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Gädeke, Dorothea: Politik der Beherrschung. Eine kritische Theorie externer Demokratieförderung. Berlin: Suhrkamp 2017. 491 Seiten. [978-3-518-29834-3]

Rezensiert von Anna Meine (Universität Siegen)

„Dürfen demokratische Staaten Demokratie in anderen Teilen der Welt fördern? Sind sie dazu gar verpflichtet? Oder ist ein solches Vorhaben vielmehr Ausdruck und Kern neoimperialer Selbstermächtigung?“ (15) Von diesen Fragen ausgehend, diskutiert Dorothea Gädeke in Politik der Beherrschung die Grundlagen von Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit. Während die Problematik externer Demokratieförderung den Ausgangspunkt und das Ziel ihrer Überlegungen bildet, weisen die grundlegenden theoretischen Überlegungen darüber hinaus. Denn Gädeke entwickelt eine kritisch-republikanische Theorie der Gerechtigkeit als Nicht-Beherrschung, die sowohl die Verteidigung als auch die Kritik einer Universalisierung der Demokratie theoretisch zu fassen, zu diskutieren und zu bewerten beansprucht. Zugleich bietet sie damit Perspektiven für eine globale Ordnung, die unter Bedingungen der Globalisierung den Mehrebenencharakter politischer Institutionen und Prozesse in den Fokus stellen. In dieser Ordnung stellt externe Demokratieförderung eine bedeutende, aber nicht die einzige Frage dar. Gädekes Thesen zur Entwicklungspolitik verdienen deshalb Aufmerksamkeit und Anerkennung. Es sind darüber hinaus aber die Elemente ihres kritischen Republikanismus, die die Scharniere zwischen unterschiedlichen Ebenen einer potentiell globalen Ordnung bilden, d.h. ihr Bürgerschafts-, Volks- und Staatsverständnis, sowie die daraus folgenden Konzeptionen relationaler Souveränität und transnationaler Demokratie, die weiterführende, aber auch kritische Diskussion anregen.

Externe Demokratieförderung und die Forderung nach „nicht-beherrschter nicht-beherrschender Herrschaft“ (333)

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist Gädekes Diagnose einer ambivalenten Universalisierung der Demokratie (Kapitel 2). Seit dem Ende des Kalten Krieges verbreite sich, erstens, formal die Anzahl demokratischer Staaten, sei, zweitens, Demokratie als Modell legitimer politischer Ordnung anerkannt, und habe sich, drittens, eine aktive Politik der Universalisierung im Sinne externer Demokratieförderung, d.h. von „Maßnahmen, die der Etablierung, Stärkung oder Wiederherstellung einer demokratischen Ordnung innerhalb von Drittstaaten dienen“ (30), etabliert. Dem gegenüber stehe jedoch parallel die Kritik dieser Universalisierung. Diese schlage sich, erstens, formal in der Transformation junger Demokratien in hybride oder autokratische Herrschaftsformen, zweitens, in Zweifeln an der Wirksamkeit externer Demokratieförderung und, drittens, normativ in Form einer Imperialismuskritik nieder. Letztere rücke die Beziehungen zwischen ‚Demokratieförderern‘ und ‚Demokratieempfängern‘ und das zugrundeliegende Demokratieverständnis in den Fokus der Auseinandersetzung. Während Gädeke dem ersten Argumentationsstrang aufgrund der Machtvergessenheit der zeitgenössischen, oft liberal geprägten Debatten ein sozialanalytisches Defizit attestiert, diagnostiziert sie bei imperialismuskritischen Beiträgen ein normatives Defizit. Im Verlauf ihrer Argumentation zeigt Gädeke zudem, dass die Verteidiger_innen der Universalisierung den Fokus auf innerstaatliche Beherrschung legen, dabei aber zwischenstaatliche Beherrschung vernachlässigen. Die Kritik externer Demokratieförderung rücke wiederum letztere in den Fokus, drohe dabei aber innerstaatliche Beherrschung gegen Kritik abzuschirmen. Beide Argumentationsstränge haben folglich berechtigte Anliegen, so Gädeke, drohen aber aus unterschiedlichen Gründen in eine Politik der Beherrschung umzuschlagen (Kapitel 10).

