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Symposium zu Crone, Katja: Identität von Personen. Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses. Berlin: de Gruyter 2016. X, 219 Seiten. [978-3-11-024650-6]

Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung

Von Christian Kietzmann (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

Katja Crone geht in ihrem Buch Identität von Personen von der Beobachtung aus, dass Personen die Fähigkeit haben, ein komplexes biographisches, zeitlich strukturiertes Selbstverständnis auszubilden. Dieses Selbstverständnis hat mindestens drei Dimensionen: Personen haben ein Verständnis von ihrer Fortexistenz über die Zeit hinweg; sie nehmen in besonderer Weise auf sich selbst Bezug und schreiben sich aus dieser Perspektive bestimmte Eigenschaften zu; und sie konstruieren narrative Vergegenwärtigungen ihrer eigenen Lebensgeschichte, in die sie Selbstzuschreibungen von Charaktereigenschaften und deren Veränderung integrieren. Crone diagnostiziert, dass diese drei Dimensionen bisher in der philosophischen Debatte meistens unabhängig voneinander behandelt wurden, obwohl sie allesamt Aspekte einer umfassenden Fähigkeit zur Ausbildung eines personalen Selbstverhältnisses zu sein scheinen. Ihr Ziel besteht deshalb darin, diese Themenstränge miteinander zu verknüpfen.

In meinem Kommentar werde ich mich auf den ersten Teil von Crones Buch konzentrieren, in dem es um das Selbstbewusstsein menschlicher Personen geht, und einen Einwand (§1) sowie einen Ergänzungsvorschlag (§2) vorbringen. Mein Einwand bezieht sich auf einige von Crones Thesen zum präreflexiven Selbstgewahrsein. Mein Ergänzungsvorschlag besteht darin, unseren aktiven Beitrag beim Zustandekommen unserer Persönlichkeitsmerkmale und unseres Wissens von ihnen stärker zu betonen.

1. Zweifel an der grundlegenden Rolle des präreflexiven Selbsterlebens

In Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur schlägt Crone vor, dass explizites, reflektiertes Selbstbewusstsein, das in sprachlich artikulierten Aussagen und Gedanken zum Ausdruck kommt, die die erste Person Singular sowie psychologische Prädikate verwenden, in einem präreflexiven, vorsprachlichen Selbsterleben fundiert sei. Dieses Selbsterleben habe mehrere Dimensionen, u.a. beinhalte es ein unmittelbares Gewahrsein der eigenen Existenz sowie der Zugehörigkeit erlebter oder durchlebter mentaler Zustände – z.B. von Wahrnehmungen, Stimmungen, Gedanken – zum erlebenden Subjekt. Das Selbsterleben sei weder ein eigenständiger mentaler Zustand, der sich von den jeweiligen Wahrnehmungen, Gedanken, Stimmungen usw. ablösen lasse, noch sei es ein Teil des repräsentierten Inhalts dieser Wahrnehmungen, Gedanken etc. Wenn ich vor mir auf dem Tisch eine grüne Flasche sehe, dann repräsentiere ich eine grüne Flasche auf dem Tisch; indem ich diese Repräsentation habe, erlebe ich sie als meine und damit mich selbst als existent.

Dass reflektiertes Selbstbewusstsein in präreflexivem Selbsterleben fundiert sei, dass letzteres ersteres erkläre, bedeutet für Crone, dass letzteres eine notwendige Bedingung für ersteres sei: kein Selbstbewusstsein ohne Selbsterleben. Sie argumentiert darüber hinaus für einen zweiten, noch weitergehenden Erklärungsschritt: Da Selbsterleben kausale Eigenschaften besitze, da es also Ursache von weiteren Ereignissen und Wirkung von anderen Ereignissen sei, könne man ihm eine kausal-funktionale Rolle zuweisen und es so nach funktionalistischer Manier jedenfalls im Prinzip mit neuronalen Prozessen oder Zuständen identifizieren.

