Ferretti, Maria Paola: The Public Perspective. London: Rowman & Littlefield 2018. 196 Seiten. [978-1-78660-872-7]

Rezensiert von Mira Luca Wolf-Bauwens (Universität Zürich)

In The Public Perspective setzt sich Maria Paola Ferretti mit dem Thema der öf­fentlichen Rechtfertigung auseinander wie es in der liberalen politischen The­orie bereits viel diskutiert wurde. Ferrettis Fokus liegt dabei auf der Suche nach Gründen, die Perspektive der Öffentlichkeit (public perspective) einzu­nehmen. Ferretti bearbeitet dieses Thema, in dem sie zunächst den Zu­sammenhang zwischen öffentlicher Vernunft, Rechtfertigung und Überein­stimmung diskutiert. Sie zeigt damit auf, dass bestehende Theorien öffent­licher Rechtfertigung keine Antwort darauf finden, wie wir Gründe haben können, auch wenn sie den Test öffentlicher Rechtfertigung nicht bestehen (13–26).

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, wendet die Autorin sich unter anderem auch Lockes epistemischer Ethik zu und betont mit Locke die große Bedeutung des Prozesses der öffentlichen Rechtfertigung. Besonders hervorgehoben wird dabei Lockes Wahrscheinlichkeitsmethode zur Über­prüfung des Wahrheitsgehalts unserer Gründe und Glaubenssätze. Nachdem Ferretti Lockes Methode kritisch vorgestellt hat, diskutiert sie ebendiese im zeitgenössischen Kontext und schlägt vor, dass wir von Locke die Differen­zierung zwischen gebbaren und nicht-gebbaren Gründen übernehmen und im Kontext öffentlicher Rechtfertigung respektieren sollten. Nichtsdestotrotz kritisiert die Autorin in den Kapiteln fünf und sechs auch die Grenzen des Locke’schen Ansatzes, bevor sie im letzten Kapitel die Herausforderungen des Multikulturalismus bespricht. Sie schlägt vor, kulturell begründete Gründe als nicht-gebbare Gründe zu verstehen und diese aus Gründen des Respekts vor dem Individuum zu tolerieren.

Warum sollten wir die Perspektive der Öffentlichkeit einnehmen statt unsere private Perspektive aufrecht zu erhalten? Warum sollten wir gar nach objektiv gültigen Gründen zu suchen, wenn es darum geht, die Handlungen von Regierungen zu bewerten oder zwischen konkurrierenden gesellschaft­lichen Interessen zu entscheiden? Das ist die Kernfrage des Buches. Ferretti antwortet darauf, dass die Einnahme einer solchen Perspektive im Respekt für die autonomen und moralisch gleichen Akteure in unserer Gesellschaft begründet ist. Dabei geht es nicht um die spezifischen Werte oder Glaubenssätze, die die Individuen vertreten, sondern primär darum, alle Per­sonen als Ursprung valider Gründe zu verstehen. Ziel ist es, Gründe zu ge­ben, die aus der Perspektive der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden können. Ferretti definiert diese Form der öffentlichen Rechtfertigung als „soziale Praxis, in der Bürgerinnen sich verpflichten, nach Begründungen zu fragen und ebenso Begründungen [für ihre Glaubenssätze] zu geben; sowie dass sie ihre Glaubenssätze nach eine bestimmten Erkenntnistheorie formen“ (90, eigene Übersetzung).

Eine so strukturierte Perspektive der Öffentlichkeit kann allerdings nur dann möglich sein, mahnt Ferretti, wenn alle Mitglieder der Ge­sellschaft die Regeln einer bestimmten epistemischen Ethik befolgen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil von Ferrettis The Public Perspective ist also die Er­läuterung der Normen, nach denen sich Gründe formieren und re-formieren sollten. Ferretti argumentiert, dass eine solche Erinnerung an epistemische Normen gerade jetzt von besonderer Wichtigkeit ist: Die Rechtfertigung von Gründen aus der Perspektive der Öffentlichkeit ist laut Ferretti gerade in der von einigen Theoretikerinnen schon so beschriebenen Zeit der Post-Wahrheit besonders wichtig, da diese Praxis ihrer Meinung nach eine der Grundfesten der liberalen Demokratie ist.