Gädekes Anspruch ist es, das Nebeneinander dieser Perspektiven in Theorie wie Politik zu überwinden. Aufgrund einer Konzeption von Gerechtigkeit als Nicht-Beherrschung (siehe unten), die beiden Argumentationssträngen gerecht werden soll, versteht sie das Ziel externer Demokratieförderung dabei als „nicht-beherrschte nicht-beherrschende Herrschaft“ (388). Innerstaatlich nicht-beherrschende Herrschaft soll im internationalen Kontext ebenfalls durch Bedingungen der Nicht-Beherrschung ermöglicht und gestützt werden. Für die Entwicklungspolitik leitet Gädeke daraus die Forderung nach deren reflexiver Demokratisierung ab. Nicht nur ziele überzeugende Entwicklungspolitik auf kollektive Selbstbestimmung. Es müssten somit sowohl die Betroffenen dabei unterstützt werden, die Voraussetzungen kollektiver Selbstbestimmung im Innern einzelner Staaten zu schaffen, als auch der Status relationaler Souveränität dieser Staaten im internationalen Kontext anerkannt werden. Darüber hinaus sei auch die Entwicklungspolitik selbst der normativen Autorität der beteiligten Akteure zu unterstellen:

Von entscheidender Bedeutung für die Frage nach Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung einzelstaatlicher Demokratisierungsprozesse ist jedoch weniger, wie wirksam eine einzelne Maßnahme ist […], als vielmehr, ob und wie sich eine Praxis externer Demokratieförderung institutionell so einhegen lässt, dass sie selbst nicht beherrschend ist. Dies verweist letztlich […] auf eine Demokratisierung der Entwicklungszusammenarbeit – und darauf, dass Demokratisierungsprozesse im Sinne einer fortschreitenden institutionellen Einholung von Beherrschung gerade unter Bedingungen mehrfacher Beherrschung auf inner- und zwischenstaatlicher Ebene ineinandergreifen müssen. (409)

Dazu gelte es, die Struktur der Entwicklungspolitik nicht nur zu verrechtlichen, sondern auch zu politisieren sowie die Prinzipien der Accountability und der Partizipation in der konkreten Entwicklungszusammenarbeit in veritabler Weise zur Geltung zu bringen (Kapitel 11).

Plakativ gesagt muss Demokratieförderung zunächst auf eine Demokratisierung der Praxis der Demokratieförderung – und damit zugleich der Entwicklungspolitik als ganzer sowie letztlich der zwischenstaatlichen Beziehungen insgesamt – abzielen. (443)

Die diesen Forderungen zugrundeliegende kritisch-republikanische Theorie der Gerechtigkeit als Nicht-Beherrschung entwickelt Gädeke in produktiver wie kritischer Auseinandersetzung mit Philip Pettits Neo-Republikanismus (Kapitel 4–6). Sie verbindet seine Überlegungen mit Rainer Forsts kantischem Republikanismus sowie mit ausgewählten Überlegungen von James Bohman, Iris Marion Young, Jürgen Habermas und Nancy Fraser. Grundlegende Bedeutung erhält dabei eine machttheoretische Ausarbeitung von Beherrschung und eine gerechtigkeitstheoretische Lesart der Nicht-Beherrschung, die Machtbeziehungen ins Zentrum stellt und deren reflexive Gestaltung einfordert (119ff.): Nicht-Beherrschung ist in dieser Lesart kein interaktionales oder individualmoralisches Phänomen, sondern interpersonal, strukturell und statusbasiert (111, siehe auch Kapitel 5). Beherrschung beschreibt ein andauerndes, strukturelles asymmetrisches Verhältnis zwischen beherrschenden und beherrschten Akteuren, in dem letzteren der Status als Diskurspartner versagt wird (124). Sie liegt vor, „wenn die soziale und diskursive Struktur des Raums der Gründe eine asymmetrische ist, so dass ein oder mehrere Akteure das Vermögen haben, auf den Raum der Gründe Anderer Einfluss zu nehmen“ (135). Diese Anderen sind somit in willkürlicher Weise von fremden Handlungsgründen abhängig (166). Damit betont Gädeke zum einen die Bedeutung des Kontexts, in dem Beherrschte und Beherrschende in Beziehung stehen, sowie die Rolle von „peripheren Akteuren“ (136). Zum anderen argumentiert sie, dass Beherrschung auch nicht-intentional erfolgen kann – eine Tatsache, der sie mit der Konzeption systemischer Beherrschung zu begegnen versucht (144). Parallel dazu wendet sie den Begriff der Willkür von einem interessenbasierten (Pettit) zu einem diskurstheoretischen Konzept. Entscheidend ist, ob Institutionen und Entscheidungen intersubjektiv reziprok und allgemein gerechtfertigt werden können (161).