Meine Zweifel beziehen sich auf zweierlei: zum einen auf Crones Beschreibung des unthematischen Selbstgewahrseins, das in unseren mentalen Zuständen als ein Erleben enthalten ist, das unabhängig von unseren sprachlichen bzw. begrifflichen Fähigkeiten sei; zum anderen auf die Vorstellung von Erklärung, die im Hintergrund von Crones Überlegungen steht.

Zum ersten Punkt: Mit Crones Idee, dass alle unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Stimmungen usw. einen unthematischen Aspekt des Selbstgewahrseins enthalten, bin ich ganz einverstanden. Ich bin auch einverstanden mit der Idee, dass solches Selbstgewahrsein durch einen Reflexionsschritt in Form von bewussten Gedanken oder sprachlich artikulierten Aussagen explizit gemacht werden kann. Nicht einverstanden bin ich dagegen mit der These, dass es sich hierbei um ein Erleben handele, das unabhängig von unseren begrifflichen Fähigkeiten zustande komme.

„Erleben“ ist etwas Passives; etwas, das einem widerfährt, und nicht etwas, das man aktiv zustande bringt. (Natürlich kann man aktiv die Voraussetzungen für ein Erlebnis schaffen; das Erleben selbst stellt sich dann aber von selbst ein – oder auch nicht.) Jede Selbst-Vorstellung, ob nun implizit oder explizit, vorreflexiv oder reflexiv, muss aber etwas Aktives sein, wenn sie eine Selbst-Vorstellung sein soll. Das liegt daran, dass ein „Selbst“ nichts Vorgefundenes oder Gegebenes ist. Es gibt so etwas nur, indem es aktiv hergestellt wird, also als etwas Gemachtes. „Ich“ oder „Selbst“ benennt nämlich kein Ding, das einfach so da ist, sondern die Einheit unserer mentalen Zustände. Und diese Einheit kommt zustande, sie ist nur dadurch wirklich, dass wir sie als solche vorstellen. Dieses Vorstellen, das Beziehen eines bestimmten mentalen Zustands von mir auf alle meine anderen mentalen Zustände, ist kein separater Zustand und auch kein Teil des thematischen Inhalts dieses Zustandes; darin stimme ich Crone voll und ganz zu. Die Einheitsvorstellung ist vielmehr in den mentalen Zuständen als ein formaler Aspekt, ein Teil ihrer Form, enthalten. Sie kann aber kein Erleben, also Vorfinden, sein, da sie allererst die durch sie vorgestellte Einheit herstellt. Ein „ich“ oder „selbst“ existiert nur, wenn es von jemandem in dieser Weise, unthematisch und gleichsam nur formal, repräsentiert wird. Wenn wir das Wort „denken“ für die aktive Leistung des Geistes reservieren, dann können wir sagen: es muss sich dabei um ein Denken statt eines Erlebens handeln.

Mit diesem Punkt hängt auch mein Zweifel hinsichtlich des angeblich vorbegrifflichen Charakters solchen Selbstdenkens (wie ich es nun nennen will) zusammen. John McDowell hat, in Anknüpfung an Wilfrid Sellars, immer wieder den sogenannten „Mythos des Gegebenen“ kritisiert. Er erläutert ihn so:

Givenness in the sense of the Myth would be an availability for cognition to subjects whose getting what is supposedly Given to them does not draw on capacities required for the sort of cognition in question. (McDowell 2009, 256)

