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Bröckling, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp. 2017. 422 Seiten. [978-3-518-29817-6]

Rezensiert von Benedict Kenyah-Damptey (Universität Düsseldorf)

Ulrich Bröcklings Buch Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste versammelt teils neue, teils andernorts bereits erschienene Essays, die für dieses Buch überarbeitet wurden. Auf 422 Seiten stellt der Autor seine Soziologie der Menschenregierungskünste vor, die einen lesenswerten Beitrag zu den Gouvernementalitätsstudien darstellt. Das Buch ist in drei Hauptbereiche gegliedert: Zugänge, Dispositive und Kritik. Im ersten Teil stellt Bröckling seinen theoretisch-methodologischen Zugang zu Themen wie der „Pastoralmacht“, der „Gouvernementalität“, der „Anthropologie“ und den Aufgaben einer „Soziologie der Menschenregierungskünste“ vor. Im Abschnitt Dispositive legt Bröckling elf Einzelanalysen zu den Themen Prävention, Resilienz, Mediation, Nudging, Feedback, Kontraktpädagogik, Wettbewerb, Burnout, Planung, Humankapital und Schlachtfeldforschung vor, die jeweils für sich gelesen werden können und nicht weiter aufeinander aufbauen. Schließlich versucht Bröckling im Abschnitt Kritik, das Verhältnis von Soziologie und Kritik auszuloten. Sein Buch kann als Ansammlung von Folgestudien zu der von ihm bereits früher untersuchten neoliberalen Vergesellschaftungsform des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) gelesen werden. Der nutzenmaximierende Unternehmer des eigenen Humankapitals stellt eine immer wiederkehrende Figur in den verschiedenen Dispositiven der Menschenführungskünste dar, die Bröckling in seinem neuen Buch untersucht. Er führt dabei nicht nur die Gouvernementalitätsstudien weiter, sondern entwickelt auch spannende Thesen über deren Grenzen sowie zum Regieren durch Affekte.

Die Dispositive der Menschenregierungskünste

Zu Beginn seines Buches bestimmt Bröckling den Rahmen seiner Untersuchung, die er als eine exemplarische Typologie (vgl. 18) der Dispositive der Menschenregierungskünste bezeichnet. Damit deutet Bröckling an, dass sich immer wieder neue Dispositive bilden und deshalb keine abgeschlossene Systematik vorgelegt werden könne: Gerade die Veränderbarkeit der Dispositive der Menschenführung durch ihre Fähigkeit, die Widerstände und Kritik zu inkorporieren, mache sie schwer fassbar. Mit dem Begriff des Dispositivs übernimmt Bröckling eines der schwierigsten Konzepte Foucaults, und nicht selten werden sich die LeserInnen fragen, was genau es damit auf sich hat. Wenn Bröcklings Studie für LeserInnen, die mit der Materie noch unvertraut sind, teils schwer zugänglich ist, so mag es mitunter an diesem komplexen Begriff liegen. Vieles hängt argumentativ an ihm, aber er bleibt wenig fassbar. LeserInnen werden schon zu Beginn des Buches mit dem Dispositivbegriff konfrontiert und müssen, weil Bröckling keine kompakte Einführung des Begriffs liefert, die Bedeutungsaspekte dieses Konzepts aus den verschiedenen Stellen des Buches zusammentragen. So sind die bei Bröckling untersuchten exemplarischen Dispositive die Anordnungen, in denen Menschenregierungskünste sich formieren bzw. ausgeübt werden (vgl. 18). Sie sind umfassende Programme, in denen Führungs- und Selbstführungskünste, handlungsorientierende Rationalitäten, Technologien sowie Subjektivierungsweisen miteinander auf jeweils spezifische Weisen verschränkt sind (vgl. 97). In ihnen vereinen sich bestimmte formalisierte und durch Expertendiskurse gestützte Technologien und Verfahren der Kommunikation oder Konsensfindung wie auch die Subjektivierungsform des neoliberalen Unternehmers seiner selbst. Dispositive werden in Anschlag gebracht, um auf bestimmte Problemkonstellationen zu antworten bzw. um die Gouvernementalisierung (vgl. 224) des Sozialen voranzutreiben, da sie dasjenige reglementieren bzw. regierbar machen, was sich zuvor des Zugriffs durch Machttechnologien entzogen hat (etwa politische Widerstände oder die nicht produktiv verbrachte Freizeit der Individuen). Mit „Gouvernementalität“ werden Machtausübungsformen bezeichnet, denen es um die Steuerung oder Regierung der Selbstführung der Individuen, Gruppen oder Populationen durch Selbstregierung geht. Die Dispositive definieren im Rahmen dieser ‚Regierungsweise Probleme und bieten Strategien und Taktiken zu ihrer Bewältigung an.