Der Status freier Personen beschränkt sich demnach nicht allein auf den negativ konzipierten diskursiven Status [den Pettit zugrunde legt, A.M.]; er muss vielmehr in positivem Sinne um die Dimension normativer Autorität erweitert werden, die den Anspruch auf epistemologische und praktische Bescheidenheit reflexiv wendet: Sie fordert nicht allein die sozialen Voraussetzungen der unmittelbaren Abwehr eines fremden Willens, sondern zugleich die Macht, die eigenen sozialen Beziehungen und die in ihnen zum Ausdruck kommenden sozialen Normen mitzugestalten. (103f., Hervorhebung im Original)

Die reflexive Gestaltung sozialer und politischer Beziehungen, die allein deren nicht-beherrschenden Charakter sicherstellen kann, bildet somit das Ziel von Gädekes kritischer Theorie. Autonome Personen sind entsprechend als autonome Adressat_innen und autonome Autor_innen praktischer Normen zu betrachten (101f.) – im kulturellen, ökonomischen und politischen Bereich. Letzterem kommt besondere Bedeutung zu, da er für die Realisierung von Nicht-Beherrschung auch in anderen Bereichen entscheidend ist (176). Institutionen politischer, genauer: demokratischer Herrschaft sind, so Gädeke, für die Verwirklichung von Nicht-Beherrschung grundlegend (182ff.): Formale Willkürfreiheit bedürfe der Herrschaft des Rechts, die sich durch Rechtsförmigkeit, Gewaltenteilung und das Recht auf Rechte auszeichne und formale Reziprozität und Allgemeinheit sicherstelle (188ff.). Materiale Willkürfreiheit wiederum verweise auf das Prinzip der Selbstgesetzgebung, das Partizipation und Kontestation einfordere, um die „deliberative[] Programmierung“ (208ff.) politischer Institutionen und Entscheidungen sicherzustellen (214). Individuen als freien Personen stehe entsprechend nicht nur rechtliche, sondern auch politische Autonomie zu. Der Status der Rechtsträger_in, der für die Adressat_innen des Rechts subjektive Freiheitsrechte, Mitgliedschaftsrechte und Rechtsweggarantien beinhalte, sei mit dem Status der Bürger_in zu verbinden:

Es geht nicht allein darum, das Individuum als Rechtsträger im Bereich seiner negativen Handlungsfreiheit zu schützen, sondern immer zugleich darum, die Rechtsträger_innen als Bürger_innen, d.h. als Mitglieder der jeweiligen Rechtsgemeinschaft, kollektiv zu ermächtigen, die Hintergrundbedingungen ihres Handels selbst zu gestalten und dabei deren Anspruch auf Willkürfreiheit stets aufs Neue herauszufordern und hervorzubringen. (217)