Der Mythos des Gegebenen besteht also darin, dass eine notwendige Voraussetzung dafür, eine Vorstellung einer bestimmten Art zu haben, schlicht geleugnet wird – und diese notwendige Voraussetzung ist in der Regel die aktive Ausübung begrifflicher Fähigkeiten. Mein – offensichtlich Kantischer – Einwand ist nun, dass Crone einer Version des Mythos des Gegebenen zum Opfer fällt, weil die Art von Einheitsvorstellung, die allererst ein Selbst konstituiert, nur durch die Ausübung begrifflicher Fähigkeiten zustande kommen kann. Das liegt einerseits an der Aufgabe, die das Selbstdenken lösen muss, und andererseits daran, was Begriffe sind: Die Aufgabe des Selbstdenkens besteht darin, eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zu einer Einheit zu verknüpfen, nämlich zur Einheit des „Selbst“ oder „ich“. Begriffe sind Regeln, nach denen eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zu einer Einheit zusammengebracht wird (Vgl. etwa Kant KrV, A 103). Deshalb muss das Selbstdenken Begriffe verwenden; nur so kann es die ihm gestellte Aufgabe bewältigen. Die von ihm verlangte Synthesisleistung kann nämlich in nichts anderem bestehen als in der Anwendung eines Begriffs.

Ich komme nun zu meinem zweiten Punkt, meinem Zweifel an Crones Versuch einer Naturalisierung der von ihr beschriebenen Phänomene, meinem Zweifel also an ihrem Bemühen, diese Phänomene in eine umfassende naturwissenschaftlich-empirische Theorie des menschlichen Geistes zu integrieren. Mein Punkt ist hier einfach der, dass ich nicht recht sehe, was uns zu einem solchen Bemühen verpflichten sollte. Es ist nämlich überhaupt nicht selbstverständlich, dass Selbstbewusstsein in dieser Weise erklärungsbedürftig ist. Das wird schon deutlich an Crones Idee, dass bestimmte Eigenschaften des reflektierten Selbstbewusstseins durch präreflexives Selbstbewusstsein erklärt werden könnten. In welchem Sinn aber sind die zu erklärenden Eigenschaften unverständlich und verlangen deshalb nach einer Erklärung? Sobald das klar geworden ist, können wir weiterfragen, ob die von Crone vorgeschlagene Erklärung überhaupt zu dieser Art von Erklärungsbedürftigkeit passt.

Die von Crone beschriebene Unverständlichkeit, und damit Erklärungsbedürftigkeit, des reflektierten Selbstbewusstseins ergibt sich (soweit ich sehen kann) daraus, dass der Gebrauch von „ich“ im Vergleich mit anderen referierenden Ausdrücken eigentümliche Besonderheiten aufweist und dass Aussagen, in denen „ich“ vorkommt, im Vergleich zu anderen Aussagen epistemische und andere Eigentümlichkeiten zeigen. Wenn man die genannten anderen referierenden Ausdrücke und die mit ihrer Hilfe gebildeten Aussagen für den Normalfall hält, provozieren diese Beobachtungen die Fragen: Wie kann man so referieren? Und wie kann man so zu Wissen gelangen? Wie ist das möglich, wo man doch sonst so anders referiert und zu Wissen gelangt? Diese Fragen verlangen aber nicht nach einer naturwissenschaftlichen Theorie oder nach empirischen Tests, sondern nach einer grammatischen Untersuchung, die die Besonderheiten unserer Praxis des Sprachgebrauchs und des damit verwobenen außersprachlichen Handelns eingehender untersucht und aufzeigt, wie sich die beobachteten Eigentümlichkeiten aus den Besonderheiten dieser Praxis ergeben. Deshalb passt meinem Eindruck nach die von Crone vorgeschlagene Lösung (die Fundierung in einem Erleben, das sich naturalisieren lässt) nicht so recht zum Problem – jedenfalls nicht zu diesem Problem, und ein anderes philosophisches Problem kann ich in diesem Zusammenhang nicht erkennen.

