Zeitschrift für philosophische Literatur 8. 2 (2020), 65–75

Marchart, Oliver/Martinsen, Renate (Hg.): Foucault und das Politi­sche. Transdisziplinäre Impulse für die Politische Theorie der Gegen­wart. Wiesbaden: Springer VS 2019. 384 Seiten. [978-3-658-22789-0]

Rezensiert von Hannah Klein (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)

Der von Oliver Marchart und Renate Martinsen herausgegebene Sammelband geht auf die Tagung „Foucault Revisited" zurück, die am 4. und 5. November 2016 an der Universität Wien stattfand. Der neunzigste Geburtstag Michel Foucaults war Anlass, die aktuelle Rezeption seiner Methode und seiner Be­griffe innerhalb der politischen Theorie zu reflektieren und weiterzudenken. Um die transdisziplinären Überlegungen Foucaults, die sich in seinen philoso­phischen, wissenschaftshistorischen, politischen und literaturkritischen Tex­ten finden, für politische Phänomene fruchtbar zu machen, ist ein weiter Be­griff des Politischen erforderlich, den die Herausgeber*innen in der Einlei­tung ausloten.

Foucault ist nicht als Politikwissenschaftler im Sinne eines Analytikers konkreter politischer Institutionen in den politiktheoretischen Kanon einge­gangen, sondern als ein ‚Denker der Politik’, dessen Politikbegriff weit über eine Institutionenlehre hinausgeht und Machtverhältnisse wie auch Subjekti­vierungsprozesse auf allen gesellschaftlichen Ebenen des Zusammenlebens sichtbar macht. Durch seine genealogische Kritik stellt er Offensichtliches infrage und lässt scheinbar Natürliches als Ausdruck bestimmter Machtverhältnisse sichtbar werden. Sein Denkstil könne somit „als genuin politisch" (4) charakterisiert werden. Die erneute Auseinandersetzung mit einem Denker wie Foucault, der die Begriffe der Politischen Theorie nach wie vor ins Wanken bringen kann, soll, so die Herausgeber*innen, dazu beitragen, „die politische Theorie zu sensibilisieren für die umkämpften sinnstiftenden Annahmen, die in ihre eigenen Begrifflichkeiten und Definitionen politischen Handelns eingelagert sind" (5).

Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, gruppieren sich im Sammelband, anknüpfend an die Struktur der Tagung, 16 Aufsätze zu drei Teilbereichen: ‚Theorie’, ‚Vergleich’ und ‚Problematisierung’. Allen Bereichen ist gemein, dass sie das Potential der Denkfiguren ‚Freiheit’, ‚Macht’ und ‚Subjekt’ für politische Mobilisierungsprozesse erfragen. Daran anknüpfend spielen die Begriffe ‚Widerstand’, ‚Kritik’ und ‚parrhesia’ sowie ihr möglicher Zusammenhang eine zentrale Rolle. Im ersten Teil des Bandes loten die Autor*innen Grundprobleme der politischen Theorie mithilfe der Schriften und Vorlesungen Foucaults aus. Dabei tragen die begrifflich präzisen Ausarbeitungen der Dynamik von Foucaults Begriffsarbeit Rechnung und erklären ihre Stellung und Einordnung in dessen Gesamtwerk. Dieser Teil liefert den Leser*innen bereits ein Repertoire von Begriffen, die im zweiten Teil mit Denkfiguren anderer Autor*innen ins Verhältnis gesetzt werden. So werden etwa Nietzsches Wille zur Macht, Rancières Unvernehmen oder Bourdieus Staatsdenken in den Blick genommen und zu Foucault ins Verhältnis gesetzt. Im letzten Teil widmen sich die Autor*innen der Herausforderung einer möglichen Aktualisierung der Begriffe und Methoden Foucaults. So werden gesellschaftliche Phänomene wie die europäische Asylpolitik oder neue biopolitische Experimente im Blickfeld einer post-pharmazeutischen Vision „mit und nach Foucault" (4) problematisiert. Im Folgenden werde ich je zwei Aufsätze aus den jeweiligen Teilen ausführlicher vorstellen und abschließend ein Resümee ziehen.


I.