Ferretti bettet ihr Argument in die gängigen Diskussionen der liberalen politischen Theorie ein. Die Hauptstränge der bestehenden Debatte sind auf die Theorien von Rawls und Gaus zurückzuführen. Ferretti diskutiert das von Rawls so genannte „Konsens-Modell“ (7) und das „Konvergenz-Modell“ (7) von Gaus. Sie stellt dabei fest, dass ein an ‚öffentlicher Rechtfertigung‘ fest­haltender Liberalismus zeigen muss, wie die Gründe, die wir haben, und die Gründe, die wir geben, zusammenhängen. Außerdem muss er zeigen, wie wir als private Individuen mit unseren Überzeugungen und den Gründen, die wir für unsere Überzeugungen haben, im Sinne einer öffentlichen Rechtfertigung umgehen sollten.

In ihrer detaillierten Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien öffent­licher Rechtfertigung konzentriert sich Ferretti auf Rawls. Das liegt unter anderem daran, dass sie Gaus’ Ansatz dafür kritisiert, dass er der Praxis der öffentlichen Rechtfertigung keine große Bedeutung zugesteht. Laut Gaus ist es ausreichend, wenn ein Gesetz aus jeder Perspektive gerechtfertigt ist – der Prozess dahin muss dabei aber nicht vollständig öffentlich sein und Indi­viduen müssen nicht zwingend wissen, dass das Gesetz gerechtfertigt ist (29). Genau darin liegt eines von Ferrettis Hauptanliegen: dass der Prozess der öffentlichen Rechtfertigung von großer Bedeutung ist, da er es ‚normalen Bürgerinnen‘ ermöglicht, die Perspektiven der anderen nachzuvollziehen (und damit nachzuvollziehen, dass das Gesetz in der Tat gerechtfertigt ist).

Ferrettis Argument fußt auf der von ihr vorgenommen Wiederbelebung Lockes. Ihr Ansatz kann auch als Appell für eine genauere Untersuchung und Reaktualisierung von Lockes Epistemologie verstanden werden. Locke ist da­bei von den Idealen der Aufklärung beeinflusst: er vertraut auf die allgemeine Fähigkeit zur autonomen Verwendung der Vernunft und die Möglichkeit einer allgemein gültigen Glaubensethik. Um herauszufinden, welche Glau­benssätze im öffentlichen Diskurs Gültigkeit haben sollten, und welche nicht, entwickelt Locke dabei die sogenannte ‚Wahrscheinlichkeitsmethode‘ (70 ff.). Nach dieser Methode werden Glaubenssätze und Gründe einem Test unter­zogen, der überprüfen soll, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Gründe oder Glaubenssätze wahr sind: „Eine Proposition P ist wahrscheinlich, wenn es vernünftig ist, zu denken, dass es der Fall ist, dass P, sogar dann, wenn die Gründe, die dies unterstützen, nicht vollständig schlüssig sind.“ (52, eigene Übersetzung). Als Beispiel führt Ferretti die Diskussion um das Rauchverbot in (semi-)öffentlichen Räumen an. Obwohl das Rauchen von Zigaretten zu­nächst nicht als gesundheitsschädigend verstanden wurde, gibt es heutzutage ausreichend Evidenz, um eine probabilistische Verbindung zwischen Rauchen und einem Schaden für die Gesundheit herzustellen, so dass nach der Wahr­scheinlichkeitsmethode der Glaube, dass Rauchen gesundheitsschädigend ist, gerechtfertigt ist.

Obwohl Ferretti durchaus einige kritische Anmerkungen dazu hat, ist sie der Meinung, dass der Wert von Lockes Methode bisher ver­kannt wurde und uns dabei helfen kann, auch in pluralistischen Gesellschaf­ten die Perspektive der Öffentlichkeit aufrecht zu halten. Ferretti setzt sich dabei in Kapitel fünf weiter kritisch mit den internen Problemen von Lockes Methode auseinander. Nach Locke sollen in Konfliktsituationen immer die Begründungen Gültigkeit bewahren, die am wahrscheinlichsten sind. Diese Methode, so Ferretti, funktioniert sehr gut, wenn es um technische Fragen geht; sie funktioniert jedoch weniger gut, wenn es um grundsätzliche (Wert-)Fragen geht.