Die Form der Machtausübung, die Bröckling in den „zeitgenössische[n] Dispositive[n] der Menschenführung“ (17) analysiert, ist die der Pastoralmacht (vgl. 43), wie sie Foucault beispielsweise in seinem Vortrag Omnes et singulatim (2005) oder seiner Vorlesung Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (2006) analysiert. Das Konzept der Pastoralmacht erklärt den titelgebenden Begriff von Bröcklings Buch, nämlich die sanften Führungskünste der Hirten. Die Pastoralmacht analysiert er als eine Machtform, die sich dadurch auszeichnet, dass sie zugleich eine individualisierende sowie eine totalisierende Wirkung entfaltet: Sie formt durch Integrations- oder Exklusionsmechanismen bestimmte Gruppen oder gar ganze Bevölkerungen, sie prägt aber auch spezifische Modalitäten der Individualität. Eine solche Individualität wäre beispielsweise die Subjektivierungsform eines Selbstunternehmers, der sich im verallgemeinerten Wettbewerb mit Techniken der Resilienz ausstattet, um den größten Nutzen aus seinem Humankapital zu schlagen. Die „Hirten“ zeichnen sich in dieser Konzeption dadurch aus, dass sie jeweils das Heil ihrer „Herde“ im Sinn haben (vgl. 169) und dafür nicht nur bisweilen Aufopferungsbereitschaft an den Tag legen müssen, die wiederum durch freiwilligeres Folgen der Herde belohnt wird, sondern auch ein individuelles Verhältnis zu den Geführten aufbauen müssen. Es ist eben notwendig, alle und jedeN einzelneN zu führen. Dafür müssen die zu führenden Individuen ein von ihnen gefordertes Wissen von und über sich produzieren bzw. ein solches Wissen über sich annehmen (anthropologische Annahmen haben hier also subjektivierende Effekte), um so durch je spezifische Machttechnologien handhabbar zu sein. Beispielsweise hat „der Mensch“ als homo oeconomicus ein rationaler Marktakteur zu sein – und zu werden –, der sich nutzenmaximierend verhält (vgl. 180) – zumindest nach der Auffassung neoliberaler Dispositive des Wettbewerbs, die individuelle Steuerbarkeit, Handlungsrationalität und subjektivierende Anthropologie verbinden. Die „Hirten“, die – in Ermangelung einer besseren Erklärung durch Bröckling – in den meisten der analysierten Dispositive als die Experten der jeweiligen Diskurse (Psychologen, Pädagogen, Ökonomen) zu verstehen sind, führen zum Beispiel dadurch sanft, dass sie nicht auf offensichtlichen Zwang und körperliche Gewalt setzen müssen, um Machteffekte zu zeitigen. Mehr noch: Sie müssen nicht einmal den Anspruch vertreten (oder gar sich dessen bewusst sein), dass sie Macht ausüben. So zeigt Bröckling unter anderem am Beispiel des Nudging eindrucksvoll, wie Verhalten dadurch gesteuert werden kann, dass man beispielsweise eine Fliegen-Applikation an Urinalen anbringt oder das gesunde Essen in der Schulmensa bequemer erreichbar und sichtbarer positioniert als das ungesunde (vgl. 185): Wer würde auch nicht gern seine Umwelt sauber und sich selbst gesund halten wollen? Die Sanftheit der pastoralen Führungstechniken funktioniert gerade dadurch, dass individuelle Freiheiten vorausgesetzt und gewahrt werden (vgl. 22) und dem Handeln etwa durch Optionsdesign (vgl. 190) ein Rahmen gegeben wird, innerhalb dessen man sich dann „frei“ entscheiden kann. Die Effizienz dieser Machtausübungsform besteht darin, dass Führung durch je spezifische Subjektivierungsweisen zur Selbstführung wird, die den Individuen nicht einmal mehr als Form der Machtausübung ins Bewusstsein kommt, wenn Selbstständigkeit und Selbstmanagement zu den Anforderungsprofilen bestimmter Dispositive der Menschenführung geworden sind (vgl. 378f.). Problematisch ist jedoch das asymmetrische Machtverhältnis zwischen denen, die Wissens- und Wahrheitsproduktion bei den Individuen anregen wollen, und den geführten Individuen selbst, die das spezifische geforderte Wissen nicht nur bereitstellen, sondern es auch für ihre Selbstoptimierung nutzen: kaum eine Smartphone-App, die sich nicht für die Bewegungsdaten, recherchierten Suchbegriffe oder besuchten Internetseiten interessiert, um Stadterkundungsrouten, die „besten“ Antworten auf eine Frage oder genau das richtige Produkt vorschlagen oder bewerben zu können.