Den Auftakt des Bandes gibt Philipp Sarasin, indem er eine Wende in Foucaults Denken des Subjekts konstatiert. Diese Wende stehe in einer engen Verbindung zu Foucaults Auseinandersetzung mit der iranischen Revolution 1978, die er vor Ort als Reporter begleitete. Mit den Vorlesungen zur Gouvernementalität (1978/1979) überraschte Foucault seine Zuhörer*innen am Collège der France: Hier schärft er erstmals den Blick für ein Verhältnis von Freiheit und Subjekt, das sich von frühen Texten unterscheidet und ein verändertes Subjektverständnis erkennbar werden lässt. Dem Subjekt, so Sarasin, eröffne sich nun erstmals auch in Foucaults theoretischen Reflexionen die Möglichkeit der „Entunterwerfung" (14). Mit dem Verweis auf Foucaults 1978 gehaltenen Vortrag Was ist Kritik? führt Sarasin Kritik als einen der zentralen Begriffe in den Sammelband ein, der auch in den folgenden Aufsätzen im Fokus steht. Und zwar zum einen als Begriff, aus dem sich eine theoretische Reflexion ergibt, und zum anderen, als Konzept mit dem die Möglichkeiten des Subjekts zum emanzipatorischen Sprechen ausgewiesen werden können. Sarasin verweist auf einen ersten Definitionsversuch des Begriffes der Kritik: „die Kunst nicht (dermaßen) regiert zu werden" (Foucault 1992: 12). Ein Satz, der sich anschließend fast durchgängig durch den ersten Teil des Sammelbandes zieht und der als Beschreibung des Ziels einer jeden Emanzipationsbemühung gelesen werden kann. Die Bestimmung der Funktion der Kritik als Entunterwerfung lässt, so Sarasin, die Idee der Entunterwerfung von Individuen ab 1978 überhaupt erst entstehen und, abseits des Wahnsinnigen, der Lüste und Körper, erstmals auch theoretisch sichtbar werden. Sarasin verweist außerdem auf die zentrale Aussage Foucaults, dass sich der Regierungsintensivierung nicht „direkt die konträre Behauptung entgegengesetzt hätte: ‚Wir wollen nicht regiert werden und wir wollen rein gar nicht regiert werden!’" (Foucault 1992: 11). Der Liberalismus, so Sarasin, werde als die Regierungsform des „nicht-dermaßen-regiert-werdens" (13) beschrieben, die die Möglichkeit eröffnet „nicht von denen da“, „sondern eben von anderen” (13) regiert zu werden. Sarasins als Litotes geschmückte Aussage, dies sei „keine kleine Errungenschaft" (13), ist zuzustimmen. Allerdings fragt Foucault nicht nur nach Möglichkeiten, „nicht von denen da" regiert zu werden, sondern ebenso nach Möglichkeiten, inwiefern „nicht im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird" (Foucault 1992: 12), worauf Sarasin nur sporadisch Bezug nimmt und damit Teile der Vorlesung unterbelichtet lässt. Diese Frage nach anderen Praktiken und Verfahren fordert eben auch eine ständige Infragestellung der Herrschaftspraktiken und ihrer Rechtfertigungen des herrschenden politischen Systems und in diesem Sinne muss auch der Liberalismus kritisierbar bleiben.

