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Symposium zu Crone, Katja: Identität von Personen. Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses. Berlin: de Gruyter 2016. X, 219 Seiten. [978-3-11-024650-6]

Transtemporale Identität und Bewusstsein

Von Tim Henning (Universität Stuttgart)

In ihrem Buch Identität von Personen bemängelt Katja Crone, dass zeitgenössische philosophische Debatten zur Identität der Person die spezielle erstpersönliche Erfahrungskomponente dieser Identität nicht angemessen berücksichtigen. Dieses Versäumnis, so Crone, macht sich in verschiedenen Teildebatten bemerkbar, unter anderem in der Diskussion um die sogenannte narrative biographische Identität (vgl. Schechtman 1996) und die metaphysische Debatte um die numerische Identität der Person über die Zeit hinweg – oder, wie Crone sie bezeichnet, die Transtemporale Identität der Person.

Der vorliegende Kommentar zielt auf Crones Behandlung dieses letzteren Themas. Auch hier lautet Crones Diagnose, wie gesagt, dass gängige Diskussionen um die transtemporale Identität (fortan: TTI) von Personen die „Perspektive der ersten Person“ ungenügend berücksichtigen. Sie spezifiziert diese These in zwei Teilthesen: Erstens übersehen die bestehenden Debatten, dass Urteile über die TTI von Personen eine „besondere Semantik“ (88) haben. Zweitens missverstehen sie die „Fundierung“ (89) dieser Urteile.

Ich diskutiere beide Teilthesen. Im ersten Falle werde ich rundheraus bestreiten, dass Crones Kritik stichhaltig ist. Urteile über die TTI von Personen haben keine besondere Semantik; oder zumindest liegt die Besonderheit, die Crone zu identifizieren glaubt, nicht vor. Tatsächlich, so werde ich darlegen, ist die erstpersönliche Perspektive in diesem Punkt sogar irreführend, weil sie den Anschein einer semantischen „Besonderheit“ weckt, der sich nicht bestätigen lässt.

Im Zusammenhang mit der zweiten Teilthese werde ich behaupten, dass es eine Gegenposition zu Crones Position gibt, die durch Crones Überlegungen nicht ausreichend entkräftet wird. Diese Gegenposition erklärt einige Besonderheiten unserer Erfahrung vielleicht sogar stichhaltiger als Crones eigene Position. Die fragliche Gegenposition ist diejenige Kants.

1. „Besondere Semantik?“

Urteile über die TTI von Personen sollen also, so Crone, eine „besondere Semantik“ haben, die sie von Urteilen über die TTI etwa von bloßen Gegenständen unterscheidet. Eine solche semantische These bedarf natürlich der Begründung: Warum sollten sich Urteile über die TTI von Personen (in relevanter Weise) in ihrer Bedeutung von Urteilen über die TTI von Stühlen etc. unterscheiden?

Crone zufolge liegt der Unterschied in der Vagheit:

[D]er Begriff der zeitübergreifenden Identität – in seiner Anwendung auf natürliche unbelebte Gegenstände und Artefakte – [ist] ein vager Begriff […]. (97)

[D]er entscheidende Unterschied […] [besteht] darin, dass man prinzipiell voraussetzt, dass es eine klare Antwort auf die Frage geben muss – auf die Frage, ob die Person A zum Zeitpunkt t1 mit der Person B zum Zeitpunkt t2 identisch ist (99).

Die These, die das zweite dieser Zitate ausdrückt, nennt Crone auch das Eindeutigkeitspostulat.

Nun ist Crones generelle Argumentation leicht nachvollziehbar. Wenn Vagheit ein semantisches Phänomen ist (was die meisten Autorinnen und Autoren in diesem Bereich vermutlich unterschreiben würden), und wenn sich die entsprechenden Urteile im Hinblick auf Vagheit prinzipiell unterscheiden, dann gibt es eine semantische Differenz. Diese Differenz, so zeigen die Zitate, soll darin bestehen, dass Urteile über die TTI von Personen im Gegensatz zu Urteilen über bloße Gegenstände keine Grenzfälle oder Grauzonen zulassen.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Argumentation lückenhaft ist. Selbst wenn Urteile über die TTI von Personen, anders als Urteile über die TTI von Stühlen, keine Grenzfälle zulassen, so folgt nicht, dass es „der Begriff der zeitübergreifenden Identität“ ist, der im einen Falle vage ist und im anderen nicht und der sich dadurch als ambig entpuppt. Dies ist jedoch Crones Position.

