Haas, Annika/Hock, Jonas/Leyrer, Anna/Ungelenk, Johannes (Hg.): Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben. Berlin: Neofelis 2018. 264 Seiten. [978-3-95808-215-1]
Rezensiert von Anna Wieder (Universität Wien)
„Was ist eine widerständige Theorie?“ (8) Diese Frage beschäftigt die Arbeitsgemeinschaft Kritische Wissenschaft des Evangelischen Studienwerks Villigst seit über zehn Jahren. Die Spuren, die das gemeinsame kritische Nachdenken und Lesen hinterlassen hat, versammelt der von Annika Haas, Jonas Hock, Anna Leyrer und Johannes Ungelenk herausgegebene Band Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben. Auf gut 260 Seiten widmen sich insgesamt 29 Beiträgen renommierten kritischen Denker*innen von Hegel bis Butler.
Dabei handelt es sich nicht um ein klassisches Handbuch oder ein Lexikon des widerständig-kritischen Denkens – oder vielleicht der kritischen Theorie mit kleinem K – des 19. und 20. Jahrhunderts. Vielmehr lenken die Herausgeber*innen die Erwartungen gleich in der Einleitung in eine andere Richtung: Der Band will ein „Lesebuch“ (15) sein, das das widerständige und kritische Denken in Auseinandersetzung mit Texten schulen, oder besser animieren soll. Wenngleich chronologisch angeordnet, formieren sich die Beiträge weniger zu einer systematischen Anthologie und schon gar nicht zu einer linearen Fortschrittserzählung. Vielmehr versteht sich der Band als „loses Korpus von Texten“ (15), das zum „Sich-Treibenlassen von einem Text zum anderen“, zum „Querlesen, (Über-)Blättern, Weglegen und Neueinsteigen“ (15) anhält. Das Buch, so die Herausgeber*innen, „soll zum Mit-Denken einladen, Offenheit und Partizipation gleichzeitig praktizieren und dazu anregen“ (11).
Eine Vorahnung, worauf diese Bestimmung abzielt, liefern bereits die beiden Zitate, die der Einleitung leitmotivisch vorangestellt sind. Die Zitate stammen, wie könnte es auch anders sein, von Theodor W. Adorno und Jacques Derrida, die nicht nur Paten für jenen Impuls des kritischen Denkens stehen, dem der Band nachspürt, sondern beide auf je spezifische Weise die Herausforderungen thematisieren, mit denen das (Selbst-)Verständnis kritischer ‚Theorie‘ konfrontiert ist. Kritik, so lautet ein häufig vorgebrachter Einwand, hat ihren Biss verloren (Latour 2007) und ist einer „doppelte[n] Resignation“ (8) verfallen, insofern sie sich einerseits von der Welt abzuwenden scheint und andererseits nostalgisch der aktivistischeren Vergangenheit nachtrauert. Der Diagnose der ‚linken Melancholie‘ (Brown 1999, Rancière 2009) zufolge sehnt die gegenwärtige (Gesellschafts-)Kritik angesichts ihrer vermeintlichen Machtlosigkeit, die Welt zu verändern, widerständigen Aktivismus herbei, bleibt aber anachronistisch im Denken der Vergangenheit hängen. Hier gilt es für die Herausgeber*innen einzuhaken. Im Gefolge von Adorno und Derrida warnen sie sowohl vor einem ungeduldigen Aktivismus, der den praktischen Status von Theoriearbeit ignoriert, als auch vor einer statischen Theorieauffassung, die theoretische Wider-Ständigkeit nur als „reflektiertes Einstehen für die ‚richtige Sache‘“ (12) versteht. Kritische Theoriearbeit, so die Leitthese des Bandes, gewinnt ihr widerständiges Potential gerade dadurch, dass sie sich der Befragung durch ein Anderes, einen Anderen oder ein Anderswo aussetzt, das sie dynamisch in Bewegung hält (8–9). In Form einer solchen „rastlose[n] Prozesshaftigkeit“ (14) soll kritisches Denken sowohl der Skylla der aktivistischen Theorievergessenheit als auch der Charybdis der erstarrten Methode widerstehen. Der Band möchte einem solchen „widerständigen Mit-Denken ein Freihafen zu sein“ (9) – nicht zuletzt, indem er selbst das zu performieren versucht, wozu er seine Leser*innen einlädt: eine Bewegung des fortwährenden Mit-Denkens, des Denkens mit Texten und mit Anderen.