2. Selbstwissen durch Selbstbestimmung

Ich komme nun zu meinem Ergänzungsvorschlag, und dabei will ich von einer Beobachtung ausgehen, die sich mir beim Lesen von Crones Buch aufgedrängt hat. Personen, wie Crone sie beschreibt, sind merkwürdig passive Wesen. Sie erleben allerlei, unter anderem erleben sie sich selbst, und sie machen Erfahrungen und erinnern sich hinterher daran. Aktiv werden sie aber anscheinend nur (und auch dann bloß halb), wenn sie aus dem Material des Erfahrenen und Erlebten im Nachhinein Geschichten konstruieren und daraus Selbstzuschreibungen von Charaktereigenschaften destillieren. Was sie jedoch merkwürdigerweise nicht zu machen scheinen, ist, darüber nachzudenken, was zu glauben oder zu tun ist, und selbst, aus einer auf solchem Nachdenken beruhenden Festlegung heraus, zu glauben und zu handeln. Ich denke aber, dass gerade dieser Charakterzug von Personen essentiell für unser Verständnis sowohl dessen ist, was sie zu Personen macht, als auch dafür, was sie befähigt, auf sich selbst Bezug zu nehmen und von sich selbst unmittelbares Wissen zu haben. Zentral ist dabei, so will ich vorschlagen, die Fähigkeit von Personen, dasjenige auszubilden, was einige heutige Philosophinnen und Philosophen „urteilssensible Einstellungen“ (judgement-sensitive attitudes) genannt haben. Das sind Einstellungen, auf die wir uns typischerweise aus Gründen festlegen, also z.B. Absichten oder Überzeugungen, wobei „festlegen“ hier in dem doppelten Sinne des Ausbildens von und des Festhaltens an solchen Einstellungen zu verstehen ist. Personen haben urteilssensitive Einstellungen nicht einfach so, passiv, wie sie beispielsweise Kopfschmerzen oder einen Sonnenbrand haben, sondern nur kraft ihrer selbstbestimmenden Aktivität.

In den vergangenen Jahren hat eine Reihe von Philosophinnen und Philosophen darauf hingewiesen, dass eine enge Verbindung zwischen dieser Aktivität, dem Sichfestlegen aus Gründen, und der Selbstbezugnahme besteht (Moran 2001, Rödl 2007, Boyle 2008 und 2011; vgl. auch Anscombe 1957 und 1975). Ich will hier kurz einen Weg skizzieren, wie man sich diesen Zusammenhang verständlich machen kann (vgl. ausführlicher Kietzmann im Erscheinen). Gareth Evans zufolge sind Weisen der Bezugnahme mit Weisen des Wissenserwerbs verknüpft. So hängen demonstrative Bezugnahme und Wahrnehmungswissen intern miteinander zusammen: Wahrnehmungswissen wird direkt (also nicht vermittelt durch Identitätsurteile) mit Hilfe von Demonstrativa wie „dies“ oder „dort drüben“ ausgedrückt, und wir verstehen den Sinn solcher Ausdrücke durch ihre Funktion innerhalb von Urteilen, die Wahrnehmungswissen artikulieren. Sebastian Rödl zufolge verhält es sich bei „ich“ ganz analog: Selbstwissen wird direkt (also ohne Vermittlung von Identitätsaussagen) mit Hilfe von „ich“ ausgedrückt; und „ich“ ist die charakteristische Weise, solches Wissen auszudrücken. Wir verstehen den Sinn von „ich“, und damit unsere Fähigkeit zur Selbstbezugnahme, wenn wir verstehen, wie Selbstwissen zustande kommt.

Wie erlangt man Selbstwissen? Gareth Evans gibt uns einen Hinweis, wenn er schreibt:

In making a self-ascription of belief, one’s eyes are, so to speak, or occasionally literally, directed outward – upon the world. If someone asks me ‚Do you think there is going to be a third world war?‘, I must attend, in answering him, to precisely the same outward phenomena as I would attend to if I were answering the question ‚Will there be a third world war?‘ I get myself in a position to answer the question whether I believe that p by putting into operation whatever procedure I have for answering the question whether p. (Evans 1982, 225)

Das kann erst einmal rätselhaft erscheinen, denn wieso kann ich eine Frage über mich beantworten, indem ich auf Sachverhalte achtgebe, die überhaupt nichts mit mir zu tun haben? Ist das nicht einfach ein Themenwechsel? Und wie kann ein solcher Themenwechsel mich zu einer gültigen Antwort auf die Ausgangsfrage führen?