Um diesen Einwand zu erläutern: Es wird allgemein zugestanden, dass Urteile über numerische Identität (und Urteile über Anzahlen überhaupt) in essentieller Weise Sortalbegriffe enthalten.1 Die logische Form eines Identitätsurteils, das wir alltagssprachlich ausdrücken würden als „a ist dasselbe wie b“ muss also strenggenommen verstanden werden als a ist dasselbe F wie b. Das Konstituens „F“ ist dabei ein Sortalbegriff (wie „Person“, „Stuhl“, „Brücke“), der die spezifischen Kriterien enthält, die wir mit Fs verbinden – u.a. Identitätskriterien.

Wenn man dies berücksichtigt, wird klar, dass Crones Argument nicht zeigen kann, dass der Begriff der TTI die Quelle der Vagheit ist. Vielmehr liegt es nahe, dass diese Vagheit im Konstituens „F“ gründet. Es sind die Kriterien, die mit dem Begriff „Stuhl“ verbunden sind, die Grauzonen zulassen. Wenn dasselbe nicht für die Kriterien gilt, die mit dem Begriff „Person“ verbunden sind, dann zeigt das lediglich, dass „Stuhl“ und „Person“ für verschiedene Begriffe stehen. In Bezug auf den Begriff der TTI („dasselbe“, „dieselbe“…) kann man aber weiterhin von einer einzigen Bedeutung ausgehen.

Nun mag man einwenden, dass Crones These über die „besondere Semantik“ dann eben nur etwas ungenau formuliert sei, wenn sie als These über die Semantik der Identität formuliert ist. Sie hätte lediglich formuliert werden müssen als die These, dass der Sortalbegriff Person so beschaffen ist, dass er Identitätskriterien umfasst, die sich grundsätzlich von den entsprechenden Kriterien bei Sortalbegriffen anderer Art unterscheiden, und zwar durch ihre Eindeutigkeit.

Hier wird jedoch ein grundlegenderes Problem mit Crones Argument erkennbar. Es ist alles andere als klar, dass wir das „Eindeutigkeitspostulat“ zur TTI von Personen akzeptieren sollten. Crone sieht die Begründung dieses Postulats in der von ihr zitierten, speziellen erstpersönlichen Erfahrung. Sie geht mit Autoren wie D. Parfit und M. Nida-Rümelin darin einig, dass die erstpersönliche Frage „Werde ich jene zukünftige Person sein?“ den Anschein erweckt, als ließe sie nur ein klares „Ja“ oder ein klares „Nein“ als Antwort zu, keinesfalls aber so etwas wie ein „Ja und Nein“ oder gar ein „Ein bisschen.“ Crone stimmt mit den genannten Autoren daher darin überein, dass wir dann, wenn wir diese Erfahrung ernst nehmen, typische reduktionistische Theorien der personalen TTI zurückweisen werden. (Crone verwendet hier eine Terminologie, die auf D. Parfit zurück geht, und der zufolge eine reduktionistische Position besagt, dass das Vorliegen von TTI in erschöpfender Weise durch Tatsachen erklärt werden kann, die nicht die kontinuierliche Existenz irgendeiner bestimmten Substanz als Substrat der Person behaupten.)

Das Problem liegt darin, dass es überaus umstritten ist, ob unsere erstpersönliche Perspektive an dieser Stelle ein geeigneter Ratgeber ist. Es stimmt zwar, dass wir oft davon ausgehen, dass unsere je eigene Identität über die Zeit eindeutig bestimmt sein muss. Aber das heißt nicht, dass es in der Tat so ist.