Dass sich die Offenheit dieser Bewegung in Form und Stil der Beiträge manifestiert, ist also Programm. Viele haben einen essayistisch bzw. literarisch anmutenden Charakter und bilden eine mitunter sehr persönliche Reflexion der Autor*innen auf das Werk oder die Disziplin der Denker*innen, denen der jeweilige Beitrag gewidmet ist. Dabei orientiert die Beiträge gerade keine gemeinsame Suche nach einem einsinnigen Kritik- oder Widerstandbegriff. Vielmehr versammelt der Band unterschiedliche Annäherungen an das Phänomen der Kritik, die weder Anspruch auf eine vollständige Abbildung einer ‚kritischen Theorie‘, noch auf eine systematische Rekonstruktion ihrer historischen Entwicklung erheben. Schon das Format der Beiträge verweist darauf, dass es weniger um eine überblickshafte Aufarbeitung der Positionen bzw. einer werkimmanenten Skizze des Kritikverständnisses der behandelten Denker*innen geht, sondern dass bisweilen gerade der Fokus auf Randständiges den Blick auf kritische Momente des jeweiligen Ansatzes freilegt. Oft fungieren die großen Namen vor allem als Stichwortgeber*innen. Jedem der Beiträge ist eine kurze Textstelle vorangestellt, die nicht nur Motto, sondern Ausgangs- und Bezugspunkt für die Überlegungen der Beitragenden darstellt.
Sowohl die Auswahl der behandelten Denker*innen als auch die Selektion der Leitpassagen ist überraschend – für Philosoph*innen allerdings vielleicht mehr als für Literaturwissenschaftler*innen. Etwa wenn Walter Benjamins Kritikverständnis anhand einer seiner Miniaturen aus der Einbahnstraße verhandelt wird (71–80) oder Elena Ferrantes Romanfigur Elena Greco auf einer Ebene mit Hegel zu Wort kommt (139–143). Das ist nicht nur der Zusammensetzung der Beitragenden geschuldet, deren fachliche Hintergründe sich von der Geschichtswissenschaft über die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft, die Soziologie, die Philosophie, die Psychoanalyse bis zur Religionswissenschaft erstrecken – wobei insbesondere auch die ausgewogene Repräsentation weiblicher Beitragsautor*innen positiv hervorzuheben ist. Vor allem will der Band mit der Pluralität der darin versammelten Stimmen eine Bewegung lancieren, die „über die ‚eigene‘ Disziplin hinaus […] eine unvorhergesehene Dimension des ‚Mit‘, eine gelungene Begegnung zwischen Heterogenen [impliziert], die das Freisetzen einer widerständigen Kraft bezeugt“ (10).
Auch die Form der Reflexionen auf die Textstellen fällt höchst divers aus: Einige Beiträge nehmen Abstand von einem thetischen Stil. Andere überraschen dafür mit umso steileren Thesen. Mit denen ist man mal mehr, mal weniger einverstanden – aber stets kritisch herausgefordert. Gerade die Auswahl der Textstellen verleitet die Leser*in bisweilen zu kritischem Innehalten: Aber will x nicht eigentlich etwas ganz Anderes sagen? (Wird Adorno auf seine alten Tage, wie etwa Jan Weyand nahelegt, tatsächlich zum Vorreiter einer kommunikativen Rationalität? (117)) Dieses Anstoßnehmen an Zugängen, die mit der akademischen Tradition brechen, ist jedoch bewusst intendiert. Als Motto des Bandes kann gut und gerne der Aufruf der Herausgeber*innen herhalten: „Der Imperativ des Verstehen-Müssens, den wir vermutlich alle hartnäckig internalisiert haben, sei hiermit für das Folgende wie für das Voranstehende explizit außer Kraft gesetzt!“ (14)
Bei aller Heterogenität lassen sich dennoch immer wieder gemeinsame Fragerichtungen ausmachen: So verbinden sich die ersten Beiträge zu einer Art Genealogie des kritischen Denkens, die bei ihren historischen „Gründervätern“ ansetzt: Hegel, Marx, Nietzsche und Freud. Wie die Beiträge deutlich machen, kennzeichnet die Vertreter dieser frühen Phase kritischen Denkens in erster Linie das Anliegen einer Historisierung und Pluralisierung kritischer Praxis sowie ihrer Gegenstände. So hebt Carolyn Iselts Aufsatz mit der Hegel‘schen Reflexion auf das „Wesen der philosophischen Kritik“ (17) an, die sich in „Zeiten pluralistischen