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Breyer, Timo und Oliver Müller (Hg.): Funktionen des Lebendigen. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. 287 Seiten. [978-3-11-050045-5]

Rezensiert von Tammo Mintken (KU Eichstätt-Ingolstadt)

Der vorliegende von Thiemo Breyer und Oliver Müller besorgte Sammelband Funktionen des Lebendigen ergänzt die bisherigen Bände Funktionen des Bewusstseins und Funktionen des Erlebens, die ebenfalls in der Reihe Humanprojekt erschienen sind, um wichtige interdisziplinäre Ansätze für eine vertiefte Anthropologie, die Begriff und Phänomen des Lebens ernstnehmen will. Der Band ist in vier Sektionen gegliedert, die nacheinander Formen des Lebendigen analysieren (I), seine Normen untersuchen (II), die Erfahrungen des Lebendigen thematisieren (III) und schließlich Grenzen des Lebendigen untersuchen (IV). Diese Sektionen offerieren eine große Bandbreite, die Fragestellung einer Anthropologie des Lebendigen zu bearbeiten, auch wenn die einzelnen Beiträge teils etwas unvermittelt nebeneinanderstehen. Die folgende Rezension hebt vor allem die ethisch-anthropologischen Untersuchungen hervor, wohingegen die – ebenfalls sehr reichhaltigen – bereichsethischen Beiträge keine Berücksichtigung finden.

Den Auftakt macht Christian Bermes, der die Anthropologie Plessners und Gehlens ethisch vertieft und das Lebendige „nicht über Eigenschaften charakterisiert, sondern über die Form, in der sich Leben realisiert und vollzieht“ (13). Gerade die Bestimmung des Lebendigen anhand seiner Eigenschaften verfehle das eigentlich zu beschreibende Phänomen und daher auch die Möglichkeit, es in lebensethischen Entscheidungen richtig zu bewerten.

Projekte wie die evolutionäre Ethik oder auch das Singersche Vorhaben, die auf der Suche nach solchen Eigenschaften sind, gehen […] am Leben und an der Ethik vorbei, weil sie zum einen die Eigenständigkeit der Form des Lebens nicht im Blick haben und zum zweiten keinen selbständigen Begriff der Praktischen Vernunft kennen. (19)

Die praktische Vernunft aber stellt gerade das Vermögen dar, in der sich das Lebendige gemäße seiner Form vollzieht und zu seiner Umwelt verhält. Laut Bermes ist es dieser Bezug zur Grenze, die das Lebendige ausmacht, „es hat sozusagen nicht einfach eine Grenze, sondern ist grenzhaft“ (17). Auf die Verbindung von Ethik und Anthropologie hin bedacht, kann deswegen die praktische Vernunft nicht nur als Werkzeug der Problemlösung verstanden, sondern muss als spannungsgeladener Vollzug der Lebensform „Mensch“ selbst betrachtet werden. Bermes Ausführungen sind faszinierend, allerdings wäre eine genauere Ausformulierung dieser anthropologischen Ethik der Lebensform oder ein konkretes Beispiel, etwa entlang des Singer’schen Projekts, wünschenswert gewesen. Dies hätte nicht nur den Argumenten mehr Klarheit verleihen, sondern auch das Bestreben einlösen können, dem „Auseinanderdriften zwischen Metaethik und normativer Ethik“ (14) entgegenzuwirken. So bleiben leider einige Ausführungen des an sich spannenden Ansatzes zu vage.