Locke betont die Wichtigkeit der Selbstverpflichtung zum vernünftigen Räsonieren; also zum Hinterfragen von Informationen, zum Anwenden von logischen Regeln und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wie wir später noch deutlicher sehen werden, ist es eine von Ferrettis erklärten Absichten, dass ihr Argument im aktuellen politischen Kontext von Bedeutung ist. An dieser Stelle würde Ferrettis Argument daher deutlich gestärkt werden, wenn sie auch diskutieren würde, inwiefern Locke auch in einem Kontext überzeugen kann, in dem Bürger nicht selbstverständlich vernünftig räsonieren.

Ferrettis kritischer Beitrag zur zeitgenössischen Debatte wird zunächst im vierten Kapitel deutlich. Sie kritisiert die im Liberalismus nach Rawls oft vertretene Idee der vernünftigen Einigkeit (‚reasonable agreement‘). Dieses Prin­zip fußt darauf, dass es möglich sein muss, vernünftige und unvernünftige Gründe und Glaubenssätze voneinander zu unterscheiden. Nur vernünftige Gründe und Glaubenssätze dürfen demnach Teil einer öffentlichen Rechtfer­tigung sein. Stattdessen schlägt Ferretti vor, zwischen ‚gebbaren‘ (giveable) und ‚nicht gebbaren‘ (non-giveable) Begründungen zu unterscheiden. Diese wichtige Unterscheidung betont, dass zwar ein Großteil unserer Gründe und Begründungen ‚gebbare‘ Gründe sind, dass es jedoch auch einige Gründe und Begründungen gibt, die wir nicht mit anderen teilen können. Oft sind es solche Gründe, die auf unserem spezifischem Erfahrungshorizont fußen und für andere, die nicht dieselben Erfahrungen gemacht haben, nicht verständ­lich erscheinen. Ferrettis Ziel bei der Einführung dieser Unterscheidung ist es, dafür zu argumentieren, dass die Form der öffentlichen Rechtfertigung in ihrer Ausdehnung limitiert ist: Wenn wir alle Menschen als zweckorientiert respektieren wollen, müssen wir anerkennen, dass manche Menschen Gründe für ihr Handeln haben, die ‚nicht gebbar‘ sind.

Die genaue Funktionsweise dieser Unterscheidung wird im sechsten Ka­pitel deutlicher. Es geht bei dieser Unterscheidung darum, genauer zu be­stimmen, welche Gründe in der Öffentlichkeit gegeben werden können und müssen, und bei welcher Art von Gründen dabei erwartet werden kann, dass sie dem Test der Wahrscheinlichkeitsmethode standhalten müssen. Begrün­dungen, die Menschen geben, um öffentliche Behauptungen zu unterstützen, müssen diesem Test standhalten, wohingegen Glaubenssätze, die nur im Pri­vaten eine Rolle spielen, diesem Test nicht standhalten müssen.

In Bezug auf die damit verbundene Frage, welche Themen Individuen als ‚privat‘ erachten dürfen, bezieht Ferretti sich wieder auf das Prinzip glei­cher individueller Freiheit: es erlaubt, bestimmte Themenbereiche als außer­halb der öffentlichen Rechtfertigungpraxis einzustufen. Die letzte drängende Frage, die für Ferretti dabei zu klären bleibt, ist die Frage nach der Bedeutung von kulturellen Unterschieden, denn Kultur scheint die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum zu überschreiten. Oft sind die Gründe, die Menschen gerne im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung geben würde, von bestimmten kulturellen Erfahrungen genährt und für andere Menschen unzugänglich, die diese Erfahrungen nicht teilen. Für Ferretti sollte diese Form der Undurchsichtigkeit respektiert werden. Dem­nach ist auch der Kampf um die Anerkennung kultureller Gründe für Ferretti kein Kampf um die Anerkennung bestimmter kultureller Gruppen, sondern ein Kampf für das Recht, bestimmte Handlungsgründe nicht öffentlich recht­fertigen zu müssen.

Zusammengefasst gelingt es Ferretti in ihrem Buch, die aktuellen liberalen Diskussionen zu öffentlicher Rechtfertigung durch den Rückbezug auf Lockes Glaubensethik zu bereichern und ein Argument zu verteidigen, das diese Debatte vorantreibt. Gegenseitiger moralischer Respekt verlangt von uns, gegenseitig unsere individuelle Freiheit zu respektieren. Dies wiede­rum bedeutet nicht nur, dass wir politische Gründe vor der Perspektive der Öffentlichkeit rechtfertigen, sondern auch, dass wir anerkennen, dass es Gründe gibt, die in diesem Kontext nicht gegeben werden können.