Die radikale Freiheit des Subjektes wird in Sarasins Argumentationsweise als Voraussetzung einer kritischen Haltung sichtbar. Dieser Problematik widmet sich Karsten Schubert in seinem Aufsatz, in dem er Freiheit bei Foucault als Fähigkeit zur Kritik der eigenen Subjektivierung beschreibt und postuliert, dass diese Fähigkeit selbst wiederum abhängig von freiheitlicher Subjektivierung sei. Um sich den damit verbundenen Schwierigkeiten anzunähern, zeichnet er prominente Foucault-Interpretationen nach, darunter die von Martin Saar, Amy Allen und Thomas Lemke. In den Thesen Thomas Lemkes will Schubert eine anarchistische Lesart Foucaults erkennen, die zwar dazu beitrage, das Freiheitsproblem der Machtdetermination des ‚frühen’ Foucault zu lösen, keineswegs aber das Freiheitsproblem der Subjektivierung (vgl. 54). Subjekte hätten zwar die Freiheit anders zu handeln, nicht aber die Freiheit zur Kritik (54), die selbst eine freiheitliche Subjektivierung voraussetze. Nur ersteres könne mit dem ‚späten’ Foucault kohärent gelöst werden, weil er das Problem der Machtdetermination theoretisch auflöse und den Subjekten so den Möglichkeitsraum des Anders-Handeln-Könnens eröffne. Die Möglichkeit der Freiheit als Kritik sieht Schubert aber nur unzureichend beleuchtet und wirft Lemke vor, die Unterscheidung dieser beiden Freiheitsbegriffe zu übersehen und deswegen das Problem der Subjektivierung zu übergehen. Am Ende seines Aufsatzes stellt Schubert die für ihn entscheidende Frage, die mit den referierten Foucault-Interpretationen nicht beantwortet werden könne: „wie [kann] die institutionenkritische Kritik institutionalisiert" (61) werden? Der prädestinierte Ort der notwendigen Subjektivierungsregime, die die „Fähigkeit zur Kritik in allen Subjekten […] instantiieren" (61) sollen, sei die Bildungspolitik. Diese Forderung in Richtung Bildungspolitik bleibt konventionell und wenig weiterführend. Wo immer gesellschaftliche Probleme auftauchen, scheint es Aufgabe der Bildungspolitik und damit letztlich der pädagogischen Praktiker*innen, diese Missstände zu beheben. Leider spezifiziert Schubert nicht, wie eine solche freiheitliche Subjektivierung, die zur Freiheit als Kritik und damit zur Kritik von Institutionen befähigen soll, tatsächlich erfolgreich institutionalisiert werden kann, ohne dabei möglichen Protestbewegungen oder möglichem zivilen Ungehorsam jegliches subversive Potential zu entziehen. Es bleibt offen, wie eine freiheitliche Subjektivierung praktiziert werden kann, die tatsächlich die Befähigung zur Freiheit als Kritik sicherstellt, ohne nur eine Freiheit des Anders-Handeln-Könnens zu praktizieren. Gerade in den Subjektivierungsregimen der Gegenwart lassen sich Tendenzen erkennen, die dazu zwingen, frei zu sein und die Subjekte produzieren, die frei sind, das zu tun, was ihnen auferlegt wurde: es institutionalisiert sich ein Regieren über Freiheit (vgl. Lemke et al. 2015: 14–15; 29–31). In diesem Zusammenhang sollte das Plädoyer Saars für die genealogische Kritik verteidigt werden, um auch diejenigen Institutionen, die freiheitliche Subjektivierung vorantreiben, immer wieder auf die Angemessenheit ihrer Regierungsweise hin zu befragen. Die „genealogische Kritik des Selbst [als] eine politische Praxis" (Saar 2007: 295) steht meines Erachtens nicht im Widerspruch zu Schuberts Ausführungen zur Freiheit als Kritik.

Thomas Lemke fragt in seinem Aufsatz „Eine andere Vorgehensweise" nach den Möglichkeiten einer experimentellen Kritik, als einem Akt, durch den sich das Subjekt innerhalb eines moralisch-ethischen Horizonts formiere und positioniere. Mit dem Aufsatz von Anna Wieder rückt zum ersten Mal die politische Praxis des Wahrsprechens (parrhesia) in den Vordergrund und wird anhand der Figur des antiken Kynikers vorgestellt: erst durch das „Ineinanderfallen" von Subjekt und gesprochener Wahrheit durch „das provokante Ins-Werk-Setzen eines ‚anderen Lebens’ [eröffnen sich] politische Möglichkeitsräume" (65). Der erste Teil schließt mit einem Text von Andreas Folkers, der eine Verbindung zwischen der ‚Genealogie der Kritik’ und der ‚Politik der Wahrheit’ beschreibt.


II.