Denkens“ (17) die Frage nach ihrem Maßstab neu stellen muss. Bei Hegels wohl wirkmächtigstem Kritiker, Karl Marx, wird das Moment des Kritischen einer erneuten Perspektivverschiebung anheimgestellt. Wie Klaus Holz in seinem Beitrag nachzeichnet, verwirft Marx die idealistische Auffassung eines ‚absoluten Subjekts‘ zugunsten der Menschen „in unaufhebbarer Pluralität, Vergänglichkeit, Sozialität, Individualität“ (26). Bei Nietzsche ist es schließlich der Standpunkt der Kritiker*in, der, nachdem Nietzsche dem „Projekt der reflexiven Selbstbegründung“ (35) ein Scheitern attestierte, pluralisiert wird. Johannes Schmincke gelingt dabei der Brückenschlag in die Gegenwart, indem er den kritischen Gehalt von Nietzsches Genealogie für eine Problematisierung neoliberaler Selbstoptimierungsimperative fruchtbar macht (38–39). Bemerkenswert an dieser Chronologie, die keine sein will, ist nebenbei, dass sie erst mit Hegel einsetzt – und nicht schon mit Kant. Der wohl bedeutendste Denker der Kritik bildet in den Beiträgen des Bandes zwar einen wiederkehrenden Bezugspunkt, an dem sich die unterschiedlichen Neupositionierungen der Kritik abarbeiten, bekommt allerdings irritierender Weise kein eigenes Lemma. Erst im letzten Beitrag von Tatjana Schönwälder-Kuntze wird Kants kritisches Denken im Dialog mit Judith Butler gewürdigt (256–257).
Eine weitere Stoßrichtung des Bandes bildet die Reflexion auf das Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis. Was können wir von der Praxis für kritisches Denken lernen und inwiefern vermag die kritische Praxis die Theoriearbeit der eigenen Disziplin zu befruchten oder gar herauszufordern? Diese Fragen leiten unter anderem die beiden Texte, die Sigmund Freud, dem Dritten im Bunde der „Meister des Verdachts“ (Ricœur 1965), gewidmet sind. Jakob Tröndles Beitrag arbeitet sich an einem folgenschweren „Missverhältnis in der Rezeption“ (52) der Psychoanalyse ab, die den Praktiker Freud gegenüber dem Theoretiker vernachlässigt. Dagegen betont Tröndle, dass es sich bei Freud um den „Begründer einer höchst folgenreichen Praxis“ handelt, die gewiss für die „(kritische) Theorieproduktion“ (56) von großem Einfluss war. Gerade die Frage, was diese psychoanalytische Praxis des widerständigen, rückhaltlosen Befragens die eigene Disziplin – in diesem Fall die Literaturwissenschaft – lehren kann, beschäftigt Judith Kasper. Die Antwort: Anders als die philologische Strenge, mit der die hermeneutische Kritik operiert, fokussiert die Psychoanalyse auf das „kritische Moment der Fehlleistung“ (44). Die Möglichkeit, dieses Moment zu erfassen, erfordert die Einnahme einer widersprüchlichen Erkenntnishaltung seitens der Kritiker*in: „Selbstkritisch und zugleich kritiklos soll der Absicht des Erkennens ohne bestimmte Absicht nachgegangen werden.“ (43–44) Die kritische Haltung verlangt, sich von einem widerspenstigen „Nicht-Wissen“, mitunter einem „drohenden Unsinn“ (47) herausfordern und infrage stellen zu lassen.
Kritik hat in diesem Sinne wesentlich mit einer Öffnung gegenüber einem Anderen oder einem Anderswo (12), einer Alterität oder einem Nichtidentischen (60) zu tun, wie u.a. die Beiträge zu Heidegger (Michael Mayer, 59–70), Levinas (Florence Häneke, 105–113) und Derrida (Hans-Joachim Lenger, 213–220) betonen. Dass diese responsive Haltung eine Denkfigur nicht nur für die kritische Befragung der eigenen wissenschaftlichen Praxis, sondern auch für ein politisch wirkmächtiges Engagement darstellt, verdeutlichen allen voran die Beiträge von Johannes Ungelenk zu Gayatri Chakravorty Spivak (245–252) und Tatjana Schönwälder-Kuntze zu Judith Butler (253–260). Deren kritisch-dekonstruktives Lesen (248; 253) leitet, wie Ungelenk und Schönwälder-Kuntze in je eigener Weise herausarbeiten, nicht nur die (Selbst-)Reflexion auf das eigene Denken und Schreiben bzw. die eigene Disziplin, sondern weisen auch einen naiven Aktivismus im Sinne eines „Hauptsache es passiert etwas“ zurück.