Im Gegensteil, ich stimme Autoren wie Parfit zu, dass sich diese Alltagsüberzeugung als irrig ausweisen lässt. Und das lässt sich, anders als es in der Literatur oft geschieht, auch ohne science fiction-Beispiele zeigen, einfach anhand der Beispiele des Beginns und des Endes unserer Existenz.

Ontogenese: Wir kommen in einem graduellen Prozess in die Existenz.

Demenz: Unter Umständen verlassen wir die Existenz in gradueller Weise.

Beide Prozesse enthalten keine nicht-arbiträr identifizierbaren Punkte, an denen unsere Existenz schlagartig beginnt oder endet. Also enthalten sie Grauzonen. Wir haben daher keinen Grund, in dem Eindeutigkeitspostulat etwas anderes zu sehen als eine Überverallgemeinerung.

Wenn wir also im Alltag so tun, als müsste die Frage „Werde ich diese Person sein?“ oder „War ich diese Person?“ eindeutig beantwortbar sein, machen wir (zumindest) den Fehler, nicht weit genug voraus in die Zukunft oder nicht weit genug zurück in die Vergangenheit zu denken. Wenn wir diese diachrone Kurzsichtigkeit vermeiden, stellen wir fest, dass das Eindeutigkeitspostulat nicht gilt und dass die erstpersönliche Perspektive daher keine geeignete Basis für eine Zurückweisung des Reduktionismus ist.

Zudem zeigen diese Beispiele, dass es den von Crone behaupteten Unterschied in der Vagheit nicht gibt und also kein Grund besteht, von einer „besonderen Semantik“ auszugehen.

2. Besondere „Fundierung“?

Crones zweite These zur TTI wirft zunächst ein Deutungsproblem auf: Es ist alles andere als klar, was es heißen soll, dass Urteile über die personale TTI eine besondere „Fundierung“ haben. Nicht alle Erklärungen Crones zur Terminologie des Fundierens sind klar. Aber letztlich zeigen ihre Erläuterungen, dass es sich um eine epistemische Relation handeln muss: Das Bewusstsein der eigenen diachronen Identität, so Crone, gibt uns ein „Gewahrsein“ (136) und „Informationen über die vergangene Existenz“ (142), und es tut dies „unmittelbar“ und nicht-inferentiell (vgl. 136).

Crones zweite Teilthese muss also letztlich wie folgt lauten:

Unser Erleben der eigenen kontinuierlichen Existenz hat einen phänomenalen Charakter, der eine eigenständige Quelle von Wissen über diese Existenz darstellt – eine Quelle, die nicht auf drittpersönlichen Kriterien basiert.

Hier sind zweierlei Anmerkungen nötig. Erstens bestreitet Crone nicht, dass wir auch auf drittpersönlichem Wege Wissen über die TTI von Personen haben können. In diesen Fällen fehle uns bloß eine epistemische Quelle, die wir im eigenen Falle haben. Zweitens akzeptiert Crone Strawsons These, dass es essentiell für Personen ist, sich auch als raumzeitliche und kausal eingebundene Objekte zu verstehen. Ihre These besagt lediglich, dass die spezielle epistemische Quelle der erstpersönlichen Erfahrung nicht davon abhängig ist.

In meiner Kritik dieser These möchte ich Argumente Kants anführen. Kant argumentiert in der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe sowie im Kapitel über die Schematismen in der Kritik der reinen Vernunft für eine Sichtweise, die derjenigen Crones entgegengesetzt zu sein scheint. Es wäre daher interessant gewesen, wenn diese nicht unbedeutende Gegenposition in Crones Diskussion berücksichtigt worden wäre. Jedenfalls soll dieser Teil meines Kommentars dazu einladen, eine solche Auseinandersetzung anzugehen.