Eine problematisierende Soziologie als Agent des Politischen: Wie man Ordnungen erschüttert

Bröcklings Buch ist etwas für theoretische „BastlerInnen“: Die einzelnen Versatzstücke seiner Theorie und Kritik müssen aus dem Buch zusammengetragen und kombiniert werden: Eine kritische Soziologie hat beispielsweise den Auftrag, zeitgenössische Dispositive der Menschenführung zu analysieren, die allesamt an der Verwissenschaftlichung des Sozialen arbeiten (vgl. 8). Diese wissenschaftliche Ausrichtung macht Experten der einzelnen Disziplinen möglich und nötig, die ihren Gegenstand nicht nur genau bestimmen, sondern auch normative Verfahrensregeln aufstellen. So wäre etwa ein politischer Konflikt in ein wissenschaftlich angeleitetes kommunikatives Verfahren der Mediation zu überführen, bei dem beide Seiten am Ende aufeinander zugehen sollen. Die von Bröckling angeführten Technologien der Menschenführung betrachten die Freiheit der Menschen als ein wichtiges, aber eben ‚steuerungsbedürftiges‘ Gut und stellen daher ‚sanfte‘ Verfahren der Zwangsausübung dar (vgl. 9), wie beispielsweise den Redezwang, den Eltern über ihre Kinder in den Modellen der Kontraktpädagogik ausüben (vgl. 235f.; 241f.). Es ist eine essentielle Voraussetzung der Gouvernementalitätsanalysen, dass das so verstandene pastorale (sanfte) ‚Managen‘ der Freiheit der Individuen, Gruppen und Populationen (vgl. 8) eine Form der Machtausübung darstellt. Es handelt sich hierbei nicht mehr um an einer fixen Norm ausgerichtete Disziplinierung, in der Fremdzwang zu Selbstzwang (vgl. 177) wird: „Die Disziplin bleibt in ihrem Kern eine heteronome Macht und eignet sich deshalb nicht oder nur eingeschränkt als soziales Ordnungsprinzip für die auf Komplexität und Kontingenz gegründeten modernen Gesellschaften.“ (178) Die sanften pastoralen Führungskünste und -techniken setzen viel eher auf kybernetische Selbststeuerung der Individuen und Gruppen in vorgezeichneten Rahmen. Die Effizienz dieser Art der Machtausübung besteht darin, in den Einzelnen selbst den Impuls zu wecken, Wissen über sich zu produzieren und ihr eigenes Handeln und ihre Selbstwahrnehmung anhand bestimmter Rahmenbedingungen zu orientieren. Ein Beispiel sind die „Lifelogging-Tools, mit denen jeder seine persönlichen Messwerte mit Normwerten und/oder der statistischen Normalverteilung abgleichen und sich dann überlegen kann, Diät zu halten, statt des Aufzugs die Treppe zu benutzen oder abends früher ins Bett zu gehen.“ (192, Hervorhebung im Original) Der Unterschied zur disziplinären Normierung besteht darin, dass es bei der Disziplin noch einen „one best way“ (177, Hervorhebung im Original) gab, nämlich die (asymptotische) Annäherung an den Sollwert; nun aber – etwa innerhalb einer neoliberalen Wettbewerbslogik – gerade die „kreative Differenz und Abweichung von der Norm“ (256) gefragt sind. Die Abweichung vom Mainstream gehört als permanente (Selbst-)Optimierungsanstrengung zum Anforderungsprofil. „Und weil man mit seinen Alleinstellungsmerkmalen nur selten lange allein bleibt, darf man mit der Anstrengung, anders zu sein als die anderen, niemals aufhören.“ (256)