Für Evan Thompson stellt sich Lebendiges als Prozess dar, der insbesondere in schwierigen Situationen Sinn und Bedeutung hervorbringt: „Living is sense-making in precarious conditions“ (33). Auch Thompson wendet sich gegen eine Bestimmung des Lebens anhand bestimmter Eigenschaften, da dies zu einer Objektivierung des Gegebenen führe. Anstatt also das Leben als Objekt über seine Eigenschaften zu bestimmen, wendet sich Thompson dem Vollzug des Lebendigen zu, der sich als Sinngebungsprozess auffassen lässt. Thompson argumentiert, dass es unzureichend sei, das Lebendige nur nach dem Paradigma der Autopoiesis zu beschreiben, auch wenn sie ein notwendiges Kriterium darstelle. Die Individuation des Lebendigen ist nicht nur ein Faktum, sondern ein selbständiger Organisationsvorgang, „there is not only an individuation process, but a process individuating itself“ (29). Unter Rückgriff auf Jonas and Merleau-Ponty gilt es zudem, die intrinsischen Normen dieser Selbstindividuation herauszuarbeiten. Durch diesen teleologisch-normativen Vorgang der Selbstindividuation, den Thompson am Beispiel bakterieller Chemotaxis veranschaulicht, kommt es zur gleichzeitigen Emergenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit: Mit der Emergenz von Innerlichkeit, also von Strebens- und normativ motivierten Selbstorganisationsprozessen, geht zugleich die Emergenz der Umwelt einher. Beide Größen sind jedoch asymmetrisch, insofern die Innerlichkeit der Umwelt vorausgeht und die Umwelt nur auf der Grundlage einer Innerlichkeit als Umwelt zur Gegebenheit kommt. Diese doppelte Emergenz führt laut Thompson schließlich zu Bewusstsein und Intentionalität: „[L]iving as sense-making in precarious conditions is the living source of intentionality“ (36). Der Autor fürchtet hier, in die Falle eines „bio-idealism“ (31) zu geraten und versucht, ihr über das Konzept des affective entrainment zu entgehen, das zwar an der Konstitution der Äußerlichkeit durch den Organismus festhält, aber zugleich dessen Abhängigkeit von der affektierenden Umwelt festhalten will, so dass sich der Sinngebungsprozess durch die Affekte motiviert erweist. (Wie Thompson aber zu recht feststellt, wird die Asymmetrie so nicht aufgehoben.) Das Zurückschrecken Thompsons vor möglichen idealistischen Konsequenzen ist schade und von einem anti-idealistischen Reflex geprägt. Meines Erachtens ließen sich bestimmte idealistische Grundannahmen gerade aus diesem biologisch fundierten und lebensphilosophisch erarbeiteten Kontext neu erschließen. Die Monadologie Leibniz’ klingt jedenfalls ebenso an wie vor allem deren Neufassung bei Husserl in dessen genetischen Untersuchungen. Den Gedankengang in dieser Richtung weiterzuverfolgen, könnte den komplexen Ansatz Thompsons noch fruchtbarer werden lassen.

Oliver Müller und Franziska Krause stellen die Frage nach dem Spannungsfeld von Natürlichkeit und Künstlichkeit mit Blick auf die Vulnerabilität am Beispiel der Tiefen Hirnstimulation (THS). Technik wird dabei nicht als Antipode der Natur des Menschen verstanden, sondern im Anschluss an Ernst Cassirer stellt die Benutzung von Werkzeugen und künstlichen Hilfsmitteln selbst einen Ausdruck menschlicher Natur dar: „Denn es liegt in der Natur des Menschen, Technologien zu entwickeln und sein Leben an die Technik anzupassen“ (44). Kultur und Natur werden einander also nicht entgegengestellt, sondern aufeinander bezogen. Dem Konzept der Vulnerabilität kommt bei dieser Reflexion die Aufgabe zu, die Auswirkungen technischer Eingriffe genauer einzuordnen, denn einerseits kann THS „die spezifische Vulnerabilität ‚verringern‘, d. h. das Leiden an der Parkinson’schen Krankheit“ lindern, aber andererseits „vermag die THS nicht, die Vulnerabilität des Menschen als solche zu ‚behandeln‘“ (46). Vulnerabilität wird somit durch Technik nicht „prinzipiell überwunden“, sondern „neu konfiguriert“ (46). Diese Neukonfiguration zeigt sich am Verhältnis von Freiheit und Grenzerfahrung, wobei Freiheit mit Volker Gerhard als „Spontaneität und Fähigkeit zur Selbstentwicklung“ (47) verstanden wird. Eine ethische Beurteilung technischer Eingriffe oder künstlicher Natürlichkeit wird demnach maßgeblich davon bestimmt, ob es gelingt, die künstliche Hilfe als eine Neubestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Begrenzung in die Gesamtheit der Lebenserfahrung zu integrieren. So richtig und wichtig die synthetische Zuordnung von Natur und Kultur bzw. Technik auch ist, fällt der Optimismus einseitig aus, denn auch wenn das Autorenduo Eingriffe wie die THS an die Möglichkeit ihrer Ablehnung koppeln, kommt der gefährdenden Macht moderner (auch digitaler) Technologien meines Erachtens zu wenig Gewicht zu – Gefährdungen, die ihrerseits entlang der Kulturkritik Ernst Cassirers hätten diskutiert werden können.

Volker Gerhard geht der Bedeutung der Selbstbestimmung im Lebenszusammenhang nach und erörtert dabei zentrale lebensethische Probleme wie die Selbstbestimmung am Lebensanfang und am Lebensende, die Sonderstellung der Schwangeren oder die Organspende. Diese Themen untersucht Gerhard von einem Begriff der Selbstbestimmung aus, der sich von einem Kantischen Autonomiegedanken bewusst abgrenzt und in Lebensprozessen verankert ist. Das Selbst versteht er dabei als

Integral eines […] auf sich selbst bezogenen Lebensvorgangs, das nach außen wirken, im Inneren prüfen und nach Möglichkeit verstärken muss, so dass jeder als personale Einheit von seinesgleichen in seiner Besonderheit erkannt werden kann. (74)

Zwar kann Gerhard so den Begriff der Selbstbestimmung auch für Lebewesen fruchtbar machen, die über (noch) keine Vernunftautonomie verfügen, aber der Begriff macht es schwierig, zwischen menschlichem Proprium und animalischer oder pflanzlicher „Selbstbestimmung“ zu unterscheiden. Diese Stufung niederer und höherer Lebensformen setzt Gerhard aber stillschweigend voraus (vgl. 76), während zugleich die bloße Lebensfähigkeit Kriterium der Selbstbestimmung sein soll (vgl. 77). Gerade die große Anzahl höchst komplexer Streitfragen der Lebensethik und die „fünf Empfehlungen“ am Ende verleihen dem Aufsatz einen kursorischen und zuweilen apodiktischen Charakter, der den wertvollen Grundgedanken verdeckt, Selbstbestimmung nicht allein von kognitivistischen Parametern abhängig zu machen, sondern sie mit einem erweiterten Begriff des Selbst und der konkret kontextualisierten Lebensform in Verbindung zu bringen.

In seiner Verhältnisbestimmung von biologischem und politischem Leben rekonstruiert Roberto Esposito die geistesgeschichtliche Vermischung beider Größen und thematisiert den zunehmenden Zugriff der Politik auf den Bios, die das Leben als Ressource ansieht. Esposito sieht hierin die Wurzel der Unterscheidung über- und unterlegener Menschen, die sich nicht nur in der Thanatopolitik des Nazi-Regimes auswirkte, sondern auch heute in Dispositiven des Marktes wirksam bleibt und in dessen Krisen, „die das Leben Hunderter Millionen betreffen“ (102), sichtbar wird. Da technisch-zweckrationale Lösungen nach Ansicht Espositos nicht ausreichen, die Krisen und Konflikte um das Verhältnis politischen und biologischen Lebens zu lösen, fordert er abschließend eine positiv ausgeformte Biopolitik, da sie „der Horizont unserer Zeit ist“ (103), ohne jedoch konkrete Vorschläge anzubieten.

Petra Gehring geht dem Verhältnis von Bio- und Neurophilosophie auf den Grund und kritisiert dabei mit angenehmer Schärfe die popularisierenden Methoden in und um die Neurowissenschaften, wie zum Beispiel die bildgebenden Verfahren, die metaphorische Wortwahl und die mediale Aufbauschung. Gehring stellt in diesem Zusammenhang die These auf, die neurophilosophische sei von der biophilosophischen Debatte zu unterscheiden, weil der Neuro-Diskurs „das Hirn gewissermaßen als vom Körper doch auch ontologisch abgesonderte Zone“ (109) inszeniert. Nicht biologisch-organische Rede, sondern Metaphern aus der Informatik werden für die Beschreibung der Hirnaktivitäten herangezogen und es „schwingen keinerlei lebensmetaphysische oder lebensphilosophische Obertöne mit“ (109). Gehrings Kritik stellt aber keinen Selbstzweck dar, insofern sie ihre Argumente mit konkreten Fragen der Neurokriminologie in Verbindung bringt: Da menschliche Handlungen durch Hirnprozesse determiniert seien, dürfe man Menschen für Fehler nicht bestrafen, denn „[b]estrafe man das ‚Ich-Konstrukt‘ (Gerhard Roth), so bestrafe man im Grunde das Gehirn“ (111). Statt eines Straf- bedürfe es eines Besserungssystems, das die Fehler im Gehirn medikamentös oder chirurgisch behebt und bessert. Letztlich würden Richter durch Neurologen ersetzt werden können. Gehring greift auf den bereits von Esposito angeführten Terminus der Biopolitik Foucaults zurück, um die neuropolitische Denkweise zu entlarven: „Das Hirn rückt in einem umfassenden Sinn in den Verhaltenskörper und auch in den Sozialkörper ein, auf den man ‚an‘ ihm zugreift“ (118). Mit Agamben nimmt Gehring auch das Sprachspiel vom „nackten Leben“ auf und zeigt daran, dass die Gehirnforschung alten Wein in neuen Schläuchen anbietet, da sie längst bekannte Mechanismen der sozialen Kontrolle wiederhole. Damit „verliert das Neuro-Paradigma einen Gutteil seiner prätendierten Neuheit“ (118). Zwar sind Gehrings Überlegungen luzide und klar strukturiert, aber ihre Kritik am Neuroparadigma hätte noch um einen Hinweis auf ‚das normative Paradoxon‘ verdeutlicht werden können: Die Neurokriminologie operiert beständig mit moralischen Prädikaten und normativen Kriterien, ohne diese zu begründen. Wird das Neuroparadigma konsequent als szientistischer Naturalismus durchgeführt, sind diese Aussagen prinzipiell der Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt. Wenn Gehring also sieht, dass das „zentrale Argument der Hirnforscher im Feld der Strafrechtskritik […] ein moralisches“ (115) ist, unterlässt sie es, die Möglichkeit normativer Aussagen im Rahmen moderner, nicht-reduktionistischer Naturalismusauffassungen einzuholen.

Matthew Ratcliffe arbeitet in seinem Beitrag den Zusammenhang zwischen Narrativen und existenziellen Gefühlen heraus. Existenzielle Gefühle stellen für ihn eine besondere Gruppe der Gefühle dar, die sowohl eine leibliche als auch eine weltbezogene Dimension aufweisen und die die spezifische Art ausdrücken, sich in der Welt vorzufinden. Ratcliffe wendet sich damit gegen Auffassungen, die solche Lebensstimmungen leugnen wollen, da sie in lebensweltlichen Zusammenhängen beständig bezeugt würden, „in everyday life people describe and refer to them in all sorts of ways“ (174). Vielmehr sind die existenziellen Gefühle laut Ratcliffe dafür entscheidend, wie Menschen die Möglichkeitshorizonte ihres Daseins interpretieren. Die Leiblichkeit spielt für diesen Interpretationshorizont eine zentrale Rolle und ermöglicht Veränderungen des an Möglichkeiten orientierten Weltzugangs. Ratcliffe erhärtet dies an psychopathologischen Beispielen, denn immer wieder berichten Patienten, dass „an alteration in how the body feels is at the same time a shift in how the world appears and in how one relates to it“ (176). Die Ebene der existenziellen Gefühle verbindet Ratcliffe mit einer Theorie der Narrative, die hier vornehmlich als Selbstinterpretation verstanden werden, obschon sie in soziokulturellen Narrativen fundiert sind und so eine sprachliche Modifikation des Lebensgefühls mit sich bringen. Das existenzielle Gefühl, das sich im Narrativ ausdrückt, wird zugleich von seiner sprachlichen Einkleidung mitbestimmt. So kommt dem sozialen Kontext eine entscheidende Rolle für die Gefühlslage zu: „Interpersonal interactions may play a facilitative role, assisting in the construction of interpretations that in turn shape feeling“ (180). Fällt das Narrativ als Weg der Selbst-Regulation aus und führt der Verlust von leiblich vermittelten Möglichkeitsräumen zu einem Weltverlust – Ratcliffe veranschaulicht dies erneut am Beispiel klinischer Depression – geht auch der Zukunftssinn verloren: „This affects long-term experience of time because there is no longer a teleological sense of direction, of moving or being able to move ‚forward‘“ (185). Die von Matthew Ratcliffe gebotenen Ausführungen sind komplex und sehr dicht; ihren psychotherapeutisch orientierten Abschluss kann ich nicht kompetent beurteilen. Eine phänomenologisch orientierte Anthropologie kann aber in jedem Fall viel von der gegenseitigen Verwiesenheit zwischen Leiblichkeit und Lebensgefühl, Narrativen und sozial-kulturell vermittelten Sprachgebilden lernen, insbesondere da der Autor keinen dieser Aspekte verabsolutiert.

Andreas Urs Sommer untersucht das Lebensthema ausgehend von Friedrich Nietzsche im Zusammenhang von Blut und Vampirismus. Zunächst geht er auf das Forschungsdesiderat ein, das nach seinem Dafürhalten der Vampirismus bzw. der Topos des Blutsaugens bei Nietzsche darstellt. Zwar sei Nietzsche nicht der Faszination des Vampirismus und der „erotisch-lasziven“ Erregung vieler seiner Zeitgenossen erlegen, sondern subsumiere unter „dem Etikett Vampir einfach missliebige, aber sehr irdische Personen und Personengruppen als verbrecherisch“ (196). Dennoch nutzt er dieses Vokabular zur Zeit des erwachenden Vampir-Trends. Nietzsche versteht Wissenschaft, Philosophie, Bürgermoral und vor allem das Christentum im Rahmen seiner Überlegungen zum Willen zur Macht als Formen der Blutsaugerei, die schwach machen und Schwäche zur Stärke umdichten. Sommer geht diese Stationen schrittweise durch und zeigt auf, wie der Vampirismus sich für Nietzsche jeweils darstellt. Die Moral z. B. saugt dem Willen zur Macht das Blut aus, weil sie sich gegen die vitalen Impulse der Lebenden richte. So kommt Sommer zu dem Schluss, dass Nietzsche den Vampirismus mit Lebensfeindlichkeit in Verbindung bringt:

Dies dokumentiert wiederum die Liaison zwischen dem Vampirismus-Vorwurf an die Adresse des Christentums und demjenigen an die Adresse der Moral: In beiden Fällen wird dasselbe, nämlich die Lebensfeindlichkeit gebrandmarkt […] (209).

Sommers Beitrag bleibt aber nicht bei der Auslegung Nietzsches stehen, sondern wagt auch dessen „Dekonstruktion“, wenn er unter Rückgriff auf die letzten Worte Richard Wagners an Cosima Wagner Nietzsches eigenen Vampirismus kennzeichnet, da er „keine eigenen Gedanken gehabt [habe], kein eigenes Blut, alles sei fremdes Blut, welches ihm eingegossen worden sei“ (212). Letztlich habe Nietzsche selbst nur auf Kosten anderer seinen Kampf um den Willen zur Macht geführt: „Der überwältigende, lebensbejahende Mensch Nietzschescher Prägung lebt selbstverständlich wie der Vampir und der Parasit auf Kosten anderer Menschen“ (211). Nicht nur diese „Projektion“ des Vampirismusvorwurfs, ohne den das Denken Nietzsches nicht möglich ist, sondern auch die Selbstwidersprüche in Nietzsches Forderungen deckt Sommer gekonnt auf: Denn Nietzsche richtet sich zwar gegen die Moral, doch fordert er wieder und wieder bestimmte Handlungsweisen ein und stellt Werthierarchien auf. Diese Gedanken ließen sich auf die gesellschaftliche Situation von heute anwenden, in der religiöser Glaube, Moral und Wissenschaft immer wieder als lebensfeindlich und eben blutleer betrachtet werden. Auch hier ließe sich fragen, inwiefern diese Kritiken selbst von den Grundlagen leben, die sie kritisieren. Für diese Diskussion böten sich gerade die im Sammelband erörterten lebensphänomenologischen und anthropologischen Ansätze zur Ethik an, wie z. B. Christian Bermes in seinem Beitrag konstatiert: „In diesem Sinne ist die Moral als Lebensmittel bzw. als Organ der Lebensführung zu begreifen“ (21).

In seinem beklemmenden Beitrag untersucht Thomas Dürr das Verständnis der Produktion lebender Leichname durch die Organisation der Vernichtungslager bei Hannah Arendt. Für die absolute Herrschaft von Menschen über Menschen steht die Figur des Muselmanns, die in der Lagersprache für die vollkommen empfindungslos und apathisch gewordenen Insassen stand, die einzig noch dem Nahrungstrieb folgten, ansonsten aber „schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden“ (260). Dabei wendet sich Dürr entschieden gegen das Missverständnis, die systematische Ermordung sei Ausdruck der totalen Herrschaft, da es gerade umgekehrt das Kennzeichen der totalen Macht sei, Menschen in der Schwebe zwischen Leben und Tod zu halten.

