Weißpflug, Maike: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken. Berlin: Matthes & Seitz 2019. 320 Seiten. [978-3-95757-721-4]

Rezensiert von Lea Mara Eßer (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Die Kunst, politisch zu denken, der Titel von Maike Weißpflugs Buch zu Hannah Arendt, nennt bereits die neue Perspektive, die die Autorin auf Arendts Werk wirft: Sie untersucht darin das Verhältnis von politischer Urteilskraft zu Literatur als Quelle von politischer Erfahrung. Weißpflug geht davon aus, dass politische Theorien darum immer neu durchdacht werden müssen, weil ihre Relevanz sich jedem Betrachtenden und jeder Zeit in neuem Licht zeigt; auf diesem Weg werden immer neue Bedeutungsschichten in Bezug auf Probleme unserer Gegenwart hinzugefügt. Die Erschließung literarischer Texte stellt Weißpflug als die Quelle politischer Erfahrung heraus: Erst durch Literatur würden Erfahrungen in Sprache umgewandelt und so be-sprech-bar werden, nur sie schüfen Zugänge zu den abstrakten Kategorien politischer Theorie. Diese These ist so originell durch die grundlegende Rolle, die sie der Literatur zuspricht. Sie wirft ein neues Licht auf Arendts Schriften und stellt sie zudem in neue philosophische Zusammenhänge.

Obwohl Öffentlichkeit als die zentrale Voraussetzung für politische Erfahrung und Urteilsfähigkeit auch an anderer Stelle – am prominentesten vielleicht von Linda Zerilli (2016: 11ff.) – hervorgehoben worden ist, liegt der entscheidende Unterschied von Weißpflugs Lesart in der Rolle, die sie der Literatur in diesem Zusammenhang zuschreibt. Eva von Redecker begreift das Narrative ganz in Weißpflugs Sinne – diese spricht davon, in ihm „die Grenzen des Machbaren zu erkennen“ (17) –, wenn sie es als Möglichkeit beschreibt, Ereignissen einen Rahmen zu bieten, „damit sie in der Welt Bestand haben“ (von Redecker 2013: 73). Die elementare Funktion aber, die Weißpflug dem Geschichtenerzählen für Arendts Urteilstheorie zuspricht, stellt eine völlig neue Gewichtung dar und ist innerhalb der Arendt-Forschung nur noch bei Lisa Jane Disch zu finden, die Arendts „storytelling“ als „most enigmatic and provocative aspect“ ihrer politischen Philosophie bezeichnet (Disch 1994: 107). Disch stellt heraus, dass gerade die Narration die Einnahme verschiedener Blickpunkte und so eine „situated impartiality“ (Disch 1994: 162) ermögliche. Maike Weißpflug geht dieser These in ihrem Buch in konkreterer Weise nach, indem sie dem Uneindeutigen, das in literarischen Werken zu finden ist, in einzelnen Texten nachhorcht.

Neben diesen Ansätzen scheint Hannah Arendts Denken Weißpflug im Allgemeinen von der Forschung „überinterpretiert“ und zu begrenzt in immer eine der zwei folgenden Richtungen gelesen worden zu sein:

Entweder gilt sie als rückwärtsgewandte ‚Denkerin der Polis‘, die Politik am Maßstab der griechischen Polis misst, oder als agonale Theoretikerin der Politik, die das Neue, Kreative, Revolutionäre des politischen Prozesses überbetont. Beide Interpretationen verfehlen jedoch ihre eigentliche Idee der Politik als Vorgang der Welterschließung: Wer anfängt zu handeln, muss sich immer mit dem Gegebenen auseinandersetzen – und schafft dabei etwas Neues. (228)

Weißpflug möchte in ihrem Buch also einen dritten Weg beschreiten, der die beiden Wege nicht als sich ausschließende begreift.

Die Aktualität von Arendts Werk liege, so ihre These, nicht so sehr in einem bestimmten Thema, sondern vielmehr in der Haltung ihrer Theorie selbst, im Wie ihres politischen Denkens, in der Erfahrungsgebundenheit ihrer politischen Theorie. So sei das Besondere an Arendts Werk, „dass es sich hier nicht um eine rein begriffliche – oder definitorische – Theorie des Politischen handelt, sondern vielmehr um Denkübungen, um den Versuch, im Denken eine bestimmte Haltung zur Welt einzunehmen“ (10). Arendt wolle den „isolierten Beobachterposten der Philosophie“ (15) verlassen und das Denken wieder rückbinden an die wirkliche Welt und konkrete Erfahrungen. Um so eine kritische Haltung einzuüben, nutze Arendt die Erzählung: „Das Erzählen ist für Arendt ein Mittel, sich durch narrative Konkretion Erfahrungen anzueignen und die Grenzen des Machbaren zu erkennen. Dichterisch denken heißt darum nach Arendt immer: begrenzt denken.“ (17) Denken in Arendts Sinne hieße also nach Weißpflug, sich zu beschränken auf das konkret Vorgefundene, nicht aber das Allgemeine und Abstrakte; daher bezeichnet sie Arendts Haltung als eine „Rebellion gegen das Große“ (17). Arendts Suche nach Konkretem, nach Erfahrungen, „von denen wir erzählen können“ (17), fand statt in der Zeit nach dem „Bruch mit der europäischen Denktradition“ (30), eingeleitet durch Marx, Nietzsche und Kierkegaard. Unter den Bedingungen dieses Bruchs seien die Konzepte und Begriffe der Philosophiegeschichte nicht mehr geeignet, die Phänomene der politischen Gegenwart zu deuten, und so begebe Arendt sich auf die Suche nach den kaum wahrgenommenen Bedeutungsschichten (201), um diese neu zu durchdenken. Dies tue sie – so Weißpflug – mit Hilfe der Literatur.

Obwohl die Wichtigkeit der Erzählung für Arendt an einigen Stellen angemerkt worden sei, werde „häufig vollkommen übersehen, dass die ‚schöne‘ Literatur eine zumindest ebenbürtige, wenn nicht sogar an vielen Stellen die bedeutendere Quelle für die Entwicklung ihres politischen Denkens war“ (127). Um dies zu zeigen, betrachtet Weißpflug Arendts Auseinandersetzungen mit Homer, Kafka, Conrad, Melville und Brecht genauer. Arendt gehe es darum, „wie Phänomene wie die totale Herrschaft, Imperialismus oder Politik überhaupt betrachtet und erfahren werden können“ (127). Die Erzählungen umstellen in gewisser Weise den einen und unverrückbar scheinenden Begriff, der als solcher nicht mehr angemessen vom Konkreten sprechen kann, und deuten ihn in verschiedener Weise. Weißpflug führt dies am Beispiel der Idee des Glücks vor, das in jedem Handeln liegt: Verschiedene Geschichten werfen ein je anderes Licht auf dieses und stellen es so immer wieder anders in Frage, wodurch ein multi-perspektivischer Blick ermöglicht wird (202). Ein solcher Umgang mit Erzählung berge außerdem die Möglichkeit, „ausgeschlossene oder nicht wahrgenommene Positionen auf die politische Bühne zu bringen“ (204).

Arendts besondere Haltung zeige sich in dieser Suche nach dem Konkreten sowie außerdem in ihrem Widerspruchsgeist und ihrem Mut, auch die eigene Meinung immer wieder in Frage zu stellen und nach „den blinden Flecken zu suchen“ (71). So gehe es nicht darum, „auf das eigene Urteil zu verzichten, sondern nur, es nicht für das einzig richtige zu halten“ (98). Die Gültigkeit eines Urteils bemisst sich nach Weißpflug nicht daran, ob es richtig ist, sondern an dem „Kommunikations- und Austauschprozess“ (85), den es ermöglicht, und so schlägt sie vor, Urteile „an ihrer Responsivität zu messen, an der Möglichkeit und Bereitwilligkeit sich auf die Perspektive der Anderen einzulassen“ (86).