3. Crone versus Kant über die „Fundierung“ des Zeitbewusstseins

Wir erfahren unsere Kontinuität, so Crone, wenn wir bestimmte kontinuierliche Erfahrungen machen:

Anknüpfungspunkt der Analyse ist zunächst die Beobachtung, dass verschiedene bewusste mentale Zustände nicht plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, vielmehr gehen sie unmittelbar ineinander über. Dies wird deutlich, wenn man sich beispielsweise das Geräusch eines Autos, das vor dem Fenster vorbei fährt, vorstellt. Jede Phase der auditiven Wahrnehmung ‚fließt‘ nahtlos in die nächste über – ohne Unterbrechung. Diachron auftretende bewusste mentale Zustände sind nicht nur direkt miteinander verbunden, sondern sie werden auch als verbunden erlebt. (127)

Hier, so scheint mir, gibt es drei wichtige Aspekte, die unterschieden werden müssen:

Erstens: Wir machen eine Erfahrung von einem kontinuierlichen Phänomen, der Entwicklung eines Klangs (näherkommend, sich wieder entfernend…).

Zweitens: Wir erfahren dabei diese Erfahrung selbst als etwas Kontinuierliches.

Drittens: Wir erfahren uns, die Subjekte der Erfahrung, als kontinuierlich.

Die Frage lautet nun, welche Beziehung zwischen diesen Aspekten besteht. Ist einer von ihnen fundamental und erklärt die anderen Aspekte? Eine Möglichkeit wäre, dass die Erfahrung unserer selbst als dieselben Subjekte basal ist. Das würde heißen, dass unser begleitendes Bewusstsein („Ich-Gefühl“) z.B. eine spezielle Qualität hätte, an der wir die Erlebnisse als diejenigen desselben Subjekts erkennen können.

Das ist als empirische These zweifelhaft. Und es kann aus zwei Gründen nicht Crones Position sein: Sie betont zum einen, dass jenes Bewusstsein der eigenen Kontinuität „prä-reflexiv“ sein soll. Ein Wiedererkennen der gleichen Ich-Qualität wäre aber gerade eine Reflexionsleistung. Zum anderen nimmt Crone das sogenannte „Brückenproblem“ sehr ernst, das mit der Frage entsteht, wie eine phänomenale Erklärung der TTI von Personen mit Lücken im bewussten Erleben umgeht. Gäbe es eine wiedererkennbare „Ich“-Qualitäten, so gäbe es das „Brückenproblem“ nicht.

Auch Crone zufolge ist es dem begleitenden Ich-Bewusstsein also nicht etwa eingebaut, dass sich das Ich phänomenal automatisch als dasselbe zu erkennen gibt. Dem stimmt auch Kant zu:

[D]as empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. (B 133)

Wie ist der Zusammenhang der drei oben genannten Aspekte aber dann zu verstehen? Die bessere Antwort lautet: Es ist der Zusammenhang des Wahrgenommenen, an dem wir unsere eigene Kontinuität als Wahrnehmende erfahren. Dies ist vermutlich der Grund, warum Crone auf ein Beispiel zurückgreift, in dem sich das Wahrgenommene (ein Geräusch) dergestalt homogen entwickelt.

Aber wie genau ist das möglich? Eine qualitativ kontinuierliche Sequenz von Eindrücken könnte ja durchaus von einem bloß instantanen Bewusstsein (ohne Retention etc.) begleitet werden. Kant befasst sich mit genau dieser Frage. Wie genau ist es möglich, dass wir die Vielzahl unserer Erlebnisse als zu einem Bewusstsein zugehörig begreifen? Kants generelle Antwort lautet, dass es die Synthesis durch Begriffe ist, die dergleichen ermöglicht. Diese generelle Argumentation ist im vorliegenden Zusammenhang nicht zentral. Von Bedeutung ist ein spezielles Argument, mit dem Kant auf die konstitutive Rolle des Kausalitätsbegriffs hinweist. Dieses Argument hat direkt mit der Erfahrung von zeitlich gegliederten Geschehnissen (wie dem Vorbeifahren eines Autos) zu tun. Die These, für die Kant argumentiert, lautet: Um etwas als ein zeitlich geordnetes Geschehnis zu erfahren, müssen wir implizite kausale Urteile über das Erfahrene und über uns fällen.2

Bevor das Argument skizziert wird, möchte ich betonen, dass es der These Crones von der „Fundierung“ unserer Identitätsurteile widerspricht. Wenn Kant Recht hat, dann ist unser erstpersönliches Bewusstsein gerade keine eigenständige Quelle für Wissen über unsere zeitliche Existenz. Im Gegenteil: Alles Bewusstsein der zeitlichen Struktur unseres Bewusstseins setzt voraus, dass wir uns als äußere Gegenstände begreifen können, die in kausalen Beziehungen stehen.