Richard Moran antwortet, dass es dann möglich ist zu wissen, dass ich p glaube, indem ich auf die Evidenzen schaue, die für p sprechen, wenn ich die Autorin oder der Autor meiner Überzeugungen bin und es solche evidentiellen Gründe sind, die mich dazu bringen, mich auf eine Überzeugung festzulegen. Moran zufolge weiß ich, was ich glaube, aber auch, was ich beabsichtige oder tue, indem ich mich auf die entsprechende Überzeugung, Absicht oder Handlung aus Gründen festlege und so dafür sorge, dass ich in dieser Weise überzeugt bin, beabsichtige oder handle.1 Die Fähigkeit, „ich“ zu denken, gründet also laut Moran in der Fähigkeit, sich aus Gründen auf urteilssensitive Einstellungen festzulegen.

An dieser Stelle liegen zwei Einwände nahe: Erstens, was ist mit Überzeugungen oder Absichten, auf die ich schon festgelegt bin? Ich weiß von ihnen unmittelbar, aber nicht dadurch, dass ich mich auf sie festlege – denn ich bin ja schon festgelegt. Und zweitens, was ist mit Selbstwissen von z.B. Schmerzen oder Sinneseindrücken? Auch hiervon haben wir unmittelbares Wissen, aber weder Schmerzen noch Sinneseindrücke haben wir, weil wir uns auf sie aus Gründen festlegen. Matthew Boyle antwortet auf diese beiden Herausforderungen indirekt, indem er zeigt, dass jede Erklärung dieser Formen von Selbstwissen – wie immer sie am Ende aussehen mag – die von Moran beschriebene Weise, Selbstwissen zu erwerben, voraussetzt, weil diese im Begriff des Selbstwissens implizit unterstellt ist. Er argumentiert ungefähr folgendermaßen (Boyle 2009): Selbstwissen ist nur als eine Form von Wissen verständlich, wenn derjenige, der es zum Ausdruck bringt, diesen Ausdruck selbst versteht. Das unterscheidet einen Ausdruck von Wissen von z.B. den Verbalisierungen eines Papageien, der nicht versteht, was er „sagt“. Diese Art von Verständnis setzt nun aber den Besitz bestimmter Fähigkeiten voraus. Zu diesen Fähigkeiten zählen das Verfügen über entsprechende Begriffe und ein Verständnis ihrer Allgemeinheit sowie das Vermögen, die damit ausgedrückten Inhalte inferentiell zu anderen Inhalten in Beziehung zu setzen. Das setzt aber wiederum voraus, dass der oder die Betreffende seine oder ihre Äußerungen als prinzipiell begründungsfähig und begründungsbedürftig begreift, und damit als etwas, das als wahr oder falsch beurteilbar ist. Kurz gesagt: Jemandem Selbstwissen zuzuschreiben bedeutet, ihm die Fähigkeit zu unterstellen, Inhalte im Lichte von Gründe für wahr zu halten. Und das wiederum ist nur dann verständlich, wenn diese Person sich selbst im Lichte von Gründen dazu bestimmen kann, etwas für wahr zu halten. Damit das aber möglich ist, muss eine Person begreifen, dass sie selbst es ist, deren Einstellungen durch ihr Überlegen bestimmt werden. Sie muss also über die Fähigkeit zum Selbstbezug verfügen und diese Fähigkeit im Überlegen selbst anwenden, indem sie sich selbst die Einstellungen zuschreibt, auf die sie sich deliberativ festlegt. Im Begriff des Selbstwissens steckt also die Unterstellung, dass wir über deliberative Fähigkeiten verfügen, diese anwenden, um uns selbst auf Einstellungen wie Überzeugungen und Absichten festzulegen, und dadurch auch von den Einstellungen wissen, auf die wir uns festlegen. Damit unterstellen wir aber, dass jeder, der überhaupt über Selbstwissen verfügt, solches Wissen auf diejenige Weise erwerben kann, die Moran beschreibt.