Insofern diese Realisierung von Nicht-Beherrschung unter Bedingungen der Gegenwart nicht allein einzelstaatlich gewährleistet werden kann und – hier liest Gädeke Youngs Verantwortungsverständnis im Sinne ihrer Theorie – auch strukturelle externe Verantwortung für innerstaatliche Beherrschung besteht (Kapitel 7), stellt Gädeke die Existenz relationaler Pflichten zu Nicht-Beherrschung auch über Grenzen hinweg fest. Sie existieren, „wo immer die jeweilige Person in Beziehungen der Beherrschung verstrickt und somit an der Reproduktion beherrschender Machtverhältnisse beteiligt ist, ob als Beherrscher, peripherer Akteur oder Beherrschter“ (283). Genau wie nicht-relationale moralische Beistandspflichten mündeten diese allerdings nicht automatisch in Pflichten zur Intervention. Insofern Gädeke Beherrschung zudem nicht nur individuell, sondern auch kollektiv versteht, wenn „Individuen in ihrer Fähigkeit, kollektiv zu denken und zu handeln“ (285) und in ihren Praktiken kollektiver Selbstbestimmung beherrscht werden, weshalb auch Völker und Staaten beherrscht werden können (Kapitel 9), steht externe Demokratieförderung vor der oben skizzierten Problematik, dass Beherrschung auf mehreren Ebenen einzuhegen ist. Eine emanzipatorische Universalisierung der Demokratie macht deshalb die Förderung von Nicht-Beherrschung in Staaten, zwischen Staaten und bei Entscheidungen über die Entwicklungspolitik selbst notwendig.

Verhältnisse von individueller und kollektiver Nicht-Beherrschung

Diese Skizze ausgewählter Argumentationsstränge zeigt, dass Dorothea Gädeke eine vielschichtige, abwägende und eigenständige Argumentation vorlegt, die kluge Gedanken zu externer Demokratieförderung ein- und zusammenführt. Die Verbindung von Pettits Theorie mit der kontinentalen Tradition des Republikanismus ist fruchtbar und bietet Ansatzpunkte für eine demokratische Lesart des Neo-Republikanismus, die sich der Bedeutung demokratischer Institutionen und Prozesse für eine gerechte Ordnung bewusst ist und eine veritable Alternative zu liberalen Ansätzen bietet – gerade im Bereich der Internationalen Politischen Theorie. Denn zum einen macht Gädeke die Bedeutung einer reflexiven Gestaltung sozialer und politischer Beziehungen deutlich. Zum anderen unterstreicht sie, dass diese Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen bestehen, die, wie auch die unterschiedlichen (Teil‑)Ordnungen politischer Herrschaft, in Wechselwirkung zueinander stehen. Dies betrifft nicht allein Fragen externer Demokratieförderung, sondern im Rahmen einer „globalen Strukturpolitik der Nicht-Beherrschung“ (19) eine Vielfalt politischer Institutionen und Entscheidungsprozesse, mithin die politische Ordnung insgesamt. Dieses Gefüge im Ganzen bedarf der Analyse. Während in dieser Einsicht einer der wichtigsten Beiträge Gädekes liegt, müssen die Verständnisse von Bürgerschaft, Volk und Staat, die die Verständnisse der unterschiedlichen Ebenen sowie die Verbindung zwischen ihnen betreffen, allerdings kritischer diskutiert werden.

In kritisch-republikanischer Absicht erhält der „Status normativer Autorität“ bei Gädeke herausragende Bedeutung, die sich für den Bereich politischer Nicht-Beherrschung auf die Status der Rechtsträger_in und der Bürger_in überträgt (siehe oben). Bürgerschaft auf letzteren zu reduzieren, ist jedoch zweifelhaft. Bürgerschaft ist ein politisch und rechtlich konstituierter Status, der individuelle Rechtsträgerschaft mit (materialer) politische Partizipations- und Gestaltungsmacht verbindet. Zwar macht Gädeke diese Verbindungen durchaus stark (216), so dass sich die Frage stellt, ob die begriffliche Trennung, die der Unterscheidung zwischen formaler und materialer Willkürfreiheit entspricht, wirklich ein Problem darstellt. Doch diese begriffliche Weichenstellung beeinflusst die folgenden Überlegungen – vor allem im Hinblick auf eine mögliche überstaatliche Ordnung. Entgegen der grundbegrifflichen Ausdifferenzierung unterschiedlicher Status macht ein umfassendes, intern differenziertes Verständnis von Bürgerschaft die Mehrdimensionalität des politischen Status individueller Nicht-Beherrschung deutlich. Sowohl Rechtsträgerschaft als auch reflexive Gestaltungsmöglichkeiten, sowohl Beziehungen zwischen Mitgliedern des politischen Kollektivs als auch Beziehungen zu den politischen Institutionen machen den grundlegenden, politisch konstituierten Status der Bürgerschaft aus. Dies schlägt sich nicht zuletzt in der Erkenntnis nieder, dass Grenzen zwischen Bürger_innen und Nicht-Bürger_innen ebenfalls mehrdimensional und rechtfertigungsbedürftig sind.

Das heißt nicht, dass die Idee kollektiver Selbstbestimmung zu verwerfen ist. Gerade da Gädeke die Bedeutung sozialer und politischer Beziehungen und rechtstaatlicher Institutionen der Selbstbestimmung für individuelle Nicht-Beherrschung herausarbeitet, sind ihre Konzeption kollektiver Selbstbestimmung und das kollektive Recht auf Nicht-Beherrschung analytisch ausgearbeitet und gut begründet (333f.).

Die Beherrschung von kollektiven Akteuren ist demnach selbst als Beherrschung von Individuen zu verstehen, ohne indes mit der Beherrschung einzelsubjektiver Akteure zusammenzufallen. […] Es ist darum das Kollektiv, d.h. präziser gesprochen, seine Mitglieder in ihrer Fähigkeit, kollektive Institutionen auszubilden, denen durch kollektive Beherrschung verwehrt wird, gemeinsam mit Anspruch auf Gehör aufzutreten und hinsichtlich ihrer Fähigkeit und Praxis, Vernunft zu kollektivieren und ihr kollektives Ziel zu verfolgen, respektvolle Beziehungen zu anderen Akteuren aufzubauen. (300)

Die Forderung nach Anerkennung eigenständiger Beziehungen und Institutionen kollektiver Selbstbestimmung ist deshalb ein fruchtbarer Beitrag zur Debatte. Insofern diese aber individualistisch rückgebunden bleibt, ist es verwunderlich, dass die Konstitution und die Grenzen des politischen Kollektivs kaum Aufmerksamkeit erhalten. Das ‚Volk‘ als Träger des kollektiven Rechts auf Nicht-Beherrschung bleibt eine schwer zu fassende Größe. Auch wenn eine individualistische Lesart theoretisch naheliegt, erscheint diese „politische Gemeinschaft“ (334) doch wiederholt als gegebenes Kollektiv, das den Rahmen individueller Nicht-Beherrschung sogar punktuell vorgibt – nicht zuletzt, weil Gädeke damit zugleich einen Fokus auf zwischenstaatliche Beziehungen verbindet.

Wie mit Blick auf den Begriff des Volkes, changieren auch Gädekes Aussagen zu Verständnis und Bedeutung des Staates. Einerseits betont sie, dass die Reichweite einer kritisch-republikanischen Theorie der Gerechtigkeit als Nicht-Beherrschung nicht globalen oder staatlichen Strukturen per se, sondern Beziehungen der Beherrschung entspricht (120, 230). Damit wird ein Fokus auf Staaten kritisierbar und Gädeke stellt ausdrücklich fest, dass sie Staatlichkeit im europäischen Sinn nicht voraussetze (233, 240f.). Andererseits legt sie jedoch nicht nur einen begründeten inhaltlichen Schwerpunkt auf Staaten als Kontexte mit besonderem Potential sowohl zu Beherrschung als auch zur Etablierung autonomer Praktiken der Nicht-Beherrschung, und in der Folge auf zwischenstaatliche Beziehungen sowie die Beherrschung von Staaten durch Staaten (240f., 380f). Vielmehr scheint die Logik eines Staatensystems immer wieder als Hintergrund auch ihrer grundsätzlichen Überlegungen auf (316f., 321f., 331f., 356ff., 442ff.). Mit Blick auf ihre konkrete Fragestellung ist dieser Schwerpunkt durchaus nachzuvollziehen. Auch dass eine kritische Theorie von existierenden, oft staatlich geprägten Beherrschungsbeziehungen ausgeht, ist gerechtfertigt. Zumindest zu diskutieren sind aber (1) einige der Konsequenzen für die Institutionen und die Praxis externer Demokratieförderung, die zum individualistischen Grundansatz in Spannung stehen. Endgültig zu hinterfragen ist diese Weichenstellung dann, wenn (2) Gädekes Vorschläge für eine mögliche transnationale bzw. globale Ordnung grundsätzlich in den Fokus rücken.

Externe Demokratieförderung als Politik auf unterschiedlichen Ebenen?

(1) Mit Blick auf externe Demokratieförderung kulminieren diese Konsequenzen in Gädekes sicherlich kontroverser These, dass ein Staat „als Handlungsstruktur des Volkes“ (317) unabhängig von seiner Organisationstruktur, also auch wenn er intern beherrschend organisiert ist, als Gegenüber anzuerkennen sei und beherrschenden Formen der Demokratieförderung nicht ausgesetzt werden dürfe (Kapitel 8). Denn auch in nicht-repräsentativen Strukturen behielte das Volks seine fundamentale konstituierende Macht (313ff.). Während diese These zu diskutieren ist, stellen sich allgemeiner die Fragen, wer die entscheidenden Akteure sind, die eine nicht-beherrschende Praxis der externen Demokratieförderung gestalten können, und wie kollektive und individuelle Nicht-Beherrschung in der entwicklungspolitischen Praxis gewichtet werden. Wenn Gädeke betont, dass die Beherrschung des Staates Beherrschung des Volkes in konstituierender Hinsicht bedeute, gerät die externe Förderung von einzelnen, auch oppositionellen Gruppen innerstaatlich Beherrschter, nicht zuletzt um deren konstituierende Macht auch gegen das staatliche Regime zu garantieren, aus dem Blick (321). Während Gädeke das Phänomen der Ebenen überschreitenden Beherrschung überzeugend herausarbeitet und begründet darauf zielt, gerade die Position mehrfach Beherrschter zu verbessern (407, 422), leitet die Bedeutung der Staaten und Völker die Bemühungen um die Demokratisierung auch der Entwicklungspolitik selbst in eine internationalistische Richtung. Gädeke zeigt Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Ebenen normativ und praktisch auf und treibt damit die Debatte voran. Ihre analytische Ebenentrennung lenkt den Blick aber dennoch auf inner- und zwischenstaatliche Beziehungen und nicht auf Beziehungen, die quer dazu verlaufen. Ihr Ansatz bietet für die Demokratisierung der Demokratieförderung sicher fruchtbare Ansatzpunkte. Aber ob damit die Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Formen der Beherrschung in ihrem vollen Ausmaß erfasst werden, scheint fraglich. Sind Staaten bzw. Völker wirklich nicht nur die richtigen Adressaten, sondern auch die allein richtigen konstituierenden Akteure internationaler Organisationen der Entwicklungspolitik? Müssen ihnen nicht Mechanismen an die Seite gestellt werden, die die individualistische Grundausrichtung von Gädekes Theorie der Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen, wo kollektivistische, insbesondere staatliche Überlegungen an ihre Grenzen stoßen?

Transnationale Demokratie ohne Bürger_innen?