Nochmals: Pastoralmacht wird hier als Führung der Selbstführung verstanden (vgl. 16f.). Auf Gewalt kann zwar meistens verzichtet werden, dennoch wird vorausgesetzt, dass der Zwang zur Wissensproduktion und die Steuerung der Selbststeuerung auf asymmetrischen Machtverhältnissen beruhen, die noch in dem Maße verstärkt und verwischt werden, in dem sie von den Individuen selbst nicht als Einschränkung ihrer Freiheit wahrgenommen werden. Die Frage, die sich angesichts dieses dystopisch anmutenden Szenarios stellt, ist: Wer führt eigentlich wen? Bröcklings Antwort lautet: Die Herde führt sich – mitunter – selbst. „Machtausübung wird damit koextensiv mit Sozialität“ (16f.). Die Pastoralmacht ist vielschichtig und es ist nicht so, als würden die ‚Machthaber‘ bzw. ‚Hirten‘ verschwinden – zumal der Name für diese Form der Machtausübung dann denkbar schlecht gewählt wäre. Das Konzept entwickelt aber seine analytischen Stärken dort, wo „kybernetische[] Konzepte[] der Selbststeuerung“ (18) in den Blick genommen werden, die unterhalb der Schwelle der Wahrnehmbarkeit verblieben, wenn man sie nach dem Modell „Person X hat die Macht und sie übt sie über Person Y, die keine Macht hat, aus“ analysieren würde. Die Menschenregierungskünste, daran will Bröckling keinen Zweifel lassen, negieren nicht die Freiheit der Subjekte, sondern setzen diese voraus: „Wäre das menschliche Verhalten vollständig determiniert, brauchte es keine Machtinterventionen; ließe es sich nicht beeinflussen, wären keine möglich.“ (16) Bröckling bezeichnet die Techniken und Technologien der Menschenführung als ‚politisch‘, insofern sie soziale Ordnungen hervorbringen, modifizieren oder verfestigen und damit zur Ausbildung entsprechender Handlungs- und Wahrnehmungsformen führen.