Laut Moran und Boyle ist Selbstwissen in der aktiven Fähigkeit fundiert, sich zu etwas zu machen, nämlich zu einem, der das und das glaubt und dieses und jenes beabsichtigt bzw. absichtlich tut. Das gilt für jede Art von Selbstwissen, für einige Formen direkt, für andere indirekt. An diesem Punkt ist mein Ergänzungsvorschlag mehr als eine bloße Ergänzung von Crones Ausführungen. Er steht nämlich in direkter Konkurrenz zu Crones These, dass Selbstwissen in einer passiven Fähigkeit des Selbsterlebens fundiert sei. Vor dem Hintergrund ihrer These ist es, denke ich, auch kein Zufall, dass Crone das Moment der aktiven Selbstbestimmung, das unser geistiges Leben durchzieht, systematisch ausblendet. In einer Theorie, die passives Erleben ins Zentrum rückt, muss solche Selbstbestimmung wie ein Fremdkörper wirken.

Für Crones Fragestellung ist die Selbstzuschreibung von Charaktereigenschaften zentral. Ich will mich deshalb zum Schluss noch der Frage zuwenden, ob und wenn ja wie die Selbstzuschreibung von Charaktereigenschaften in dem vorgeschlagenen Modell des Selbstwissens durch Selbstbestimmung unterzubringen ist. Meine Antwort wird lauten, dass das Modell hier nicht direkt, aber doch indirekt anwendbar ist. Die Selbstzuschreibung von Charaktereigenschaften findet in einem eigentümlichen Wechselspiel zwischen Passivität und Aktivität, zwischen Festgelegtsein und Selbstfestlegung, zwischen Faktizität und Autonomie statt. Die zentrale Rolle, die unser narratives Selbstverständnis in unserem Leben spielt, würde ich innerhalb dieses Wechselspiels verorten.

Zuerst zum Moment der Passivität. Es besteht darin, dass wir uns in jedem Moment mit einem bestimmten Charakter, mit verschiedenen sozialen Rollen und gewissen Eigenschaften vorfinden. Sie sind uns im Laufe unserer Biographie zugewachsen als das Ergebnis unserer Erziehung, das Resultat von Erlebnissen und Erfahrungen und nicht zuletzt als die Wirkung von Entscheidungen, die wir im Laufe unseres Lebens getroffen haben. Charaktermerkmale und soziale Rollen sind insofern etwas Vorgefundenes, als sie das gegenwärtige Resultat von Vergangenem sind. Die Vergangenheit kann aber bekanntlich niemand ändern. Deshalb wissen wir von unserem gegenwärtigen Charakter nicht unmittelbar, sondern müssen uns unsere Vergangenheit vergegenwärtigen, um Aussagen über unseren jetzigen Charakter machen zu können. Aus demselben Grund sind wir selbst nicht die besten Richter über unseren eigenen Charakter und anfällig für Selbsttäuschung, wenn es darum geht, Aussagen über ihn zu machen.