Kant beginnt seine Argumentation mit der Beobachtung, dass wir manches als statische Zustände erfahren, anderes aber als Geschehnisse oder Ereignisse. Sein Interesse gilt – wie üblich – der Frage, was die Bedingungen der Möglichkeit dafür sind, dass wir diese unterschiedlichen Erfahrungen machen.

Es genügt nicht, so Kant, dass unsere Erfahrungen in der Zeit eine Abfolge bilden:

Die Apprehension des Mannigfaltigen in einer Erscheinung ist jederzeit sukzessiv. Ob sie sich auch im Gegenstande folgen, ist ein zweiter Punkt der Reflexion, der in dem ersteren nicht enthalten ist. (B 234)

Bloß weil unsere Eindrücke in der Zeit aufeinander folgen, können wir also noch nichts darüber wissen, ob auch das, wovon wir die Eindrücke haben, eine zeitliche Folge ist. Um dies zu zeigen, kontrastiert Kant zwei bekannte Beispiele:

So ist z. E. die Apprehension eines Mannigfaltigen in der Erscheinung eines Hauses, das vor mir steht, sukzessiv. Nun ist die Frage: ob das Mannigfaltige dieses Hauses selbst auch in sich sukzessiv sei, welches freilich niemand zugeben wird. […]

Allein ich bemerke auch: daß, wenn ich an einer Erscheinung, welche ein Geschehen enthält, den vorhergehenden Zustand der Wahrnehmung A, den folgenden aber B nenne, daß B auf A in der Apprehension nicht folgen, sondern nur vorhergehen kann.

Ich sehe z.B. ein Schiff den Strom hinabtreiben. Meine Wahrnehmung seiner Stelle unterhalb, folgt auf die Wahrnehmung der Stelle desselben oberhalb dem Laufe des Flusses, und es ist unmöglich, daß in der Apprehension dieser Erscheinung das Schiff zuerst unterhalb, nachher aber oberhalb des Stromes wahrgenommen werden sollte.

Die Ordnung in der Folge der Wahrnehmungen in der Apprehension ist hier also bestimmt, und an dieselbe ist die letztere gebunden. (B 236/237)

Meine Wahrnehmung von einem Haus, also von etwas Statischem, kann zum Beispiel beim Dach anfangen, aber sie hätte ebenso gut auch unten anfangen können. Meine Wahrnehmung eines Geschehnisses hingegen ist notwendig irreversibel. Anders als beim Haus muss ich mir die Abfolge Schiff weiter obenSchiff weiter unten so denken, dass die letztere Erfahrung der ersteren folgt.

Diese Irreversibilität, so Kants Idee, kann ich mir nur so denken: Etwas muss genau diese Abfolge meiner Erfahrungen bedingen. Und es kann nicht die intrinsische Qualität der Eindrücke selbst sein, die das tut. Es muss etwas von diesen Erfahrungen Unabhängiges sein, das macht, dass ich das Schiff erst weiter oben und dann weiter unten wahrnehmen musste. Damit ist die Idee von einem Gegenstand, der diesen Erfahrungen korrespondiert und der diese Erfahrungen bedingt, begründet. Meine Erfahrung nimmt notwendig einen bestimmten Verlauf, weil ihr Gegenstand diesen Verlauf diktiert. Dieser Gegenstand muss dann seinerseits anders gedacht werden als das Haus, das als objektives Korrelat keine solche Abfolge diktiert. Ich muss also nicht nur meine Erfahrung als abhängig von etwas Äußerem begreifen. Sondern ich muss auch jenes Äußere so begreifen, dass es zu einem Zeitpunkt nur die eine Erfahrung und zum anderen nur die andere zulässt. Im Gegenstand selbst muss also eine entsprechende Veränderung vorgehen. Und auch diese Veränderung muss ich mir als irreversibel vorstellen, da ich sonst noch immer keinen Grund für die Irreversibilität meiner Eindrücke hätte. Ich muss mir also meinen Gegenstand so denken, dass er einer strukturierten Veränderung unterliegt, die nur in eine Richtung und nicht in die andere möglich ist. Etwas an den sukzessiven Zuständen lässt nur den einen als den ersten zu. So habe ich mir also den Gegenstand als einen gedacht, dessen Zustände sich in einer Weise verändern, die notwendigen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Ich habe mir die Veränderung am Gegenstand also als kausal gedacht.