Der Begriff des Politischen selbst wird über weite Strecken in Bröcklings Studie vorausgesetzt, ausführlich dargestellt wird er erst recht spät im Buch (vgl. 173f.; 380ff.). Bröckling orientiert sich beim Begriff des Politischen an Jacques Rancières Das Unvernehmen (2002), etwa mit der These, „dass nicht die möglichst reibungsarme Regulierung des Sozialen, sondern das Aufbegehren derjenigen, die vom Status des gesprächsfähigen Subjekts ausgeschlossen sind, dass nicht Konsens, sondern Dissens die Grundlage des Politischen bilden“ (173). In diesem Sinne kritisiert Bröckling, dass viele (wenn nicht alle?) zeitgenössischen Dispositive der Menschenführung „politische Technologie[n] der Entpolitisierung“ (173 – meine Hervorhebung) seien. Untersucht werden die „Wege, andere Menschen und sich selbst dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun und andere zu lassen.“ (175) So stellt Bröckling für die subtile Verhaltenssteuerungstechnologie des Nudging fest:

Die Politik des Nudging erweist sich als Entpolitisierung im Zeichen eines verallgemeinerten Behaviorismus, der demokratische Deliberation durch Expertokratie und Aufklärung durch Verhaltensmodifikation ersetzt. Auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments mag sie nicht hoffen, an den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit nicht glauben, deshalb versucht sie seine Entscheidungen von beidem unabhängig zu machen. Sie spricht die Einzelnen nicht schuldig, für ihre Rationalitätsverzerrungen können sie ja erst einmal nichts, aber unterwirft sie einer Führung, die Optionsdesign an die Stelle von Überzeugungskraft setzt und den Menschen, statt ihnen Vorschriften zu machen, nahelegt, das Richtige einfach deshalb zu tun, weil es bequemer ist, kein Nachdenken verlangt oder in anderer Weise belohnt wird. (190)

Dieses Zitat ist bezeichnend, da es Aufschluss über ein Problem gibt, das sich bei vielen LeserInnen Bröcklings – zweifellos gelungener und hoch-informativer – Essays einstellen dürfte. Man bemerkt zwar den kritischen Ton der Analysen, der erahnen lässt, dass die analysierten Menschenregierungskünste auf die ein oder andere Weise von Bröckling zurückgewiesen werden, es fehlt aber oft die Perspektive, wohin diese Kritik weist oder von wo aus sie formuliert wird. Im obigen Zitat könnte ein solcher Hinweis enthalten sein, denn Bröcklings scharfe Gegenüberstellungen von ‚demokratischer Deliberation versus Expertokratie‘ und ‚Aufklärung versus Verhaltensmodifikation‘ deutet auf den aufklärerisch-emanzipatorischen Anspruch seiner Studie hin.

Wie nähert man sich analytisch den komplexen Machtdispositiven, die teils wenig Überschneidungen aufweisen und selten als Machtausübungsform wahrnehmbar sind? Bröckling schlägt dafür eine „Soziologie der Menschenregierungskünste“ (7) vor, die „problematisiert, wie man Menschen beziehungsweise wie man sich selbst zum Menschen macht und welche intendierten und nichtintendierten Folgen dabei zu bewältigen sind.“ (57) „Problematisierungen“ untersuchen nicht nur, wie in den jeweiligen Dispositiven Probleme definiert und handhabbar gemacht werden, sondern lassen diese Praxis selbst als etwas Problematisches erscheinen. Hierin verrät sich Bröcklings Überzeugung, dass sich für eine solche Soziologie die Aufgaben der Analyse und der Kritik – in einem noch näher zu spezifizierenden Sinn – nicht voneinander trennen lassen. Im Namen einer zu entwerfenden Soziologie der Menschenregierungskünste, die als Agent des Politischen aufzutreten hätte, hebt Bröckling diese von wissenssoziologischen oder kritisch-rationalen Spielarten der Soziologie ab:

Kurzum, sie [die kritisch-rationale oder Wissenssoziologie; B.K.-D.] hat sich der Analyse sozialer Ordnungen verschrieben und deren Störung allenfalls als Abweichung oder Defizit thematisiert. Wie die Soziologie dem Platz einräumen könnte, was ihre eigenen Ordnungsmodelle durchkreuzt, wie ihre Erkenntnisse politisch in dem Sinne werden könnten, dass sie Konflikte nicht nur beobachtet, sondern auch anstößt, und wie sich schließlich eine so verstandene Kritik in soziologische Forschungspraxis übersetzen ließe – das zu erkunden steht ihr noch bevor. (382, meine Hervorhebung)

Das Bild einer solchen, auf Krawall gebürsteten Soziologie mag mit kritisch-rationalistischen oder wissenssoziologischen Vorstellungen dieser Disziplin konfligieren, es sollte aber nicht dazu verleiten, Bröcklings Untersuchungen die analytische Schärfe voreilig abzusprechen. Sie hat als Soziologie der Menschenführungskünste einen gegenwartsdiagnostischen Auftrag. Sie darf sich als Soziologie nicht der Kritik verschließen, sondern muss diese als integrales Analyseinstrument begreifen und verfügt über die entsprechenden Verfahrensweisen:

Statt eine Geschichte der Regierbarmachung zu konstruieren oder viele Geschichten ihres Scheiterns zu dokumentieren, ginge es darum, die Konstellationen zu analysieren, in denen jeweils bestimmte Strategien des Zugriffs, bestimmte Muster von Resistenz und bestimmte Formen, über beides zu sprechen, aufeinandertreffen. Nicht nur die gouvernementalen Programme, sondern auch die widerständigen Praktiken wären daraufhin zu befragen, wie sie die Probleme bestimmen, auf die sie antworten, mit welchen Subjektpositionen und Subjektivierungsmodi sie operieren, welcher Interventionsformen sie sich bedienen und welche Plausibilisierungsstrategien sie einsetzen, um diese zu begründen, schließlich welche Verheißungen sie daran knüpfen und welche Ziele sie damit zu erreichen hoffen. (397, Hervorhebungen im Original)

Die Problematisierung solcher Formen der Regierbarmachung als soziologisches Projekt durchzuführen hieße, zu zeigen, dass Regierungsanstrengungen dieser Art stets mit kontingenten Widerständen konfrontiert sind (vgl. 394f.). Analysiert werden müssten also auch immer Praktiken und Programme des „Nicht-regiert-werden-Wollens“ (396). Diese widerständigen Praktiken lassen sich aber, so Bröckling, nicht wissenschaftlich-theoretisch ein für alle Mal fixieren: „Zum Glück.“ (396) Hierin verrät sich ein gewisses ‚Lob der Widerstände‘, das Bröcklings Analysen wie ein basso continuo durchzieht. Das Problematische ‚der Wissenschaft‘ – und hier verweist er erneut auf Rancière – sei, dass sie „eine Aufteilung des Sinnlichen [vollzieht] und […] Dingen wie Menschen einen festen Platz [zuweist].“ (396) Die Widerstände in die Analyse mit aufzunehmen sei daher für die Soziologie der Menschenführungskünste essentiell: „Die Widerstände […] sind politisch, sie markieren eine Unterbrechung, eine Störung auch der Ordnung wissenschaftlicher Klassifizierungen und Erklärungsmodelle.“ (396) Daher erklärt sich Bröcklings

aporetische Alternative, entweder von den Widerständen zu schweigen, weil über sie zu sprechen hieße, sie dem Zugriff der Regierungsmächte auszuliefern; oder aber über sie zu sprechen, weil zu schweigen hieße, jenen in die Hände zu arbeiten, die das Widerständige unsichtbar halten wollen (396).

Erst aus diesem Zusammenhang wird verständlich, warum Bröckling im Kritikmodus der Problematisierung verfährt.

Für Bröckling hat Soziologie als Problematisierungsweise somit einen kritischen Auftrag. Den verschiedenartigen und disparaten gouvernementalen Menschenregierungskünsten ist mit einer Kritikform zu begegnen, die ebenso vielschichtig ist. Sie hat zuerst ihren Gegenstand genau zu bestimmen und zu analysieren. Im Fall der Menschenregierungskünste bedeutet dies, Formen der Machtausübung, die sich gerade dort als solche unkenntlich machen, wo sie nicht durch Gewalt und offensichtlichen Zwang agieren, als Machtausübung sichtbar werden zu lassen. Foucault schrieb in Überwachen und Strafen (1976) „die Sichtbarkeit ist eine Falle“ (257) und meinte damit die Sichtbarkeit, der die Individuen durch die disziplinäre Machtsituation des Panoptismus ausgesetzt sind. Wie Foucault in seiner Studie stellt auch Bröckling den disparaten Machttechnologien dadurch eine ‚Falle‘, dass er sie in seiner Studie analytisch fixiert und somit sichtbar – und somit letztlich auch kritisierbar – macht. Wenn – wie Foucault in Was ist Kritik? (vgl. 1992: 12) formuliert – Kritik die Kunst ist, „nicht beziehungsweise nicht dermaßen regiert werden zu wollen“ (409), so sind Bröcklings Analysen Mittel, um die zeitgenössischen Dispositive der Menschenführung als solche erkennen zu können. Das liefert die Grundlage dafür zu verstehen, was das „Dermaßen“, also die je spezifischen Verfahrensweisen der unterschiedlichen Regierungskünste, überhaupt zu bedeuten hat und wie man es anstellen oder allererst denkbar machen könnte, nicht so regiert zu werden. In dieser ‚bloßen‘ analytischen Sichtbarmachung sind Bröcklings Essays kritisch und politisch zugleich: Kritisch sind sie, da sie das Urteilsvermögen in Bezug auf die analysierten Technologien der Menschenführung schärfen und es dadurch ermöglichen, sich nun zu diesen, statt nur ihnen entsprechend, zu verhalten. Politisch sind sie im Sinne Rancières, der hier Bröcklings Stichwortgeber ist, da sie mit der Sichtbarmachung der Technologien und Formen der Menschenführung „die fraglose Ordnung der Dinge […] irritieren, die Dinge in Unordnung […] bringen oder sie anders [anordnen]“ (409). Kurz: „Politisch ist die Störung der Ordnung durch diejenigen, für die in ihr kein Platz vorgesehen ist.“ (381) Bröckling versucht, den „Platz“ kritischer soziologischer Analysen auszuloten, die nicht den Regierungsprogrammen in die Hände spielen, die über Integration der an ihnen geübten Kritik sogar noch an Kontur gewinnen (vgl. 394). Daher gelte es, eine „Kritik auf der Höhe der Zeit“ (390) zu (er)finden, die „[s]tatt das Spiegelspiel von Markt versus Staat, von Selbst- versus Fremdbestimmung weiterzuführen […] nach Wegen zu suchen [hätte], dieses Spiel hinter sich zu lassen.“ (390)

Bröcklings Buch sei daher allen empfohlen, die sich eine Orientierung im Feld kritischer Gesellschaftsanalysen im Anschluss an die Gouvernementalitätsstudien verschaffen möchten und die der Frage nachgehen wollen, was eine kritische Soziologie – im Sinne eines sehr speziellen Kritikverständnisses – zu leisten hätte. Es sei den LeserInnen empfohlen, nach Bröcklings methodologischer Einführung im ersten Teil des Buches sofort zur Kritikreflexion im dritten Teil überzugehen, um mit einem geschärften Blick dafür, was für Bröckling „Kritik“ im Zeichen des „Politischen“ überhaupt bedeuten könnte, die einzelnen Essays besser verstehen und einordnen zu können.

Literatur

Bröckling, Ulrich. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Berlin: Suhrkamp, 2007.

Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976.

Foucault, Michel. Was ist Kritik? Berlin: Merve, 1992.

Foucault, Michel. „‚Omnes et singulatim‘. Zu einer Kritik der politischen Vernunft.“ In: Analytik der Macht, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, 188–219. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.

Foucault, Michel. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006.

Rancière, Jacques. Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002.

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