Mit ihrem Buch trägt Ferretti zu verschiedenen aktuell geführten De­batten der liberalen politischen Theorie bei. Während frühere Debatten, die Rawls kritisch gegenüberstehen, darauf fokussiert waren, wie wir Glaubenssätze gegenüber unseren Mitbürgerinnen rechtfertigen können, sind aktuellere Debatten darauf fokussiert, wie diese Glaubenssätze und Gründe für unser Handeln vor allen Mitgliedern der Gesellschaft gerechtfertigt werden können. Wie Stephen Macedo es in Liberal Virtues (1990) betont, sollten Bürgerinnen sich aufgrund der epistemischen Autorität der Gründe, die für die Einhaltung von Regeln sprechen, an die Regeln halten, nicht auf­grund der Autorität der Person, die diese Regeln verfasst hat (14). Während die Debatte im anglophonen Raum fast ausschließlich auf epistemische An­sprüche an öffentliche Rechtefertigung fokussiert ist, will Ferretti moralische Gründe nicht außer Acht lassen. Durch den Rückgriff auf Locke gelingt ihr eine Balance zwischen epistemischen und moralischen Prinzipien der öffentli­chen Rechtfertigung. Wenn man wie Ferretti einerseits Rawls so versteht, dass er sich auf die Art und Weise des Gebens von Gründen konzentriert, und an­dererseits Gaus so, dass es ausreicht, wenn eine Akteurin Gründe für ihr Handeln hat, dann kann man ihre Arbeit als Weiterentwicklung beider Strän­ge betrachten, da sie diskutiert, wie wir mit Gründen umgehen, die wir zwar haben, aber (öffentlich) nicht geben können oder wollen (30).

Darüber hinaus kann Ferrettis Arbeit auch im Kontext der relativ jungen Diskussion zu epistemischer Ungerechtigkeit gesehen werden, die von Miranda Fricker angestoßen wurde. Obwohl Ferretti selbst diese Verbindung in ihrer Diskussion nicht hervorhebt, kann ihre Unterscheidung zwischen ‚gebbaren‘ und ‚nicht-gebaren‘ Gründen einen wichtigen Beitrag zu den Ana­lysen hermeneutischer Ungerechtigkeit leisten. Hermeneutische Ungerechtig­keit besteht darin, dass Individuen ihre spezifischen Erfahrungen in einem weiteren allgemeineren Kontext nicht verständlich machen können, da diese Erfahrungen nicht denen der Allgemeinheit entsprechen. Dies kann dazu füh­ren, dass diese Individuen die Sinnhaftigkeit ihrer Erfahrungen (ungerechtfer­tigterweise) anzweifeln (Fricker 2018). Auf Ferrettis Unterscheidung basie­rend kann man nun argumentieren, dass die Beweggründe und Glaubenssätze, die aus dieser spezifischen persönlichen Erfahrung stammen, vor dem öffentlichen Rechtfertigungsprozess geschützt sind. Zwar wäre es sicherlich wünschenswert, wenn diese Individuen ihre persönlichen Erfah­rungen auch in einem allgemeineren Kontext sinnhaft mitteilen könnten. So­lange das jedoch nicht der Fall ist, kann der Schutz vor dem Einbezug dieser Gründe in den öffentlichen Rechtfertigungsprozess eine Minderung der Er­fahrung hermeneutischer Ungerechtigkeit bedeuten.

Ferretti selbst kontextualisiert ihren Aufsatz nicht nur theoretisch in den aktuellen liberalen Debatten, sondern auch politisch. Sie beschreibt die aktuelle Situation als eine der ‚Post-Wahrheit‘: Eine Zeit, in der Expertinnen wenig Vertrauen geschenkt wird, und in der auch eine gute Bildung Menschen nicht davor bewahrt, wissenschaftlich fragwürdige Theorien zu glauben. Laut Ferretti ist es gerade in einem solchen Kontext wichtig, öffentliche Rechtfertigungs­prinzipien in liberalen Demokratien nicht zu verkennen. Auch wenn Ferretti dabei näher an der Realität von Individuen ist, und ihr Vor­schlag vielleicht eine ‚realistische Utopie‘ öffentlicher Rechtfertigung darstellt, scheint ihr Vorschlag, die öffentlich gebbaren Gründe der Wahrscheinlich­keitsmethode zu unterziehen, gerade im aktuellen Kontext doch weniger rea­listisch (oder politisch erreichbar), als sie es sich selbst zu wünschen scheint.