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Unsere Charaktereigenschaften sind nämlich immer auch das Ergebnis aktiver Selbstgestaltung. Sie sind zwar nicht in derselben Weise urteilssensitiv wie Denken und Handeln, aber dennoch abhängig von der Art von Selbstbestimmung, die wir vornehmen, wenn wir uns auf Überzeugungen und Absichten festlegen. Wie etwa Christine Korsgaard immer wieder betont hat, geben wir uns durch unser Denken und Handeln eine praktische Identität und machen uns so zu Personen, die diese und jene Charaktereigenschaften aufweisen. Korsgaards Gedanke ist ungefähr dieser:2 Wir finden uns in jedem Moment in bestimmten Rollen und Identitäten wieder, etwa als Philosophin oder Philosoph, als Universitätsmitarbeiterin oder -mitarbeiter, als Freundin oder Freund von X, Partnerin oder Partner von Y, Sohn oder Tochter von Z, als Mann oder Frau, als Deutsche oder Deutscher usw. In solche Rollen und Identitäten wachsen wir im Laufe unseres Lebens hinein und sie sind großteils kontingent: die Dinge hätten sich auch ganz anders entwickeln können, so dass wir mit einem anderen Beruf oder Partner oder mit andern Freunden durchs Leben gingen. Solche Identitäten und Rollen stellen uns Gründe bereit, und zwar vor allem praktische Gründe: die Tatsache, dass am Samstag Zs Geburtstagsfest stattfindet, ist etwa nur deshalb ein Grund für mich, zu ihr zu fahren, weil ich ihr Sohn bin. Dass es sich um (potentielle) Gründe handelt, bedeutet aber auch, dass ich mich zu ihnen und damit auch zu den Rollen und Identitäten, auf denen sie beruhen, verhalten muss. Ich kann immer die Frage aufwerfen, ob es sich hier wirklich um gute Gründe handelt, und damit einhergehend die Frage, ob ich die dahinterstehende Rolle oder Identität als legitime Quelle von Gründen betrachte. Dass ich das kann, bedeutet zugleich, dass ich auf diese Frage immer eine Antwort parat haben muss. Und das bedeutet, dass vorgefundene Rollen und Identitäten etwas sind, wozu ich mich verhalten kann und muss. Ich kann und muss sie entweder annehmen und fortführen oder aber ablehnen und nicht weiterführen. Und das tue ich, indem ich die Gründe, die sie bereitzustellen vorgeben, als gute Gründe akzeptiere und mein Denken und Handeln an ihnen ausrichte – oder eben nicht. Begründete Entscheidungen zu Handlungen und Überzeugungen sind somit (indirekt) immer auch Entscheidungen darüber, wer wir sind. Denn durch diese Entscheidungen schreiben wir bestimmte Identitäten, Rollen und Charaktermerkmale fort, oder aber wir brechen mit ihnen und entwerfen uns neu, jedenfalls ein kleines Stück weit.

Ich kann nun genauer sagen, was ich mit dem Wechselspiel von Aktivität und Passivität in der Selbstzuschreibung von Charaktereigenschaften meine. Wie Korsgaard betont, entwerfe ich mich im Handeln und Denken selbst, ich gebe mir durch mein Handeln und Denken meine Charaktereigenschaften. Das geschieht aber indirekt: ich bestimmte mich direkt zum Handeln und Denken und erkenne damit zugleich indirekt bestimmte Gründe als gute Gründe, bestimmte Handlungsschemata als gültig an. Da ein Charaktermerkmal zum guten Teil genau darin besteht, bestimmte Gründe als gute Gründe anzuerkennen, in bestimmten Situationen in bestimmter Weise zu handeln, gebe ich mir so, also indirekt, bestimmte Charaktereigenschaften. Da dies in der beschriebenen Weise indirekt geschieht, habe ich von meinen Charaktereigenschaften kein direktes Selbstwissen und bin z.B. der Versuchung zur Selbsttäuschung ausgesetzt. Außerdem findet die Fortschreibung meiner praktischen Identität, wie Korsgaard sie beschreibt, immer vor dem Hintergrund bereits vorgefundener Entscheidungen, Gewohnheiten, Rollen, Charaktermerkmale statt. Sie sind vorgefunden, weil sie das Ergebnis vergangener Entscheidungen sind. Sehr wohl ändern kann man jedoch, was man zu jedem Zeitpunkt aus dieser vorgegebenen Vergangenheit macht, wie man an sie anknüpft und sie in die Zukunft hinein weiterspinnt.