Theoretische Selbstreflexion und politische (Widerstands-)Praxis müssen sich wechselseitig informieren: Denn eine unzureichende Abstimmung von Theorie und Praxis vermag gravierende „praktische“, d.h. politische Konsequenzen zu zeitigen. Dieses Unbehagen treibt die Islamwissenschaftlerin Anne-Marie Brack um, die – durch ihre Arbeit mit Geflüchteten aus Afghanistan und dem Irak geschult – auf das „problematische Erbe [ihrer] eigenen Disziplin“ (181) reflektiert: Edward Saids kritischen Einwand, dass die Orientalistik den „Orientalismus“ (181) miterschaffen hat, schreibt sich, wie Brack in ihrem Beitrag erläutert, über den akademischen Bereich hinaus fort: vielleicht am schwerwiegendsten in den behördlichen Asylbescheiden, in denen deutlich wird, dass die Berufung auf wissenschaftliche Expertise im politischen Bereich nie bloß eine „neutrale“ Wissenspraxis darstellt, sondern, wie u.a. auch Marc Rölli in seinem Beitrag zu Michel Foucault in Erinnerung ruft (163–170), immer eine politisch aufgeladene Angelegenheit ist (186).
Nicht zuletzt mit Blick auf die politisch-praktischen Konsequenzen wird nunmehr auch virulent, dass widerständige Theorie wesentlich mit der politischen Praxis des Widerstands zu tun hat. Diese Überlegung leitet auch all jene Beiträge, die sich kritisch an hyperbolischen Beschwörungen eines avantgardistisch-revolutionären Verständnisses von Aktivismus abarbeiten. So eint die Beiträge zu Theodor W. Adorno (Jan Weyand, 115–122), Louis Althusser (Leo Roepert, 123–130), Jacques Lacan (Maya Dolderer, 131–138), Roland Barthes (Ottmar Ette, 145–154), Heiner Müller (Robert Pursche, 155–162) und Gilles Deleuze (Benjamin Sprick, 229–234), dass sie, wenn auch mit je unterschiedlichem Schwerpunkten, auf den Grenzen eines „einfachen ‚Dagegen‘“ (151) oder einer bloßen Verweigerungshaltung (229) insistieren. Die Kritik dieser Denker*innen bleibt, wie die Beiträge allesamt aufzeigen, jedoch nicht bei einem bloßen Verweis auf das dialektische Spannungsverhältnis von Macht und Gegen-Macht stehen, an das Ottmar Ette mit Barthes erinnert (151), sondern zielt darauf ab, gerade eingedenk dieser Spannung andere Formen des Widerstands auszuloten – sei es mit Deleuze die Sprengkraft Bartleby‘scher Unentschlossenheit (234), mit Barthes die „subtile Subversion“ der Deformation und Defiguration (153) oder der „konstruktive Defaitismus“ Müllers (155–160).
Dabei liefert der Band weder fertige Rezepte noch eine durchgängige Programmatik der Kritik oder des widerständigen Denkens und Handelns. Die Leser*in beschleicht in der Lektüre zuweilen eine gewisse (gewollte?) Orientierungslosigkeit, von der sich zumindest fragen lässt, inwiefern diese die Orientierungslosigkeit der gegenwärtigen intellektuellen Linken widerspiegelt. Wen der wiederholte Aufruf, der Lust am Text zu frönen (9, 11) und sich „angefixt von Stichwörtern der Titel oder Verweisen der Texte untereinander“ (15) treiben zu lassen, an den Gestus einer in sich selbst versunkenen L‘art pour l‘art erinnert, sollte sich nicht allzu schnell abschrecken lassen. Denn auch wenn der Band keine festen Orientierungen liefert, so zeigt er doch in eindrücklicher Weise auf, welche reichhaltigen Denkpotentiale jenseits der gegenwärtigen systematischen Beschränkungen unserer Perspektive auf die Wirklichkeit liegen. Er öffnet den Blick auf Kritikressourcen, die es zweifelsohne erneut zu aktualisieren gilt.
Literatur
Brown, Wendy. „Resisting Left Melancholy“ In boundary 2 26.3 (1999), 19–27.
Latour, Bruno. Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Aus dem Engl. von Heinz Jatho. Zürich/Berlin: diaphanes, 2007.
Rancière, Jacques. Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Franz. von Richard Steurer-Boulard. Wien: Passagen, 2009.
Ricœur, Paul. Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969), ausgew., hg. und eingel. von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander. Freiburg im Br. [u.a.]: Alber, 2010 [fr. Orig: De l‘interprétation. Essai sur Freud. Paris: Seuil, 1965].
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