Der massenhafte Mord kann genau das nicht, weil er einfach umbringt, aber nicht jene Nicht-Menschen zwischen Leben und Tod herstellt, die gerade durch ihr Äußeres noch an die gewesene, handlungsfähige, freie Person erinnern, die sie einmal waren. (270)

Die totale Herrschaft vollzieht sich „durch ‚präzise organisierte Folter‘, [die] nicht den sofortigen Tod, sondern ‚einen permanenten Zustand des Sterbens‘“ (264) herbeiführt. Die Produktion oder Präparation lebender Leichname erfolgt nach der Ansicht Arendts in einem Dreischritt, bei dem zuerst die juristische und dann die moralische Person zerstört wird, um schließlich die Individualität auszulöschen. Vor allem die Abschaffung der Freiheit durch die Verdinglichung des Menschen und das Ersetzen des Handelns als menschlicher Ausdrucksform durch das Herstellen sind dabei zentrale Instrumente der totalen Machtausübung. „Das Laboratorium der absoluten Macht“ (273) hat nach Arendt bewiesen, dass von einem fixen Wesen des Menschen keine Rede mehr sein könne, da der Muselmann die Wesensbestimmungen des Menschen – Freiheit und Handeln – verloren habe. So sehr dies für die Behauptung einer absoluten ontologischen essentia gelten mag, muss doch die Rückfrage gestellt werden, ob das Entsetzen über den Muselmann nicht gerade in seiner Perversion des menschlichen Wesens liegt, die dann eben „unmenschlich“ genannt werden muss. So kommen auch Arendts spätere Überlegungen zu einem hoffnungsvolleren Schluss, wenn sie unter Rückgriff auf Augustinus die größere und durch die Geburtlichkeit garantierte Kontinuität der Spontaneität hervorhebt: „Initium ut esset, creatus homo est – ‚damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‘, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit.“ (274) Soll dieser Anfang glücken können, darf die Frage nach heutigen Formen der Verdinglichung des Menschen und des Lebendigen nicht ausgeblendet werden. Versuchen nicht auch der naturalistische Reduktionismus und biopolitische Dispositive den Menschen auf eine Kausalkette oder eine statistische Größe zu reduzieren und „den Begriff des Menschen auszurotten“ (265)? Mit Dürr gelte es dann das Plädoyer zu unterstützen, dass es die unzerstörbare Spontaneität selbst ist, die als Praxis im sozialen Miteinander „selbst das tiefste Stadium der Entmenschlichung zu überwinden vermag“ (275). Solche Hoffnung scheint mir bereits ein Ausdruck dieser Spontaneität zu sein, eine Hoffnung, der bleibend das Wort Zofia Kossaks gegenübersteht, mit dem der Aufsatz und der Band schließen: „Töten, ha, das ist leicht, aber einen lebendigen Menschen so zurichten, das schafft man nur durch lange konsequente Arbeit. Das war der Triumph von Auschwitz.“ (275)

Zusammenfassend lassen sich insbesondere die positiven Aufbrüche zur Verbindung von Lebensphilosophie und Anthropologie mit ethischen Entwürfen betonen, die einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen werfen. Biologische Erkenntnisse lassen sich in diese Entwürfe ebenso integrieren wie aktuelle Diskussionen etwa im Umkreis der Neuro-Philosophie und ihrer medizinischen Herausforderungen. Besonders stehen dabei das Lebendige als Vollzugsform, als grenzhaftes Konstitutionsgeschehen und als sinnstiftender, normativ-teleologisch orientierter Individuationsprozess im Vordergrund. Dadurch werden Wege aufgezeigt, Freiheit und ethische Verantwortung im Ganzen des Lebenszusammenhangs zu verorten und so aus einer solipsistischen Rationalität der „reinen Vernunft“ herauszulösen, ohne einem vereinheitlichenden Holismus das Wort zu reden. Überraschend ist eigentlich nur, dass nirgends explizit festgestellt wird, dass sich das Lebendige gerade nicht nach einem funktionalistischen Paradigma adäquat untersuchen lässt, sondern vielmehr eine Änderung der Einstellung voraussetzt, durch die die genannten Aspekte zur Gegebenheit kommen.

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