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Rezension zu Andreas Kemmerling: Glauben. Essay über einen Begriff. Frankfurt a.M.: Klostermann 2017. 684 Seiten. [978-3-465-03976-1]

Rezensiert von Manuel Bremer (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

Andreas Kemmerlings monumentaler Essay Glauben setzt sich das Ziel, eine begriffsanalytische Untersuchung eines fundamentalen erkenntnistheoretischen Begriffes zu liefern, des Begriffs des Glaubens (verstanden als Für-wahr-Halten im weiten Sinne, das verschiedene Grade des Überzeugtseins umfasst). Dabei soll zugleich die Methode der Begriffsanalyse vorgeführt werden. Der Schwerpunkt der grundlegenden methodischen Erläuterungen findet sich in den ersten Kapiteln, wobei später noch Ergänzungen hinzukommen. Der hintere Teil des Buches entwickelt Kemmerlings Thesen zu höherstufigem Glauben, Selbstkenntnis und Selbstwissen bezüglich des eigenen Glaubens. Der mittlere Teil des Buches unterzieht traditionelle und gegenwärtige Theorien des Glaubens einer Kritik.

Methodisch sind Abhandlungen in der Philosophie des Geistes oder der Erkenntnistheorie oft eine Mischung von u.a. Traditionsbeständen, empirischen Berichten, Begriffsanalysen, explanativen Hypothesen, Theoriebildung (auch durch Postulate), empirischen Spekulationen und quasi-phänomenologischen Beschreibungen. Kemmerling setzt dem die Idee einer im engeren Sinne philosophischen Untersuchung, einer begriffsanalytischen Untersuchung, entgegen. Insbesondere will er sich abgrenzen von den empirischen Spekulationen, die heute in den Kognitionswissenschaften vorherrschen und zunächst den ‚reinen‘ Begriff des Glaubens und dann den ‚menschlich normalen‘ Begriff des Glaubens analysieren. Diese kritische Ausrichtung macht das Buch lesenswert für alle, die ansonsten eher eben solchen Theorieansätzen anhängen. Kemmerling bekennt sich an verschiedenen Stellen zum Naturalismus (und zugleich zum neurophysiologischen Materialismus). Das sollte den, welcher vom Naturalismus wenig hält, wenig kümmern, da dieses Bekenntnis keine besondere argumentative Funktion hat. Begriffe versteht Kemmerling als Abstrakta, die durch ihre inferentielle Rolle bestimmt sind. Die Begriffsanalyse will die zentralen begrifflichen Wahrheiten offenlegen. Im Buch finden sich so eine Reihe von Prinzipien, die Kemmerling als begriffliche Wahrheiten zu begründen unternimmt. Diese reichen vom trivialen ‚Wissen impliziert Glauben‘ bis zu anspruchsvollen ceteris paribus Prinzipien (etwa: dass unter bestimmten Bedingungen die Zustimmung zu einem Satz der beste Grund zum Zuschreiben eines Glaubens mit entsprechendem Inhalt ist). Kemmerling sieht die Fülle solcher Prinzipien als unerschöpflich an. Mit ihnen wird der Begriff des Glaubens implizit definiert. Ob man von dort zu einer expliziten Definition kommt (ob also Beths Theorem, dass alle impliziten Definitionen in explizite verwandelt werden können, Anwendung findet), hängt von der logischen Struktur der explizierenden Theorie ab, zu der Kemmerling wenig sagt. Die Bestimmung analytischer Wahrheiten über ‚Glauben‘ muss sich zudem nicht auf eine Semantik inferentieller Rollen festlegen: auch wenn ‚Glauben‘ nicht vollständig durch diese Wahrheiten definiert wird, sondern ein atomarer Begriff ist, kann es dennoch Verbindungen zu anderen Begriffen geben. Eine große Rolle spielen hier begriffliche ‚Intuitionen‘ bzw. ‚Begriffskompetenz‘. Manche Begriffsanalytiker berufen sich diesbezüglich auf ihre eigene Ideolektkompetenz, da ansonsten nur empirische Umfragen unter Sprechern zur Verfügung stünden.

Kemmerling wählt den nicht-empirischen Weg. Zu Recht kritisiert er den inflationären Gebrauch von Gedankenexperimenten, bei denen in der Beschreibung des Szenarios oft die These, auf die gezielt wird, schon abgesichert wird. Trotzdem behauptet er zum Beispiel, dass Putnams Gehirne im Tank und Davidsons Sumpfmann „unabweisbar“ (572) gezeigt hätten, dass Überzeugungen nicht im Kopf sind. Ebenfalls macht er freien Gebrauch vom ‚Vorstellen‘. So ließe sich vorstellen, dass Löffel etwas glauben, was zeige, dass mit dem reinen Begriff des Glaubens wenig über epistemische Subjekte oder deren innere Zustände gesagt wird (138). Das sollte man ablehnen: Ich kann mich bildlich an einen Zeichentrickfilm mit sprechenden Löffeln erinnern. Ich kann das Kinderbuch vom Löffel Leopold malen, in dem dieser spricht. Diese bildlichen ‚Vorstellungen‘ besitzen keine Implikationen für den Begriff der semantischen Möglichkeit. Ich kann auch das Kinderbuch von der kratzbürstigen Konjunktion malen, die nicht bei eigener Wahrheit die beider ihrer Konjunkte einräumt. Jenseits bildlicher Vorstellungen ist ‚Vorstellung‘ mehr als unklar. ‚Vorstellung‘ gehört ganz oben auf die von Kemmerling angemahnte Liste der philosophisch zu inkriminierenden Ausdrücke, auf der er – zu Recht – ‚propositionale Einstellung‘ platzieren möchte. Ein substantieller Begriff von Vorstellung im Sinne der Apologeten der These, dass Vorstellbarkeit Möglichkeit impliziert (d.h. einer, der die kratzbürstige Konjunktion ausschließt, aber evtl. so etwas wie den Löffel Leopold zulässt) wurde bisher nicht geliefert. Ebenfalls dringend klärungsbedürftig ist, wer festlegt, was zur ‚Alltagspsychologie‘ gehört. Auch hier werden viele Kemmerlings Verdikten nicht immer zustimmen.

Im Laufe der Untersuchung muss Kemmerling selbst seinen methodischen Rahmen erweitern: er führt Festlegungen und Postulate ein (etwa um die kausale Rolle von Glaubenszuständen als Begriffsmoment aus dem Begriff des Glaubens auszuschließen, oder das keineswegs bezüglich des Untersuchungsgegenstandes harmlose Postulat, sich auf den „bewusstseinszugänglichen Glauben“ (475) eines normalen Menschen zu beschränken) und verwendet eine empirische Theorie des menschlichen normalen Glaubens (etwa 297, 467), bezüglich dessen sich dann ceteris paribus Prinzipien begründen lassen. Im Kontext der Frage der Zugänglichkeit des eigenen Glaubens und Urteilens legt er quasi-phänomenologische Beschreibungen des Beisichseins und unmittelbaren Selbstbewusstseins vor. Damit nähert er sich methodisch den üblichen Abhandlungen an. Dennoch bleibt die Betonung auf der Begriffsanalyse. In deren Rahmen lässt sich Vieles, das in den Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes als selbstverständlich gilt, nicht als Bestandteil des Begriffes Glauben erweisen.

Kemmerlings Kritik an Konzeptionen des Glaubens schwächt sich beim Übergang vom ‚reinen‘ Glauben zum ‚menschlich normalen‘ Glauben ab. Kemmerling bestreitet, dass reiner Glaube ein dispositionaler, funktionaler oder repräsentationaler Zustand ist. Für den menschlichen normalen Glauben spielen dann allerdings Dispositionen eine wesentliche Rolle. Auf der einen Seite kann man die entsprechenden diffizilen Kritiken Kemmerlings als Grenzziehung begrüßen, die klarlegt, wo die philosophische Analyse aufhört und die empirische Theoriebildung und Spekulation anfängt. Auf der anderen Seite kann man die Ergebnisse dieser Begriffsanalyse als Nachweis ansehen, wie dringend es ist, über reine Begriffsanalyse hinauszugehen.

Gegenstand der Untersuchung ist das propositionale Glauben (‚glauben, dass p‘), nur davon ist im Folgenden die Rede. Eine Glaubenszuschreibung ‚Peter glaubt, dass Paul belesen ist‘ zielt auf eine Glaubenseigenschaft, nämlich eine Eigenschaft Peters ‚zu glauben, dass Paul belesen ist‘. Ein Glauben ist ein epistemischer Zustand, eine Eigenschaft eines epistemischen Subjektes. Ein Glauben hat einen wahrheitsfähigen Inhalt. Kemmerling fasst diesen Inhalt als ‚Proposition‘, einen abstrakten Gegenstand, nicht als einen Satz einer mentalen oder natürlichen Sprache. Dies hängt mit Kemmerlings Kritik des Repräsentationalismus zusammen, welcher einen Glauben als Beziehung zu einem Satz einer mentalen oder natürlichen Sprache bestimmt. Davon wird unten noch mehr die Rede sein. Diese metaphysische Festlegung auf Propositionen wird begleitet von einer auf ‚Begriffe‘ als abstrakten Gegenständen. Auch Skeptiker bezüglich solcher abstrakter Entitäten können jedoch vom Hauptteil des Buches lernen, indem sie einfach diese Skrupel zurückstellen. Hinweisen werden sie allerdings darauf, dass Kemmerlings Rede davon, dass Begriffe in den Glaubensinhalt „eingehen“ oder „involviert“ (290) sind mysteriös bleibt, wenn hier keine Repräsentationen beteiligt sein sollen. Wie machen Begriffe und epistemische Subjekte das? Wie glaubt man einen abstrakten Gegenstand, eine Proposition? Warum entsprechen die Sätze in den Glaubenszuschreibungen eigentlich den Glaubensinhalten (den Propositionen) so gut? Insofern es (auch) um Erkenntnistheorie geht, sind dies keine überflüssigen Fragen.

Die Konzentration auf das propositionale Glauben ist auch so zu verstehen, dass quantorenlogische Fragen nicht aufgeworfen werden. Zum Verständnis, wie Propositionen geglaubt werden, gehört auch, welche Zusammenhänge zwischen der Logik epistemischer Ausdrücke und den ontologischen Annahmen, die Glaubende machen, bestehen. Gerade das Vorkommen von Quantoren innerhalb und vor epistemischen Operatoren (wie ‚glaubt, dass‘) wirft eine Fülle von metaphysischen Fragen auf. Wird etwas von Existentem geglaubt (etwa: Peter glaubt vom Heidelberger Schloss, dass es sehr groß ist) oder wird etwas als existierend geglaubt (etwa: Peter glaubt, dass im Heidelberger Schloss Graf Dracula wohnt, Dracula also existiert). Die Ontologie des epistemischen Subjektes wird sich i.d.R. von der tatsächlichen bzw. derjenigen eines Glaubenszuschreibers unterscheiden (etwa: Petra berichtet amüsiert, dass Peter an Fantasywesen wie Graf Dracula glaubt). Gerade die epistemische Modallogik muss sich Fragen nach ‚Possibilia‘ (nach möglicherweise existierenden Objekten) und wechselnden Quantifikationsdomänen (unterschieden zum Beispiel zwischen der einer Berichterstatterin und der eines Glaubenden, über den berichtet wird) stellen. Denn wieder geht es um die Frage, worauf sich das epistemische Subjekt bezieht. Wovon wird was geglaubt? Und wie soll Nichtexistentes (wie Dracula) ohne eine Repräsentation, die sich nicht auf Existentes bezieht, in den Glaubensinhalt eingehen? Auch ein dickes Buch kann nicht alle Fragen auf einmal beantworten.

Insgesamt konzentriert sich Kemmerling mehr auf die begriffslogischen Prinzipien, die bezüglich Glauben gelten sollen, als auf die direkte (modale) Logik des Glaubens. Das gilt selbst für die Logik des Glaubens von Propositionen. Müssen wir z.B. auch die Konjunktion der Inhalte unseres Glaubens glauben? Inwieweit ist Glauben logisch abgeschlossen? Logische Allwissenheit, wie oft in der epistemischen Modallogik gefordert, geht für endliche epistemische Subjekte sicher zu weit, doch sollten wir mutmaßlich, wenn wir ein Konditional glauben, und das Antezedenz glauben, wohl das Konsequenz glauben (epistemische Abtrennung). Kemmerling legt sich hier weitgehend nicht fest. Er fordert zwar die Konsistenz des Glaubens (86), auch hier besteht allerdings Spielraum: Es kann einmal darum gehen, dass epistemische Subjekte nicht bezüglich derselben Proposition p sowohl p als auch nicht-p glauben, Konsistenz kann aber auch wesentlich anspruchsvoller darin bestehen, dass Glauben per ex falso quodlibet logisch abgeschlossen ist. Gerade Konsistenz im zweiten Sinne scheint bezüglich realer epistemischer Subjekte und angesichts der Unübersichtlichkeit der logischen Zusammenhänge innerhalb des Geglaubten ausgesprochen unrealistisch.

Kemmerling behauptet einen begrifflichen Zusammenhang zwischen Glauben und minimaler Rationalität als einer Bereitschaft zumindest auf Befragen nach Gründen für das Geglaubte zu suchen, (134ff.), bestreitet aber, dass Glauben starke Rationalitätsforderungen mit sich bringt oder dass Glauben ein ‚normativer Begriff‘ sei. Letzteres scheitert schon daran, dass sich Normen auf Tätigkeiten beziehen müssen und Glauben ein Zustand ist. Kemmerling betont wiederholt den wichtigen Unterschied zwischen Glauben als Zustand und Urteilen als dem bewusstem Akt, etwas als wahr anzusehen. Ohne diese Unterscheidung droht eine Reihe von Konfusionen, insbesondere im Kontext der Zugänglichkeit des eigenen Glaubens.

Kemmerling legt sich auf einen Realismus des Glaubens fest: es gibt Eigenschaften des Glaubens, Glaubenszuschreibungen können wahr sein (111). Insofern Glauben ein zentrales geistiges Phänomen ist, liegt diese realistische Haltung berechtigterweise der Untersuchung des Glaubens zugrunde. Auf der Grundlage dieses Realismus erübrigt sich allerdings die von Kemmerling vorgenommene berechtigte, längere Kritik des Interpretationismus (à la Davidson) und des Instrumentalismus (à la Dennett). Interpretationen von epistemischen Subjekten können Gründe liefern, Glauben zuzuschreiben, aber sie konstituieren den Glauben nicht. Weniger gelungen – aus den oben bereits angedeuteten Gründen – erscheint die Kritik des Repräsentationalismus (d.h. der evtl. auch dualistischen Theorie, die Glauben als Beziehung zu Sätzen einer mentalen oder natürlichen Sprache ansieht). Trotz der Länge des Buches und der Länge des Kritik-Kapitels (etwa 100 Seiten) werden das Problem der Opazität bzw. Intensionalität des Glaubens nur kurz bezüglich der Feinkörnigkeit von Glaubenszuschreibungen diskutiert. Traditionell zählt Opazität jedoch zu den zentralen Merkmalen des Glaubens und zu den zentralen Problemen von Glaubenszuschreibungen. Diskutiert wird dabei oft auch die Unterscheidung von de re und de dicto Zuschreibungen bzw. Glaubenszuständen. Der Repräsentationalismus liefert die Ressourcen, um die entsprechenden Unterscheidungen zu treffen und die Probleme zu erläutern. Wie dies ohne Repräsentationen gelingen soll, bleibt unklar. Der Repräsentationalismus kann auch erklären, wie man logisch kompakte oder unendliche viele Überzeugungen haben kann, nämlich durch schematische Sätze als Glaubensinhalte. Wie sonst? Der Repräsentationalismus versteht Glauben als kompositional, gäbe es nur elementare Eigenschaften wie „sich im Zustand des Glaubens-daß-p zu befinden“ (251), wie Kemmerling zumindest nahelegt, gingen logische Beziehungen zwischen einzelnen Glaubensinhalten verloren. Es droht unverständlich zu werden, wie man einzelne Überzeugungen erwerben kann, wenn sie sich nicht kompositional aus den Überzeugungen und Überzeugungsbestandteilen verstehen lassen, die man schon hat.

An diesen Stellen kann man den Eindruck gewinnen, dass Kemmerling bei seinen oft diffizilen und langwierigen Kritiken höhere Ansprüche an die kritisierten Positionen stellt, als an seine Theorie des menschlich normalen Glaubens. So benutzt er einen sehr engen Begriff einer Disposition, um die Auffassung zurückzuweisen, Glauben sei eine Disposition, macht dann aber später von einem weniger engen Begriff des Disposition Gebrauch. Auch möchte man wissen, warum eigentlich die von Kemmerling oft verwendeten Dispositionen zu Dispositionen (z.B. Dispositionen zu einem Glauben) etwas anderes sind als (schwache) Dispositionen erster Ordnung. Die Zurückweisung der These, Glauben sei ein funktionaler Zustand, ergibt sich daraus, dass in der Definition von funktionalem Zustand ein Verweis auf referierende Repräsentationen und (indirekte) Außenwirksamkeit ausgeschlossen wird (228).

Kemmerling folgt zunächst der Standardauffassung des Wissens (d.h. Wissen verstanden mindestens als begründeter wahrer Glaube), fordert zusätzlich dann, dass Wissen starke Gründe erfordert, die jedoch nicht unwiderlegbar sein dürfen (402, 448). Da Bewusstsein mit Gewissheit einhergeht, ergibt sich aus dieser Festlegung, dass unsere Urteile und das mit ihnen einhergehende Bewusstseins des Glaubens uns nicht Wissen bezüglich des eigenen Glaubens liefern. Daraus ergibt sich, dass wir weder Wissen des eigenen noch des Glaubens anderer haben können (557)! An dieser Stelle sieht sich Kemmerling genötigt „von Wissen in einem weniger hochgegriffenen Sinne“ (564) zu sprechen, sodass Wissen von Glauben möglich wird. Verstünde man Wissen im ‚schwachen‘ Sinne (d.h. als wahren Glauben) liefe die ganze Diskussion um Metawissen in eine andere Richtung. (Dass man Wissen nicht so verstehen darf, erscheint sprachlich und ‚intuitiv‘ gar nicht klar, insofern wir von ‚zufälligem Wissen‘ etc. reden können.)

Als wichtigsten und lehrreichsten Teil des Buches kann man die Kapitel 13–20 ansehen, in denen Kemmerling Fragen des Selbstwissens und der Zugänglichkeit des eigenen Glaubens diskutiert. In der epistemischen Logik werden diese Fragen oft unter den Titeln ‚positive Introspektion‘ und ‚negative Introspektion‘ behandelt. Da ‚Introspektion‘ in die Irre führen kann, spricht man besser von ‚Zugänglichkeit‘. Dass uns unser Glauben zugänglich sein muss, um Urteile zu ändern, Erwartungen zu überprüfen und allgemein Revisionen unseres Glaubenssystems vorzunehmen, wird von vielen Erkenntnistheoretikern gefordert (BonJour etwa nennt dies in The Structure of Empirical Knowledge die ‚doxastic presumption‘). Kemmerling diskutiert in diesem Teil des Buches weniger, ob dies erkenntnistheoretisch wünschenswert oder empirisch-psychologisch der Fall ist, sondern, ob dieser Zugang „begrifflich gesichert“ (438) ist. In Sinne einer beliebigen Aufstufung bestreitet er dies. Er stellt sogar im Allgemeinen in Frage, ob es höherstufige Glaubenszustände oberhalb des Glaubens, dass man glaubt, gibt. Diese allgemeine These verlangt zumindest nach einer Erläuterung dahingehend, wie dann Konventionen und wechselseitiges Wissen begriffen werden sollen. Lewis in Conventions und andere begreifen sie mittels solcher Zustände wie ‚glauben, dass alter glaubt, dass ich glaube, dass alter glaubt, dass ich glaube, dass man dies …‘.

Kemmerling diskutiert Zugänglichkeit im Kontext des Phänomens, dass jemand sich etwas fragt (sei es, dass p, oder dass er glaubt, dass p). Ceteris paribus sollte in diesem Fall eine Selbstauskunft über den eigenen Glauben erfolgreich sein (473, 498, 508). Positive Zugänglichkeit stellt sich als weniger problematisch dar. Zum einen kann uns in unseren Urteilen unser Glauben zugänglich werden. Auch auf Nachfrage kann uns gewahr werden, dass wir etwas glauben. Aufgrund seines oben erwähnten Verständnisses von Wissen spricht Kemmerling hier entweder von „Selbstkenntnis“ (538), statt von ‚Selbstwissen‘, und von „virtuellen“ bzw. „impliziten Glauben“ (512), der einem beim Nachdenken über eine Frage zugänglich wird. Kemmerling formuliert hier eine Reihe von begrifflichen Prinzipien, u.a. ein „Unfehlbarkeitsprinzip“ (422), das besagt, dass man, dann wenn man glaubt, dass man glaubt, dass p, auch glaubt, dass p. Dies deckt sich mit entsprechenden Postulaten bzw. Theoremen der epistemischen Logik. Kemmerling sieht nun dieses Prinzip als Grund dafür an, kein Aufstiegsprinzip (vom Glauben zum Glauben, dass man glaubt) anzunehmen, da ansonsten eine Identität von Glauben und Glauben, dass man glaubt, drohe (440). Das ist ein merkwürdiges Argument. Tatsächlich läge eine Äquivalenz vor (zweier Zuschreibungen), aber eine Äquivalenz drückt keine Identität aus. In vielen Theorien, etwa der Mathematik, werden Äquivalenzen bewiesen, indem die eine Seite der Äquivalenz jeweils benutzt wird, um die andere zu beweisen. Dennoch kommen oft auf den beiden Seiten der Äquivalenz ganz verschiedene Begriffe vor. Die beiden Seiten handeln von ganz anderen Dingen. Darin liegt oft der Erkenntnisgewinn. (Man denke nur an die Äquivalenz von Auswahlaxiom und Wohlordnungssatz.)

Wesentlich problematischer ist allerdings Kemmerlings Annahme von Prinzipien, welche der negativen Introspektion entsprechen. Positive Unfehlbarkeit kann man verstehen, wenn man berücksichtigt, dass der Meta-Glaube eine Basis im Vorliegen des einfachen Glaubens hat. Negative Unfehlbarkeit (sicher zu wissen, dass man nicht glaubt, dass p) müsste auf einer Gesamtübersicht über das Glaubenssystem beruhen – eine epistemische Herausforderung, die Totalitätswissen und Wissen über Nichtimpliziertsein erfordert. Es ist mitnichten so, dass „entsprechende Verschiebungen des Wörtchens ‚nicht‘“ (430) einfach von positiver Unfehlbarkeit zu negativer Unfehlbarkeit führen. Der Unterschied, ob ein Negationszeichen vor oder hinter einem Quantor oder epistemischen Operator steht, macht oft einen wesentlichen logischen Unterschied und Unterschied der Berechnungskomplexität aus, auf dem grundlegende metalogische Resultate zur Entscheidbarkeit, Axiomatisierbarkeit usw. basieren. Negative Unfehlbarkeit verlangt mysteriöse Erkenntnisleistungen. Die Umkehrung der negativen Unfehlbarkeit, nämlich Negative Introspektion, ist noch problematischer. In der epistemischen Logik kann man beweisen, dass die Kombination von schwachem Wissensbegriff und Negativer Introspektion im Kontext der anderen üblichen Axiome inkonsistent ist. Auch ohne den schwachen Wissensbegriff kann man beweisen, dass bei Annahme von Logischem Abschluss und Negativer Introspektion letztere kein algorithmischer Vorgang sein kann, da ansonsten jede Logik entscheidbar würde (man könnte den Nichttheoremstatus eines Satzes einfach per Negativer Introspektion ablesen)! Kemmerling nimmt genau ein solches Prinzip an (530). Dies wiederum führt bei ihm zur Maximalität des Meta-Glaubens (d.h. entweder glaubt man, dass man glaubt, dass p, oder man glaubt, dass man nicht glaubt, dass p). Wie Kemmerling zutreffend feststellt, ist Maximalität für Glauben nicht nur unrealistisch, sondern begrifflich fragwürdig. Warum soll Maximalität dann auf der Ebene des Meta-Glaubens gelten?

Diese hinteren Kapitel 13–20 bauen auf die methodologischen Festsetzungen und Resultate der vorherigen Kapitel auf. Daher dürfte es schwerfallen, sie in Isolation zu lesen. Sicher handelt es sich um ein sehr dickes Buch, das aufgrund seiner oft umständlichen Darstellung – wie Kemmerling selbst wiederholt einräumt – mutmaßlich nicht immer Vergnügen bereitet. Die Auseinandersetzung mit den Kritiken Kemmerlings kann Studierenden und Forschenden in der Erkenntnistheorie und Epistemischen Logik indessen nur helfen, Theorien und Prinzipien des Glaubens besser zu formulieren. In dieser Hinsicht und mit Blick auf die Desiderate (Intensionalität, Quantifikation, (Meta-)Logik) könnte das Buch eher noch dicker sein.

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