Im zweiten Teil des Bandes liefern die Autor*innen aufschlussreiche Vergleiche mit anderen Theoretiker*innen und eröffnen so konstruktive Diskussionen über Potenziale und Probleme in Foucaults Werk. So setzt Kerstin Andermann Foucaults Begriff der Macht begriffsgeschichtlich mit Spinoza, Nietzsche und Deleuze ins Verhältnis und zeigt damit auf, dass sich in Foucaults Werk eine Metaphysik der Macht findet, die ein sehr viel komplexeres Netz von Machtrelationen spannt, als der ihm vorgeworfene dualistische Macht-Ohnmacht-Komplex. Alexander Struwe rekonstruiert Thesen von Louis Althusser und stellt sie denen Foucaults gegenüber, um sie als divergente Antworten auf dieselbe Problematik zu begreifen: die Enttäuschung über das Versagen der Theorie und einer vom Marxismus sich abwendenden Linken der 1968er Jahre. Althusser halte am ‚Primat der Determination’ fest, während Foucault auf ein ‚Primat der Kontingenz’ verweise, was innerhalb der theoretischen Reflexion „eine Kritik der alten Autoritäten" und eine „Mikropolitik des subjektiven Widerstands" (139) ermögliche. Mit Foucaults Konzept der Disziplinierung von Körpern setzt sich Daniel Witte auseinander und stellt es den Konzepten des Affekthaushalts von Norbert Elias und der Durchsetzung von Denk- und Wahrnehmungsschemata von Pierre Bourdieu gegenüber. Er prüft die Befunde auf ein „mögliches gemeinsames Erbe der Soziologie Max Webers" (214) hin. Der Theorievergleich schließt mit dem Beitrag von Hagen Schölzel, der unterschiedliche Bezugnahmen auf den Begriff der politischen Ontologie(n) in Foucaults Werk diskutiert: darunter Gilles Deleuze, Ian Hacking, Bruno Latour und Oliver Marchart.

Die Aufsätze von Katharina Hoppe, Gerald Posselt und Sergej Seitz, ergänzen sich hervorragend in ihrem Vorhaben, der Frage nach politischer Emanzipation nachzugehen, ohne in ihrer Kombination redundant zu werden. Katharina Hoppe analysiert Foucaults Vorstellung einer ‚Politik der Wahrheit’. Sie setzt der Diagnose eines „postfaktischen Zeitalters" Foucaults Begriff des ‚Wahrsprechens’ und Donna Haraways Begriff des ‚Bezeugens’ entgegen. Auf diese Weise zeigt sie den wichtigen Unterschied zwischen „radikalem Relativismus" (180) und der Analyse der „intrinsischen Beziehungen von Wahrheit und Macht" (180) auf. Ihr Bezug auf die Vorwürfe, das „postfaktische Zeitalter" sei durch die Dekonstruktion von Wahrheit in den sogenannten poststrukturalistischen Theorien und die alles relativierende „Postmoderne" vorangetrieben worden, könnte kaum brisanter sein. Hoppe positioniert sich entschieden dagegen und bemerkt:

‚Wahrheiten’ müssen vor dem Hintergrund der historischen Apriori verstanden werden, die sich beständig verschieben. Diese variieren und mit ihnen jene Kriterien für das, was als ‚wahr’ gilt. Ebenso sind die Subjektpositionen, die ‚wahr’ sprechen können, historisch variabel und daher veränderbar: Ohne diese Einsicht wäre weder Geschichte noch Emanzipation denkbar. (180)

Mir der Verwendung des Plurals von „Wahrheit" lässt sich eine weitere wichtige Verbindung zu Donna Haraway ziehen, die die Produktion einer Vielzahl konkurrierender Wahrheiten betont. Die Verwobenheit von Macht und Wahrheit, die Katharina Hoppe im Anschluss an Foucault und Haraway herausarbeitet, bietet eine Vorlage, um den eigentlichen Ansatzpunkt gegen den Einzug von Fake News und den des „Alles-Sagen-Können" weiterzudenken. Um dem zu begegnen, gilt es, das Verhältnis von Wahrheit und Politik zu analysieren. Statt eine unfehlbare wissenschaftliche Wahrheit anzurufen, sollten ausführliche Argumentationen für die Rechtfertigung bestimmter Wahrheiten eingefordert werden.

An Katharina Hoppes Verweis auf Emanzipationsmöglichkeiten schließt der darauffolgende Beitrag „Sprachen des Widerstandes" von Gerald Posselt und Sergej Seitz an. Immer mehr rechtspopulistische und rechtsextreme Akteure nehmen „emanzipatorische Formen der Wortergreifung" (185) für sich in Anspruch, was dazu führt, dass scheinbar nicht alle Formen emanzipatorischer Artikulation auf der Idee von Gleichheit, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit aufbauen. Durch eine spannende Verknüpfung des Denkens von Foucault und Jacques Rancière versuchen die Autoren normative Kriterien politischer Artikulationen ausfindig zu machen. Sie positionieren sich mit ihrer Argumentation entschieden gegen das oft postulierte Normativitätsdefizit poststrukturalistischer Theorien. Emanzipatorisches Sprechen wird verstanden als die Infragestellung von „hegemoniale[n] Macht- und Diskursregime[n] durch die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren und Unsagbaren" (187) und wird mit Foucaults Begriffen der Kritik und des Wahrsprechens ins Verhältnis gesetzt. Bei der Herausarbeitung normativer Kriterien für politische Sprechakte ließen sich, so die Autoren, Grenzen der Theorie Foucaults und Rancières erkennen, weil sie Gefahr liefen entweder die ethische Dimension (Rancière) oder die politische Dimension (Foucault) des widerständigen Sprechens zu überhören. Es folgt eine Verbindung der Denkfigur der parrhesia und des ‚Unvernehmens’, um die ethisch-politische Dimension der Sprache zu erfassen. Mit Verweis auf Rancière machen die beiden Autoren ein dissensuelles Politikverständnis stark, bei dem Politik nicht darin besteht, dass privilegierte sprechende Subjekte sich über zukünftige Politiken einigen, sondern „[e]s gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen" (191). So wird widerständiges Sprechen mit der Idee der radikalen Gleichheit verknüpft, in der alle Menschen in der Lage seien, die bestehende hegemoniale Ordnung mit einem Moment der Störung und Unterbrechung zu konfrontieren, in dessen Folge eine Neuordnung des sinnlich Wahrnehmbaren vollzogen würde (vgl. Rancière 2018: 125–129).


III.

In Teil drei des Bandes wird eine Bandbreite gesellschaftlicher Phänomene mit und nach Foucault problematisiert und seine Analysen werden auf ihre Aktualität hin überprüft. Dabei fällt gleich der erste Beitrag von Matthias Bohlender etwas aus der Reihe, weil dieser mit Foucault das Kommunistische Manifest, bei dem es sich um „einen der bedeutendsten politischen und zugleich politiktheoretischen Texte des 20. Jahrhunderts" (257) handle, neu in den Blick nehmen möchte und damit nicht unmittelbar an konkrete politische Situationen des 21. Jahrhunderts anschließt. Christian Haddad sucht die Aktualität von Foucaults Konzept der Biopolitik durch Analysen im Feld der regenerativen Stammzellenmedizin aufzuzeigen und beschreibt die Artikulation der „Vision einer post-pharmazeutischen Gesundheit" (284). Exemplarisch an der Dreyfus-Affäre orientiert, reflektiert Jan Christoph Suntrup das analytische Potential der Parrhesia-Vorlesungen für die politische Theorie und nimmt dazu abschließend auch das „Sprechen im Namen der Wahrheit" (330) der „Neuen Rechten" in den Blick.