Dem Urteil jeden Bezug zum Richtigen abzusprechen scheint allerdings unangemessen: Muss diese Haltung nicht auf einen Relativismus aller möglicher Meinungen hinauslaufen? Weißpflug begegnet diesem Einwand, indem sie sagt, ein solches Plädoyer klinge

nur auf den ersten Blick nach postmoderner Beliebigkeit, die auf Wahrheit vollständig verzichtet. Denn was bleibt, ist die Aufforderung Lessings: Ein jeder sagt, nicht was ihm gerade einfällt, sondern was ihm ‚Wahrheit dünkt‘. Die eigene Perspektive ergibt sich aus dem Unveränderlichen, das jeder Mensch mitbringt: seine Geschichte. Das bedeutet eben nur, dass wir uns im Bereich des Politischen nicht auf zeitlose Wahrheiten stützen können, sondern immer wieder neu beginnen müssen, darüber nachzudenken, was uns als Wahrheit erscheint, und es bedeutet auch, die Gültigkeit unserer Überzeugungen und die Grundlagen gesellschaftlichen Handeln stets aufs Neue zu überprüfen, zu hinterfragen und zu interpretieren. (99)

Den Standpunkt des Urteilenden auszuloten, sich der Frage zu stellen, was es heißen kann, ein Urteil für richtig und gleichzeitig für be-sprech-bar zu halten – anderen Meinungen gegenüber offen und zugleich von der eigenen gänzlich eingenommen – muss eine der wesentlichen Fragen in und an Arendts Werk bleiben.

Das Urteil also bedenkt das Einzelne und Konkrete – zugleich aus der eigenen Perspektive und möglichen anderen Sichtweisen. Dem Urteil gibt Arendt eines der Urteile Kants zum Vorbild, dasjenige allerdings, das man am allerwenigsten vermuten würde: das Geschmacksurteil. Arendt erläutert es in einer Vorlesung folgendermaßen: „Wenn Sie sagen: ‚Was für eine schöne Rose‘, so kommen Sie zu diesem Urteil nicht indem Sie zunächst einmal sagen: ‚Alle Rosen sind schön, diese Blume ist eine Rose, deshalb ist die Rose schön‘.“ (Arendt 2012: 26) Was im Geschmacksurteil also entgegentritt, ist nicht der allgemeine Begriff der Rose, sondern diese eine Rose selbst. Nun muss es zunächst verwundern, dass gerade das Urteil über das Schöne dasjenige sein soll, das über politische Fragen entscheidet, könnte es doch mit der vorherrschenden Vorstellung des Geschmacks gleichgesetzt werden: Jeder wertet bekanntlich, was ihm begegnet, in unterschiedlicher Weise, jedem Menschen gefallen verschiedene Dinge. Jedoch lässt sich über diesen Geschmack nicht streiten, er ist rein subjektiv. Nun ist das Urteil aber genau dadurch gekennzeichnet, dass es die Gemeinschaft als Ganze betrifft.

Im Gegensatz zum Geschmack, der dasjenige, was ihm gerade gegenübersteht, bewertet oder einordnet, beruht die Urteilskraft auf der Reflexion. Arendt spricht von der „Einschätzung von etwas entsprechend dem ihm eigenen Wert“, die nur möglich wird durch „Teilnahmslosigkeit und Uninteressiertheit“ (Arendt 2012: 104). Diese Reflexion über den Gegenstand ist möglich mit Hilfe der Einbildungskraft. Diese kann Abwesendes anwesend machen, um es dann aus der Erinnerung heraus beurteilen zu können. Für Arendt kann man ein Urteil nur als Zuschauer, als Außenstehender fällen, da ein Involviert-Sein jedes Urteil verhindert, das eine Art Objektivität mit sich bringen muss, um Urteil in ihrem Sinne genannt werden zu können. Der Urteilende muss uninteressiert sein, darf nicht zwischen den Dingen oder unter den zu beurteilenden Gegenständen stehen (inter-esse), da er so nicht das Ganze zu sehen imstande wäre. Das Urteil betrifft zwar das je Gegenwärtige, beurteilt dieses aber nicht unmittelbar, sondern bedarf der Reflexion. Solches Nach-denken muss einem jeden Urteil vorausgehen, es muss mithilfe der „erweiterten Denkungsart“ (Arendt 2012: 68), wie Kant sie nennt, zunächst von allen Seiten betrachtet werden. Arendt schreibt in Kants Sinne, dass ein Gespräch, das eine Bedingung dieser Denkungsart darstellt, nur möglich ist, „wenn man fähig ist, vom Standpunkt einer anderen Person aus zu denken; andernfalls wird man sie niemals erreichen, niemals so sprechen, daß sie einen versteht“ (Arendt 2012: 114).