(2) Letzteres wird mit Blick auf die von Gädeke angedeutete globale Strukturpolitik noch deutlicher. Neben der relationalen Souveränität, die Rechte und Pflichten von Staaten als Mitgliedern internationaler Organisationen beschreibt (362f.), fordert Gädeke Mechanismen der transnationalen Demokratie: „grenzüberschreitende deliberative Strukturen […], die nicht zwischenstaatlich angelegt“, aber ein „Erfordernis nicht-beherrschter Herrschaft und damit zwischenstaatlicher Gerechtigkeit“ sind (369). Sie umfassen informelle grenzüberschreitende Öffentlichkeiten, reflektierende Gremien und individuelle wie kollektive (juristische) Kontestationsmöglichkeiten (365ff.). Gädeke folgt somit dem verbreiteten Trend, demokratische Selbstbestimmung jenseits des Staates vor allem deliberativ (und kontestatorisch) zu konzipieren. Gerade aufgrund ihrer theoretischen Grundlagen scheint es aber zweifelhaft, hier auf die partizipative, vor allem legislative Gestaltungsmacht der Bürger_innen zu verzichten. Entscheidungen über die (Re-)Konstitution ‚des Volkes‘ oder des Staates, nicht zuletzt darüber, welche Gruppen konstituierende Macht haben (354) und wie die Grenzen des Volkes als Kollektiv von Bürger_innen gestaltet werden, haben hohes grenzüberschreitendes Beherrschungspotential. Dieses Beherrschungspotential wird gerade unter Bedingungen der Globalisierung sichtbar – nicht zuletzt, wenn man Gädekes theoretische Perspektive zugrunde legt. Deshalb scheint es aus dieser Perspektive dringend, auch jenseits einzelner Staaten nicht nur Wege formaler, sondern auch materialer Willkürfreiheit für Individuen als Bürger_innen vorzusehen.

Ein solcher Schritt trifft auf gravierende Herausforderungen. Denn: „Das individuelle Recht auf Nicht-Beherrschung lässt sich nur innerhalb einer autonomen Praxis der Nicht-Beherrschung realisieren, die selbst nicht beherrscht wird.“ (344) Das Ziel nicht-beherrschter Herrschaft ist valide und stellt einen fruchtbaren Ansatz dar, die Beziehungen zwischen (teilweise) eigenständigen (Teil‑)Ordnungen in einer überstaatlichen Ordnung zu konzipieren. Doch spätestens wenn nicht externe Demokratieförderung, sondern globale Strukturpolitik zur Debatte steht, ist das Verharren in einem vorrangig zwischenstaatlichen Ordnungsmodell mit Gädekes kritischem, wie individuellen Republikanismus schwer zu rechtfertigen. Wenn individuelle Nicht-Beherrschung das zugrundeliegende Ziel ist, ist es notwendig, nicht nur Beziehungen in staatlichen und zwischenstaatlichen Strukturen zu demokratisieren, sondern auch Möglichkeiten zu eröffnen, partikulare, vor allem staatliche Teilordnungen und damit auch die Grenzen politischer Herrschaftsinstitutionen wie bürgerschaftlicher Kollektive zu hinterfragen und reflexiv zu gestalten (Gädeke deutet eine solch kosmopolitische Lesart an, verfolgt sie aber nicht; vgl. 375). Aufgrund der Bedeutung kollektiver Selbstbestimmung sind dabei nicht nur grenzüberschreitende Öffentlichkeiten und juristische Kontestationswege notwendig. Bürgerschaft im umfassenden Sinn auch in demoi und politischen Institutionen jenseits des Staates kann notwendig werden, um individuelle Nicht-Beherrschung zu garantieren. Dies löst das Problem demokratischer Grenzsetzung nicht auf, bietet aber veritable Möglichkeiten zur Demokratisierung transnationaler Strukturen. Dies bedeutet auch nicht ‚Volk‘ und Staat aufzugeben oder abzuschreiben. Es bedeutet aber, ihren Vorrang zur Debatte zu stellen und die Formen und Institutionen kollektiver Selbstbestimmung jeweils ausgehend von individuellen Bürger_innen (und auch Nicht-Bürger_innen) und ausgehend vom Status der Bürgerschaft zu konzipieren (Meine 2017). Es bedeutet zugleich, ihre Fähigkeit zu prüfen, auch in einer Mehrebenenordnung mittels kollektiver auch individuelle Nicht-Beherrschung zu garantieren. Gädekes kritischer Republikanismus legt dafür durchaus eine Grundlage.

Literatur

Meine, Anna. Komplementäre Bürgerschaften. Demokratische Selbstbestimmung in transnationalen Ordnungen. Baden-Baden: Nomos, 2017.

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