Der Aufsatz „‚Pest’ und ‚Lepra’" von Mareike Gebhardt analysiert die europäische Asylpolitik und konstatiert eine Verbindung der in Überwachen und Strafen herausgearbeiteten Bekämpfungsstrategien für Pest und Lepra. Die Asylpolitik könne als ein Verfahren beschrieben werden, in dem sich Strategien der Unsichtbarkeit (Lepra) und Sichtbarkeit (Pest) verbinden und eine neue Macht entfalten. Gebhardt spricht von einer „Verzahnung von Ein- und Ausschluss" (316), die sich einerseits darin zeige, dass Geflüchtete für die ‚Normalbevölkerung’ unsichtbar blieben, indem sie in Gemeinschaftsunterkünften an den Rändern der Gesellschaft, oder in Sammellagern jenseits der europäischen Außengrenzen, untergebracht werden. Andererseits gebe es inzwischen einen enormen administrativen Apparat, durch den die Individuen behördlich erfasst und identifiziert werden: „Die administrative Totalsichtbarkeit verschränkt sich im Asylregime mit einer lebensweltlichen Totalunsichtbarkeit" (317). Wobei mir die Annahme einer Totalunsichtbarkeit zu undifferenziert erscheint: die schrecklichen Anschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten stellen die These der Totalunsichtbarkeit infrage – auch wenn sich die Gewalttaten meist gegen ein homogenisiertes Kollektiv richten. So fruchtbar der Anschluss an die von Foucault herausgearbeiteten Mechanismen ist, erkennt Gebhardt auch Grenzen der foucaultschen Begriffe. Durch den Analyseansatz in Überwachen und Strafen seien die Geflüchteten und Asylsuchenden nicht aus dem Mechanismus der Viktimisierung herauszulösen und könnten so nicht als aktive Akteure widerständigen Sprechens sichtbar werden. Um diesem Problem zu begegnen und autonome Grenzüberschreitungen von Geflüchteten analysieren zu können, verweist Gebhardt unter anderem auf Judith Butler, die mit ihrem Konzept des „right to appear" (326) für ein Recht von Personen eintritt, sich auch gerade gegen geltendes Recht durch politische Handlungen „aus einer vermeintlichen Passivität zu erheben" (326). Allein das Recht zu haben, zu erscheinen, steht meines Erachtens allerdings noch nicht im Kontrast dazu, dass Personengruppen nicht als politische Akteure sichtbar werden. Unausgeführt bleiben im Aufsatz Gebhardts die zentralen Ausführungen Butlers zu der Frage nach den Bedingungen eben dieses Erscheinens, die für sie gerade nicht bloß an die konkrete politische Verbalisierung gebunden sind, sondern sich schon durch verkörperte Performativität vollziehen, ob dazu Worte verwendet werden oder nicht:

[S]ich zeigen, stehen, atmen, sich bewegen, reden und schweigen sind alle samt Aspekte einer politischen Versammlung […] Die versammelten Körper »sagen«, dass sie nicht frei verfügbar sind, auch wenn sie nur still dastehen. (Butler 2018: 29)

Clemens Reichhold argumentiert im Aufsatz „Foucault, die Linke und seine Kritik des Neoliberalismus“, dass sich Thesen, die eine Nähe Foucaults zum Neoliberalismus konstatieren, vor allem aus „kleinere[n] politische[n] Interventionen Foucaults” (335) speisen würden und weniger aus einer theorieimmanenten Darlegung. Sein Ziel ist „eine Re-Lektüre von Foucaults Analysen des Neoliberalismus, die seinem politischen Engagement in dieser Zeit Rechnung tragen" (355). Michael C. Behrents und Daniel Zamoras Werk Foucault and Neoliberalism wirft er vor, Foucaults Theorie als eine konkrete Intervention in politische Konflikte einer bestimmten historischen Situation zu vereinseitigen, womit sie der „Akademisierung politischen Denkens" (356) vorbeugen würden. Ein methodischer Ansatz, den Reichhold grundsätzlich für wünschenswert erachtet, da er das Bild der ‚großen Denker’ auf konkrete historische Situationen und Kontexte umlenkt. Trotzdem zeigt er auf, dass die politischen Artikulationen Foucaults, die von den sogenannten „neuen Philosophen" (364) zur Interpretation herangezogen werden, nicht verallgemeinerbar für eine Positionierung Foucaults stehen können. Er exemplifiziert seinen Standpunkt mit der wohlwollenden Rezension, die Foucault zu André Glucksmanns Meisterdenker schrieb, die Aufsehen erregte, weil Glucksmann gegen die Linke Position bezog. Reichhold will die Rezension Foucaults als Polemik gegen die Idee eines revolutionären Klassenkampfes im maoistischen Lager der Linken lesen (vgl. 366, Fußnote 25). Die verschobene Interpretation der Rezension durch Zamora und Behrent sei hingegen Folge einer Vernachlässigung der theoretischen Entwicklung Foucaults, in der das Motiv der Staatsfeindschaft keineswegs normative Leitlinie sei – teilweise sogar vehement abgelehnt würde (vgl. 366–367). Foucault setzt sich demgegenüber intensiv mit dem von ihm benannten Phänomen der „Staatsphobie" (Foucault 2004b: 262; Foucault 2015: 68–71) auseinander und kritisiert das „Zerrbild eines grenzenlos wachsenden Staats" (371), um die analytischen und politischen Schwächen dieser Staatsphobie aufzuzeigen. Reichhold stellt dar, dass eine anti-staatliche Haltung, die Foucault von Teilen der Rezeption vorgeworfen wird, keineswegs mit einer Affirmation des Neoliberalismus einhergehen müsse, denn ein neoliberaler Staat sei „fern davon, ein passiver Staat zu sein" (373). In Foucaults Worten:

Der Neoliberalismus stellt sich also nicht unter das Zeichen des Laissez-faire, sondern im Gegenteil unter das Zeichen der Wachsamkeit, einer Aktivität, einer permanenten Intervention. (Foucault 2004b: 188)

Der Aufsatz bildet mit der Wiederaufnahme der Diskussion um die Vorlesungen zur Gouvernementalität und Foucaults Position zum Neoliberalismus und zur Linken einen guten Abschluss des Sammelbandes, indem die eingangs von Philipp Sarasin berührten Punkte wieder aufgegriffen werden. Die Beiträge zeigen dabei, wie diskussionsbedürftig die Vorlesungen zur Gouvernementalität nach wie vor sind.


IV.

Dem Band gelingt es insgesamt, eine breite und gleichzeitig präzise Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Macht’, ‚Subjekt’, ‚Widerstand’, ‚Kritik’ und parrhesia zu liefern und damit Foucaults Aktualität für eine politische Theorie der Gegenwart auszuloten. Sie zeigen die Relevanz dieser foucaultschen Denkfiguren auf und schaffen durch den starken Einbezug der erst in den letzten Jahren veröffentlichten Vorlesungen Foucaults wie Die Regierung des Selbst und der anderen (1982–1983) und Der Mut zur Wahrheit (1983–1984) einen noch jungen Blick auf Foucaults Werk. Der Band schafft es darüber hinaus, ein weites Repertoire von unterschiedlichen Lesarten aufzuspannen. Wünschenswert wäre aber gerade im dritten Teil neben der Problematisierung gesellschaftlicher Zustände „mit und nach Foucault" (4) eine stärkere Problematisierung von Foucault und eine Konfrontation seiner Theorie mit drängenden Problemen der Gegenwart wie der Klimakrise, der beständigen Ausbeutung nichtmenschlicher Lebewesen sowie anhaltendem Rassismus und Sexismus. Auch wenn sich eine solche Liste wohl endlos erweitern ließe und keinesfalls von einem einzigen Sammelband abgedeckt werden kann, würde es Foucaults Theorie Rechnung tragen, seine Begriffe, wie dies im Beitrag von Mareike Gebhardt in Ansätzen nachzuvollziehen ist, mit den genannten Phänomenen zu konfrontieren. Dadurch können die Grenzen und Potenziale seiner Begriffe ausfindig gemacht werden und für mögliche Weiterentwicklungen fruchtbar werden. Denn so sinnvoll und erhellend sich die Analyse gesellschaftlicher Probleme mit der ‚Methode Foucault’ weiterhin darstellt, sollte eine Aktualisierung Foucaults für die politische Theorie der Gegenwart es nicht dabei bewenden lassen. Wie die Herausgeber*innen in der Einleitung festhalten, hat Foucault „nicht am Reißbrett eine Theorie entworfen" (4), sondern sein theoretisches Instrumentarium durch die Untersuchung von „konkrete[n] Praktiken in unterschiedlichen institutionellen und kulturellen Problemfeldern […]entwickelt" (4). Diese wechselwirkende Verbindung von Theorie und Praxis wird in den Beiträgen des Sammelbandes sogar umfassend nachgezeichnet und gewürdigt: Die Beunruhigung von Begriffen, die Aufrechterhaltung der Dynamik von Begriffen, die Bereitschaft die eigenen Begriffe im Laufe der Jahre wieder über Bord zu werfen, neu auszuloten und an der ein oder anderen Stelle zu konstatieren: „Nun gut, ich glaube, ich hatte unrecht" (Foucault 2004a: 78).

Literatur

Butler, Judith. Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2018.

Foucault, Michel. Was ist Kritik. Berlin: Merve, 1992.

Foucault, Michel. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004a.

Foucault, Michel. Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004b.

Foucault, Michel. Staatsphobie. In Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Hrsg. von Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 7. Aufl. 2015, 68–71.

Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich. Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Hrsg. von Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 7. Aufl. 2015, 7–40.

Rancière, Jacques. Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 7. Aufl. 2018.

Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a.M.: Campus, 2007.

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