Das Urteil müsse – so Weißpflug weiter – immer das Konkrete meinen, dürfe sich nicht im Allgemeinen auf Abstand halten, sonst stünde es sich Arendts „Auffassung nach selbst im Weg, da es sich in sich selbst verliert. Das Problem entspringt der Selbstbezüglichkeit des Denkens, das dazu neigt, abstrakte Fragen zu stellen, anstatt sich dem zuzuwenden, was wir eigentlich tun“ (90). Von diesen Ausführungen Arendts darauf zu schließen, sie wende sich vom Abstrakten ab – sie in diesem Sinne sogar als Rebellin gegen das Große (17) zu beschreiben – ist überzeugend. Allerdings spricht Arendt in dem Gespräch, aus dem der Ausspruch zur Rebellion stammt, von der Größe solcher politischen Systeme, die Bürokratien erforderlich machen. Es geht also um das Große, das Urteil und Gespräch verunmöglicht. In diesem Sinne ist es sinnvoll, zu sagen, sie wende sich in eben dieser Weise auch von den Allgemeinheiten der Philosophie ab und versuche, das Einzelne zu bedenken. Was aber für Arendt in den Schriften der genannten Autoren liegt, ist dennoch etwas Großes, nicht verstanden als etwas, das immer auf Abstand bleibt, sondern als etwas, das anspricht und das jedem Hörenden etwas Anderes erzählen kann. So schreibt sie über Kafkas Kunst, sie bestehe darin

daß der Leser eine bestimmte, vage Faszination die sich mit der unausweichlichen klaren Erinnerung an bestimmte, erst scheinbar sinnlose Bilder und Begebenheiten paart, so lange aushält und sie so entscheidend in sein Leben mitnimmt, daß ihm irgendwann auf einmal, aufgrund irgendeiner Erfahrung plötzlich die wahre Bedeutung der Geschichte sich enthüllt mit der zwingenden Leuchtkraft der Evidenz. (Arendt 1944: 96)

Diese Erzählungen sind also keineswegs nützlich, sie sind auch nicht einsetzbar für politische Ziele, da die Bilder der Erzählung „scheinbar sinnlos“ sind und sodann „plötzlich“ sich zu einem Bild zusammensetzen, über das sich sprechen lässt. Mit solcher Bedeutung aber lässt sich schwerlich rechnen, sie ist nicht lösungsorientiert, sondern ermöglicht gerade durch ihre Offenheit das Gespräch. So ist ein Denken, das sich im Allgemeinen aufhält, anstatt das Einzelne zu bedenken, für Arendt nicht deshalb problematisch, weil es nicht aktionistisch ist, sondern, weil es durch seinen Versuch, feste Wahrheiten zu setzen, zu Selbstverständlichkeiten neigt. Ein solches Denken sucht einen Abschluss und allzu sichere Erkenntnisse bergen immer die Gefahr, kurzerhand durch andere Überzeugungen ausgetauscht werden zu können. Arendt würde also sagen, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, sowenig wie die eine Geschichte. Was Wahrheit und Geschichte ist, muss immer wieder neu gefragt, immer wieder aus einer anderen Zeit und von anderer Perspektive aus betrachtet werden.

Was aber bedeutet es, dass es die eine Wahrheit nicht gibt? Es kann nicht heißen, dass es nichts Wahres gibt und jeder Gedanke relativ ist und bleiben muss; solcherlei Meinungen wären dann nichts weiter als jene austauschbaren Überzeugungen, die Arendt für höchst gefährlich hielt (vgl.: Arendt 2005: 88). Vielmehr muss die Frage nach der Wahrheit offenbleiben, trotzdem aber fragt sie nach der Wahrheit, einer Wahrheit jedoch, die nicht fassbar und fest ist, sondern sich uns nur im Denken und Sprechen mit anderen zeigen kann: nach dem, was ihm – dem Sprechenden – Wahrheit dünkt. Weißpflug spricht von dem „ewigen Sinn“ (206), der laut Arendt einer Geschichte innewohnt: Dies ist der Ort, um den das Denken kreist, wenn auch als ein Kreisen, das niemals enden kann, das keine Ziellinie kennt. Es gibt keine austauschbaren Meinungen, sondern einen ewigen Sinn, den es – immer wieder und von jedem Menschen als absolut Verschiedenem – zu befragen gilt. So sei eine Kritik, die sich diese Fragen stellt, immer auch eine „Probe auf Freiheit“ (268), in der sich zeigt, ob es einen Raum gibt, um „über unterschiedliche Wahrnehmungen, Perspektiven und Möglichkeiten zu streiten“ (269). Solche Kritik sei

gebunden an die Welt der Erfahrungen, der Erscheinungen. Sie ist der Einspruch des Konkreten, sie erhebt die Stimme im Namen der geteilten Welt, der sie eine Perspektive hinzufügt. Sie ist nicht Ausdruck einer Position, eines Dogmas, sie leitet sich nicht aus einer Theorie ab, sondern wird einzig und allein beglaubigt durch die Person, die sie äußert. (269)

Dieser Raum besteht laut Weißpflug aus zwei Welten: diese zu erschließen, bedeutet sowohl „das Finden einer bereits vorhandenen Welt als auch das (Er‑)Finden von etwas vollkommen Neuem. Diese Spannung zwischen ‚Weltfinden und Weltmachen‘ verleitet dazu, eine der beiden Seiten überzubetonen oder gar eine Seite gegen die andere auszuspielen“ (227).

Eine gänzlich gleiche Gewichtung dieser beiden „Welten“ scheint mir jedoch zu weit zu gehen. Weißpflugs Unterscheidung steht in engem Zusammenhang mit Arendts Trennung zwischen Handeln und Herstellen, wobei dem Herstellen eine grund-legende Rolle zukommt, die beiden Tätigkeiten aber trotzdem nicht einfach als gleichwertige auftreten. Was sich also „finden“ ließe, wäre wohl immer nur das Hergestellte, das Beständige der Welt. In diesem Sinne spricht Weißpflug davon, Arendt betone die Bedeutung einer stabilen, dauerhaften gemeinsamen Welt (227). Die hergestellte Welt, innerhalb derer die Menschen sich versammeln und sich als Gleiche begegnen können, stellt die Voraussetzung für Gespräch und Urteil dar. Sie ist aber nicht die Welt, um die es Arendt als demjenigen Raum geht, der das Neue ermöglicht. Diese zweite Welt ist immer nur in dem Moment, in welchem Menschen miteinander sprechen, in dem sie gemeinsam denken; sie ist der Zwischen-Raum, der sich immer dort bildet, wo Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen:

Ihn unterscheidet von anderen Räumen, die wir durch Eingrenzungen aller Art herstellen können, daß er die Aktualität der Vorgänge, in denen er entstand, nicht überdauert, sondern verschwindet, sich gleichsam in nichts auflöst, und zwar nicht erst, wenn die Menschen verschwunden sind, die sich in ihm bewegen […], sondern bereits, wenn die Tätigkeiten, in denen er entstand, verschwunden oder zum Stillstand gekommen sind. (Arendt 2010: 251)

Dieser Raum, in dem die Fragen nach Welt, Gerechtigkeit, Freiheit, offen und neugierig gestellt werden, ist kein Ort für konkrete Zielsetzungen und sozialen Wandel. Es sollte also nicht darum gehen, ein „Maß zur Beurteilung“ (208) in Arendts Schriften zu suchen, sondern um die Frage, welche Möglichkeiten die Sprache der Literatur bieten, die dem alltäglichen Sprechen fehlt. Hier liegt das große Potenzial von Weißpflugs Versuch, die Rolle der Literatur für Arendts Theorie auszuloten: Die Aufmerksamkeit zu schärfen für dasjenige, was Arendt in der Literatur sah und auch für die Eigenart, in der sie selbst sprach. So wirft sie ein neues Licht auf Arendts Theorie, indem sie nach dem Wie fragt, nicht nach dem Was.