Daher schließt Kant: Wo immer ich ein Geschehen als ein Geschehen ( i.e. eine Abfolge) erkenne, muss ich eine notwendige Folge, i.e. Kausalität, konzeptualisieren. Und zwar muss ich mir sowohl den Gegenstand als zeitlich kausal gegliedert denken als auch meine Erfahrungen davon als kausal abhängig von jener objektiven Struktur. Daher gilt also, wie gesagt, dass ich mir auch meine Erfahrungen als kausal abhängig von der kausalen Folge der wahrgenommenen Ereignisse denken muss. Kant schreibt: „Die Ordnung in der Folge der Wahrnehmungen in der Apprehension ist hier also bestimmt, und an dieselbe ist die letztere gebunden.“ (B 237) Und weiter: „Ich werde also […] die subjektive Folge von der objektiven Folge der Erscheinungen ableiten müssen.“ (B 238)

Das heißt aber: Die kausalen Voraussetzungen, die Teil meiner Erfahrung von Geschehnissen sind, beziehen mich mit ein. Ich muss mich also, um diese Erfahrung machen zu können, bereits als einen kausal affizierten Gegenstand verstehen, der über die Zeit hinweg weiter existiert. Wir können bewusste Erfahrungen von Geschehnissen nur dann machen, wenn wir die Gegenstände der Erfahrung und uns selbst bereits als objektive und persistierende Gegenstände auffassen, die in kausalen Wechselwirkungen stehen.

Daraus folgt: Unsere entsprechende Erfahrung kann keine eigenständige Quelle des Wissens von unserer Persistenz sein – denn sie setzt dieselbe voraus. Es gibt also keine „Fundierung“ unserer Konzeption unserer TTI in einer vermeintlich basaleren Erfahrung der eigenen Kontinuität. Kant zufolge verhält es sich umgekehrt: Unsere Konzeption von uns selbst als persistierendes, kausal eingebundenes äußeres Objekt liegt jenen erstpersönlichen Erfahrungen zugrunde.

Literatur

Crone, K. Identität von Personen. Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses, Berlin/Boston, 2016.

Frege, G. Die Grundlagen der Arithmetik, Stuttgart, 1884/1986.

Kant, I. Die Kritik der reinen Vernunft, zitiert nach der Paginierung der ersten (A) bzw. zweiten (B) Auflage, 1781/1787.

Lowe, E. J. More Kinds of Being: A Further Study of Individuation, Identity and the Logic of Sortal Terms, London, 2009.

Nida-Rümelin, M. Der Blick von innen. Zur transtemporalen Identität bewusstseinsfähiger Wesen. Frankfurt/Main, 2006.

Parfit, D. Reasons and Persons, Oxford, 1984.

Schechtman, M. The Constitution of Selves, Ithaca, 1996.

Strawson, P. Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London, 1959.

Strawson, P. The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London, 1966.

Wiggins, D. Sameness and Substance Renewed, Oxford, 1981.


  1. Der locus classicus ist Frege (1884/1986). Siehe ebenso Wiggins (1981) und Lowe (2009).

  2. Eine wegweisende Diskussion dieses Arguments bei Kant findet sich bei Strawson (1966).

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