Was hat all das nun mit unserem narrativen biographischen Selbstverständnis zu tun? Ich denke, die vorangegangenen Überlegungen zeigen, dass solche Selbstbilder in einer engen Beziehung zu unserer praktischen Deliberation stehen. Wenn wir uns selbst Rollen, Identitäten oder Charaktermerkmale zuschreiben und das mit Erlebnissen, Handlungen usw. aus unserer biographischen Vergangenheit begründen, so ist das keine rein theoretische Konstruktion. Solche Erzählungen haben ihren zentralen lebensweltlichen Ort nämlich innerhalb der Selbstbestimmung zum Denken und Handeln. Wenn wir bestimmte Gründe als gute Gründe behandeln, so hat das in der Regel auch eine biographische Dimension: wir verstehen das als ein Ergebnis von persönlichen Erfahrungen und Lernprozessen und als Ausdruck unseres individuellen Charakters. Und wenn wir uns im selbstbestimmenden Denken zu den vorgegebenen Bestandteilen unserer Biographie verhalten, dann schreiben wir damit zugleich unsere biographische Selbsterzählung fort. Indem wir uns das biographisch Vorgegebene praktisch aneignen oder uns davon praktisch distanzieren, ändern wir auch unsere biographische Selbsterzählung: wir gewichten Vergangenes anders, wir lassen weg, was nicht mehr in die Erzählung passt und finden (oder erfinden) Vorfälle, die unsere jetzigen Festlegungen stimmig erscheinen lassen, wir geben neue Beschreibungen bestimmter Erlebnisse usw. Die konstitutive Funktion solcher Geschichten und Selbstbilder für unser „Selbstsein“ ist meinem Eindruck nach deshalb in ihrer Beziehung zum selbstbestimmenden Denken zu suchen.

Literatur

Anscombe, G.E.M. Intention, Oxford: Blackwell, 1957.

Anscombe, G.E.M. „The First Person.“ In Metaphysics and the Philosophy of Mind: Collected Papers Vol. II, hg. von ders., 21-36. Oxford: Blackwell, 1975

Boyle, Matthew. „Two Kinds of Self-Knowledge.“ Philosophy and Phenomenological Research 78.1 (2009), 133-164.

Boyle, Matthew. „‚Making up Your Mind‘ and the Activity of Reason.“ Philosophers’ Imprint 11.17 (2011), 1-24.

Evans, Gareth. The Varieties of Reference, Oxford: Clarendon Press, 1982.

Kant, Immanuel (KrV): Kritik der reinen Vernunft.

Kietzmann, Christian. „Does Intention Involve Belief?“ European Journal of Philosophy (im Erscheinen).

Korsgaard, Christine M. Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford: Oxford UP, 2009.

McDowell, John. „Avoiding the Myth of the Given.“ In Having the World in View, hg. von dems., 256-272. Cambridge/MA: Harvard UP, 2009.

Moran, Richard. Authority and Estrangement: An Essay on Self-Knowledge, Princeton/N.J.: Princeton UP, 2001.

Rödl, Sebastian. Self-Consciousness, Cambridge/MA: Harvard UP, 2007.


  1. Moran 2001. Crone erwähnt zwar sowohl die „‚Transparenz‘ der eigenen mentalen Zustände“ (31) als auch die oben zitierte Passage aus Evans’ Varieties of Reference, diskutiert aber weder die Reichweite dieser Transparenz (auf welche Arten eigener mentaler Zustände trifft die These zu, auf welche nicht?), noch gibt sie ihr in ihren weiteren Ausführungen irgendein größeres theoretisches Gewicht. Insbesondere erwähnt sie nicht einmal Morans Kerngedanken, dass Selbstwissen und damit die Besonderheiten der Verwendung der ersten Person in unserer Autorschaft mentaler Zustände begründet sind.

  2. Korsgaard 2009. Auch Korsgaard erwähnt Crone in ihrem Buch zwar mehrfach (etwa 157, 170, 173, 204). Dabei greift Crone aber nur den Gedanken auf, dass Handlungen und Entscheidungen Ausdruck eines Charakters oder einer Identität sind und deshalb bei deren Zuschreibung ein besonderes evidentielles Gewicht haben (170). Korsgaards Kerngedanken, dass wir uns durch unsere Entscheidung eine Identität und einen Charakter geben, ignoriert Crone hingegen.

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