Die Gefahr dieser Lesart aber liegt darin, Arendts Umgang mit Literatur als Mittel zu deuten, um ihre Theorie fruchtbar machen zu können in einem Sinne, der ihrer eigenen Haltung – nicht zu wirken, sondern zu verstehen – nicht gerecht werden kann. Weißpflug jedoch scheint gerade dies zu versuchen, die „narrative Methode“ (Weißpflug 2014: 212) anzuwenden und nutzbar zu machen, sieht darin aber auch die Gefahr eines „offenen Relativismus“: „Im Roman, in der Welt des Fiktiven, mag dieser Einwand kein großes Gewicht haben. […] Doch mit der Übertragung von ästhetischen Kategorien auf den Bereich des Politischen wird dies problematischer.“ (208)

Dennoch unternimmt Weißpflug im letzten Teil ihres Buches einen solchen Versuch der Anwendung, indem sie sich dem Problem des Klimawandels zuwendet:

Die Auswirkungen von Natur und Naturzerstörung auf den Menschen sind so vielfältig und komplex wie die Natur und die Menschen selbst. Wir können diese Dinge durchaus benennen und beklagen, aber in dieser abstrakten Form regen die Darstellungen nicht zum Handeln an, sondern scheinen eher zu lähmen. Statt einer großen, aber abstrakten Erzählung der Zerstörung der Natur durch den Menschen sollten wir konkrete, dichte Beschreibungen und erfahrungsgesättigte Erzählungen über die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt suchen und weitererzählen. (259)

Die abstrakten Erzählungen lähmen – sie lähmen aber nicht, weil es ihnen an Realität fehlt, sondern weil sie auf Abstand gehalten und zum Un-beurteilbaren stilisiert werden. Über die Natur, über die uns allen gemeinsame Welt zu sprechen und all die uneindeutigen Erzählungen gemeinsam zu durchdenken, uns von ihnen aus unserer Gegenwart heraus zu erzählen und uns so eine Welt zu schaffen, in der wir – als wir selbst – erscheinen können, ist die unendliche Möglichkeit, die in jeder Erzählung liegt. Weißpflug schreibt in diesem Sinne, scheinbar hin- und hergerissen zwischen dem Nutzen und der Möglichkeit:

Im Mittelpunkt sollte dabei aber nicht die Frage stehen, inwiefern die Theorie in der Wirklichkeit nützlich sein oder angewendet werden kann, sondern die kritische Befragung unserer Gegenwart vor dem Hintergrund bereits gemachter Erfahrungen und auf eine Zukunft hin, die offen ist für das Neue, für Perspektiven der anderen, für eine gemeinsame Welt. (220)

Nun könnte man sicherlich einwenden, mit Literatur werde kaum etwas am Klimawandel oder gar die Welt verändert. Die Frage ist aber, was Veränderung hier meint: eine neue, eine menschliche Auseinandersetzung oder eine Verbesserung der Lage. Arendt, so ist in ihrem berühmten Gespräch mit Günter Gaus zu hören, ging es nie darum, zu wirken, sondern darum, zu verstehen (Arendt 2006: 48). Verstehen aber heißt für sie „denkend über [etwas] sprechen“ (Arendt 2010: 10). Die uns allen gemeinsame, ja nur durch und zwischen uns seiende Welt also verstehen, sie durchdenken und darüber sprechen wollen, das ist es, worum es gehen muss. Das ist es, was Welt in Arendts Sinne überhaupt erst schaffen würde.