Um ihr Argument in diesem Punkt zu stärken, müsste sie zum Ende ihrer Ar­gumentation aufzeigen, inwiefern die von ihr beschriebene epistemische Ethik etabliert werden kann. Wie die aktuellen Umstände zeigen, erreicht ein einfacher Appell an die Wichtigkeit öffentlicher Vernunft und öffentlicher Rechtfertigung nur die, die sowieso bereits davon überzeugt sind. Da Ferretti zumindest den Anspruch hegt, eine Theorie der Perspektive der Öffentlich­keit zu verteidigen, die nicht so ‚starr‘ und ‚konservativ‘ ist, wie der ‚public reason liberalism‘ von Rawls und Gaus, wäre es wünschenswert, wenn sie aufzeigen könnte, inwiefern sie vermeidet, nur diejenigen bekehren zu wol­len, die ohnehin bereits von der Wichtigkeit vernünftiger öffentlicher Recht­fertigungsprozesse überzeugt sind. Obwohl Ferrettis Argument idealtheore­tisch ist, würde ihre Argumentation durch eine tiefere Einbettung in den ak­tuellen politischen und institutionellen Kontext deutlich gestärkt werden.

Damit verbunden ist der zweite, kritischer zu betrachtende Aspekt: Ob­wohl Ferretti betont, dass Gründe und Begründungen, die auf spezifischen kulturellen Erfahrungen beruhen, als ‚nicht-gebbar‘ geschützt sind, fehlt es an einer klareren Diskussion der von ihr vorgeschlagenen Prinzipien in Kontex­ten, die nicht mehrheitlich westlich-liberal geprägt sind. Die für die Unter­scheidung von ‚gebbaren‘ und ‚nicht-gebaren‘ Gründen wichtige Differenzie­rung von Öffentlichem und Privatem ist in diesen Kontexten nicht eindeutig. Ferretti spricht beispielsweise Fragen der sexuellen Identität an. Bei solchen Fragestellungen scheint es noch häufiger (wenn auch in vielen Fällen nicht) möglich, sie als privat einzustufen. In religiösen Fragen ist dies jedoch meist nicht eindeutig. Viele religiöse Prinzipien schreiben vor, wie Individuen sich im öffentlichen Raum zu verhalten haben, und nicht selten stehen diese Prin­zipien im Konflikt mit den Prinzipien einer säkularen liberalen Gesellschaft.

Ein konkretes Beispiel ist die Frage des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen. Hier ist beispielsweise nicht eindeutig, dass Mitglieder aller Weltreli­gionen damit einverstanden sind, wenn ihre Kinder in allen Weltreligionen unterrichtet werden, da es aus ihrer Perspektive eindeutig ist, welche Religion einen höheren Wahrheitsgehalt hat. Die Gründe dafür sind – insbesondere, wenn sie mit tradiertem Glauben zusammenhängen – jedoch nicht für alle Mitglieder der Öffentlichkeit nachvollziehbar und scheinen, obwohl sie nach Ferretti wohl als nicht-gebbar eingestuft werden müssten, doch wichtig für den öffentlichen Rechtfertigungsprozess. Es geht aus Ferrettis Argumentation – auch im Rückbezug auf Lockes Wahrscheinlichkeitsmethode und dem Ap­pell an die Vernunft – nicht eindeutig hervor, wie in diesem Fall vorgegangen werden sollte.

Insgesamt ist Ferretti mit The Public Perspective ein wertvoller und vor allem innovativer Beitrag zur Rechtfertigungsdebatte gelungen. Durch den Rückbezug auf Locke gelingt es ihr, die liberale Theorie an ihre Grundlagen zu erinnern, und dabei gleichzeitig die Wahrscheinlichkeitsmethode und die Glaubensethik so wiederzubeleben, dass diese als Prinzipien für zeitgenössi­sche liberale Demokratietheorien angewandt werden können.

Literatur

Fricker, Miranda. „Epistemic Injustice and Recognition: A New Conversation. Afterword.“ Feminist Philosophy Quarterly 4.4 (2018). Article 8.

Macedo, Stephen. Liberal Virtues. Oxford: Oxford University Press (1990).

© 2020 Zeitschrift für philosophische Literatur, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE