch unterminiert, die er sich aber nun im Sinne des „Legitimismus" (d.h. des Glaubens an die intellektuelle Überlegenheit der offiziellen bzw. „legitimen" Hochkultur; 149; Eribon 2017: 228, 234) mit gestärkter Überzeugung zu eigen macht, um von hier aus die Rückständigkeit seines Herkunftsmilieus mit aller gebotenen Klarheit und Offenheit zu bekunden. So verständlich dieser Rückzug in den „Legitimismus" angesichts des Scheiterns der Rückkehr ist, so heißt dies dann aber auch, dass das intendierte kritische Denken nicht entsteht respektive seine soziale Basis findet, von der aus es sich artikulieren könnte.

Der kritische Effekt der Selbstanalyse sollte ja nicht einfach darin bestehen, die subalterne Scham zu analysieren und soziologisch zu erklären. Dies würde die Subalternen nur sezieren, nur ein weiteres Mal zum Objekt eines Wissens machen, das über sie produziert wird (und das sie entmächtigt, gerade auch wenn es in den Kategorien einer kritischen Soziologie à la Bourdieu und in den besten gesellschaftspolitischen Absichten hervorgebracht wird). Stattdessen war das Ziel, gerade dieser Objektivierung zu entkommen und ein eigenes subversives Sprechen unter dem Schweigepanzer der Scham zu entbinden, also eine subalterne Perspektive freizulegen, von der aus der Klassenflüchtling der verurteilenden und beleidigenden Gesellschaft einen kritischen Blick entgegensetzen könnte. Eribons Fehler liegt nun nicht darin, dass seine Rückkehr scheitert, sondern dass dieses Scheitern, dieses Nicht-Auffinden eines alternativen kritischen Denkens, nicht als eigentlicher negativer und vorläufiger, substituierender Gehalt eines solchen Denkens festgehalten und schonungslos protokolliert wird. Eine solche Protokollierung des Scheiterns hieße eben nicht nur eine Pathologie der proletarischen Bildungsferne und ihrer beschränkenden Effekte zu schreiben, sondern gleichzeitig auch die Enttäuschung und die Verzweiflung zum Thema zu machen, die darin liegen, wieder in das unweigerlich abwertende und zwangsläufig herabwürdigende Vokabular eines pathologisierenden Schreibens zurück zu wechseln, um das Regressive, Homophobe und Herrschaftskonforme, das einem am Zielort der Rückkehr erwartet hatte, als solches benennen zu können.

Eine solche Reflexion auf das Scheitern der Rückkehr wird bei Eribon von einer nahezu triumphalen Affirmation der offiziellen Kultur verdrängt. Er rettet sich in diese nicht ohne eine gewisse Distinktionslust zurück. Mit ostentativer Genugtuung streicht er wieder und wieder seine intimen literarischen Kenntnisse und sein erworbenes kulturelles Kapital und somit die errungene Distanz zu seinen Herkunftsmilieu und dessen Rückständigkeit heraus. Dass damit aber das epistemologische Ziel der Rückkehrbewegung gerade verfehlt wird, dass es sich also nicht erreichen läßt, gerät dabei jedoch aus dem Blick. Allerdings wäre die Verarbeitung dieses Scheiterns das Spannendste gerade im Hinblick auf jenes kritische Denken gewesen, dessen „Grundlagen" sich nicht entborgen haben. Die Erfahrung des Scheiterns einer Fundierung kritischen Denkens ist nämlich genau jener schmerzhafte, unruhige, traurige und frustrierte Zustand des Bewusstseins, der in seinem Unglück den kritischen Geist der Negativität sozusagen in Vorform, vor seiner selbstbewussten Herausformung, manifestiert bzw. seinen Gehalt transportiert. Das genuine Erfahrungsmoment kritischen Denkens keimt in der Traurigkeit und der Enttäuschung, die sich sozusagen während der Rückfahrt von Reims nach Paris abends im Zug einstellt. Es offenbart sich hingegen nicht in der objektivierenden Milieusezierung, vorgenommen aus Perspektive jener selbstgewissen hochkulturellen Überlegenheit, die den beschämenden und somit herrschenden Blick auf die Subalternen strukturell reproduziert.

Eribons Bildungsgeschichte endet also erfolglos, der ersehnte Ort kritischen Denkens, zu dem die Bewegung der Rückkehr aufbrach und von dem aus die soziale Welt in einem radikal verändertem Licht erscheinen sollte, lässt sich nicht auffinden, es bleibt nur der enttäuschte Rückzug in die Akademie. Aber auch wenn das kritische Denken in diesem Fall noch ortlos bleibt, sich noch nicht gefunden hat, lässt sich doch als negatives Substitut seiner Verwirklichung die Erfahrung seines Scheiterns, Ausbleibens oder Zurückweichens durchleuchten und reflektieren. Die konkrete (und hier nicht zu verallgemeinernde) Erfahrung eines Mangels an kritisch-subalternem Selbstbewusstsein ist entscheidend, ihr muss die Arbeit der Artikulation gelten. Denn es ist dieses negative Substitut kritischen Denkens, das, soweit und solange dieses Denken noch abwesend ist, an seine Stelle tritt, seinen Impuls verkörpert und auf seine Realisierung zielt.

Literatur:

Eribon, Didier (2017): Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Berlin: Suhrkamp.

Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.



  1. Um den Gedankengang hier nicht zu unterbrechen, habe ich das Kapitel 5 ausgelassen, in dem Eribon noch mal mit aller Deutlichkeit seinen Ansatz der Selbstanalyse als Sozioanalyse von der Psychoanalyse absetzt, die er als gesellschaftsvergessen, aufs Familiäre begrenzt, androzentristisch und – besonders mit Blick auf Lacan – homophob problematisiert. Eribon überzeugt vielleicht in Bezug auf gewisse, dominierende Strömungen innerhalb der Psychoanalyse, die sich in ein repressives Normalisierungsdispositiv eingegliedert haben. Doch er übersieht die Versuche, die Psychoanalyse in ihrem methodologischen Kern –: die Re-Artikulation des Exkommunizierten – zu begreifen und gleichzeitig von allen sekundären inhaltlichen Verengungen und gesellschaftlichen Überdeterminationen zu entkoppeln (vgl. hierzu bereits Habermas 1968).

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