Die Entdeckung der Literatur als demjenigen Ort, an dem Erfahrung zu Sprache wird und diese Sprache ins Denken treibt, sollte meiner Meinung nach nicht auf eine „Übertragung von ästhetischen Kategorien auf den Bereich des Politischen“ (208) reduziert werden. Arendt war mitnichten darum bemüht, Erzählung als Mittel bloß zu verwenden. In ihren Schriften erzählt sie von demjenigen, was sie in ihnen gehört hat und tritt über dieses Gehörte in einen Dialog. Die Erzählung ist also niemals bloß „eine Welt des Fiktiven“ (208), in der dem Erzählten kein Gewicht beigemessen würde. Arendt spricht nicht von Homer, lässt nicht Kafkas oder Melvilles Erzählungen aufleben, weil sich in ihnen eine Alltäglichkeit genauer beschauen ließe. In diesen Erzählungen ist es gerade das Unbestimmte, das nicht klar Benannte, das nicht bloß Informierende und Erläuternde, das für ein gemeinsames Urteil offen ist und öffnet. Das Fatale der gegenwärtigen „Erzählungen“ von der Naturzerstörung scheint mir nicht ihre Abstraktheit, sondern ihre Verflachung zu sein. Es gibt keine offenen Räume, an denen die Probleme unserer Zeit ohne Einschränkung, ohne Ausschluss und Abgewandtheit diskutiert und beurteilt werden können.

Offenheit in Arendts Sinne bedeutet aber auch nicht, jede Meinung einfachhin zu akzeptieren und womöglich noch nach Zahlen zu entscheiden. Meinungen können einseitig bleiben wollen, ausschließen, Vorurteile unterstützen. Es geht nicht um „blind bestimmte, […] von anderen vertretene Ansichten“, nicht um „Einfühlung“ oder darum, „irgendeine Majorität zu ermitteln“ (Arendt 2016: 342). Vielmehr geht es darum, „mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden“ (Arendt 2016: 342). Die Möglichkeit, die in der Erzählung liegt, ist meiner Ansicht nach ihre Offenheit für Interpretation, Interpretation aber im Sinne von Arendts Verstehen, das nicht einfach verschiedene Ansichten meint, sondern den Sinn, der in der Erzählung liegt – und der sich uns jetzt, im Lichte des Heutigen, zeigt – zu entdecken und den Versuch zu wagen, über ihn zu sprechen. So schreibt Arendt über eine große Erzählerin: „Das Geschichtenerzählen enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen.“ (Arendt 2001: 119) Insofern macht Weißpflug hier eine neue und fruchtbare Perspektive stark, die oftmals überzeugend und originell ist, an einigen Stellen aber ihr eigenes Motiv nicht ernst genug nimmt und so das Außergewöhnliche, das in Arendts Zusammen-Denken von Literatur und politischem Urteil liegt, fast übersieht.

Literatur

Arendt, Hannah. Das Urteilen: Texte zu Kants politischer Philosophie. München: Piper 2012.

Arendt, Hannah. „Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto.“ In: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, 73–115. München: Piper 2005.

Arendt, Hannah. „Fernsehgespräch mit Günter Gaus. (Oktober 1964).“ In: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, 46–72. München: Piper 2006.

Arendt, Hannah. „Franz Kafka: A Revaluation.“ In: Partisan Review II/4 (1944), 412–422.

Arendt, Hannah. „Isak Dinesen.“ In: dies.: Menschen in finsteren Zeiten, 107–124. München: Piper 2001.

Arendt, Hannah.Vita activa. oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2010.

Arendt, Hannah. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper 2016.

Disch, Lisa Jane. Hannah Arendt and the Limits of Philosophy. Ithaca/London: Cornell University Press 1994.

von Redecker, Eva. Gravitation zum Guten. Hannah Arendts Moralphilosophie. Berlin: Lukas Verlag 2013.

Weißpflug, Maike. „Erzählen und Urteilen. Narrative politische Theorie nach Hannah Arendt.“ In: Narrative Formen der Politik. Hrsg. v. W. Hofmann et al., 209–225. Wiesbaden: Springer VS 2014.

Zerilli, Linda. A Democratic Theory of Judgment. Chicago: The University of Chicago Press 2016.

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