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Rezension zu David Miller: Fremde in unserer Mitte: Politische Philosophie der Einwanderung. Berlin: Suhrkamp 2017. 330 Seiten. [ISBN 978-3-518-58711-9]

Rezensiert von Therese Herrmann (Goethe Universität Frankfurt)

Mit Fremde in unserer Mitte buchstabiert David Miller die Implikationen seines liberalen Nationalismus für eine „politische Philosophie der Einwanderung“ aus. Gegenüber den zahlreichen Entwürfen liberaler Migrationsethik, die Migrantinnen1 weitreichende Rechte zuerkennen – man denke an Joseph Carens’ grundlegenden Entwurf einer Ethics of Immigration (2013) sowie jüngst Andreas Cassees Verteidigung eines Rechts auf Globale Bewegungsfreiheit (2016) – liegt der Reiz von Millers Ansatz in seiner sozialtheoretischen Ausrichtung. In Abgrenzung zu naturrechtlichen oder liberal-gerechtigkeitstheoretischen Konzeptionen meint Miller, dass die Frage nach den moralischen Pflichten einer politischen Gemeinschaft immer auch von den konkreten Institutionen und Praktiken ausgehen muss, durch die deren Mitglieder sich selbst verpflichten. Die Ansprüche der Migranten sind demnach in Einklang zu bringen mit dem Anspruch politischer Kollektive auf den Erhalt der Bedingungen, die sie benötigen, um sich als politische Gemeinschaften zu reproduzieren. Eben hier konstatiert Miller ein Konkurrenzverhältnis, das er weitgehend zugunsten bestehender nationaler Gemeinschaften auflöst. Nationalstaaten haben, so die Grundthese von Fremde in unserer Mitte, weitreichende Rechte, Grenzen zu schließen und – in Abwägung mit grundlegenden menschenrechtlichen Verpflichtungen – selbst zu entscheiden, wen sie als Neumitglieder aufnehmen wollen.

In der migrationsethischen Debatte bringt Miller seinen Ansatz als eine realistische Position gegenüber idealisierenden Ansätzen in Stellung. Fremde in unserer Mitte ist daher auch als Versuch zu verstehen, die aktuelle anglo-amerikanische Debatte um die Methoden der ideal theory und non-ideal theory in den Kontext der Migrationsethik zu übertragen. Mit Realismus meint Miller einen Theorieentwurf, der normative Geltung im Kontext ihrer sozialen Bedingungen verstehen will (vgl. Miller 2013). Dies sei gerade in der Migrationsfrage gefordert, denn diese werde überhaupt erst zum Problem politischer Philosophie, wenn die sozialen Dynamiken in den Blick genommen werden, die einerseits Migrationsanreize schaffen und andererseits in den Einwanderungsgesellschaften den Wunsch nach normativer Selbstvergewisserung generieren. Miller versteht dies spezifisch als Pointe gegen John Rawls, dessen idealisierende Gerechtigkeitstheorie Fragen der Migration aus systematischen Gründen keinen Platz habe zuerkennen können (28f.). Wenn Miller seinen Realismus zudem an bestimmten Stellen als kommunitaristisch spezifiziert (245), so bedeutet dies für ihn, Migration als soziale Erfahrung zu thematisieren, die sich Einwanderungsgesellschaften gerade deshalb als Problem darstellt, weil sie unmittelbar die Frage nach den „gesellschaftlichen und kulturellen Vorbedingungen einer gerechten und demokratischen Gesellschaft“ (251) – zentral die nach der Zusammensetzung des demos – aufwirft. Den provokanten Buchtitel Fremde in unserer Mitte wählt Miller demnach bewusst, um der Migrationsethik die normative Brille einer universalistischen, dabei aber praxisfremden Moral abzusetzen und den Blick auf die wesentlichen Kooperationsbeziehungen konkreter Gemeinschaften zu lenken. Ob dieses Vorhaben allerdings schon dadurch abgesteckt ist, die mit dem „Aufbrechen eingespielter kultureller Muster“ (34) in Teilen der Gesellschaft erlebten Irritationen und Ressentiments zum Ausgangspunkt demokratietheoretischer Überlegungen zu machen, sei zunächst dahin gestellt.

Im zweiten Kapitel von Fremde in unserer Mitte skizziert Miller die Grundlagen seiner Migrationsethik, die von der Idee eines „schwachen Kosmopolitismus“ (42) ausgeht. Während es diesem zufolge grundsätzlich zulässig ist, moralische Ansprüche verschieden zu gewichten, sollen Ungleichbehandlungen dennoch gegenüber allen Menschen zu rechtfertigen sein. Dass Ungleichbehandlungen prinzipiell rechtfertigbar sind, argumentiert Miller mit Verweis auf persönliche Nahbeziehungen: Die Parteilichkeit der konkreten Einzelnen gegenüber den Ansprüchen der eigenen Freunde und Familienmitglieder betrachtet er nicht nur als grundsätzlich zulässig, sondern als für ein gelungenes Leben unabdingbar. Nahbeziehungen stellen aber nur einen „intrinsischen Wert“ (48) unter mehreren dar, ebenso grundlegend für ein gelungenes Leben sind laut Miller die kollektiven Projekte der gerechten Ressourcenverteilung und der politischen Selbstbestimmung. Moralphilosophisch geboten, so nun die zentrale These, sei daher auch eine „landsmännische Parteilichkeit“ (37), derzufolge Bürgerinnen eines Nationalstaates die Ansprüche der eigenen Mitbürgerinnen gegenüber denen Außenstehender bevorzugt behandeln können sollen.

Wenn Kollektivprojekte wie gerechte Ressourcenverteilung und demokratische Selbstbestimmung intrinsisch wertvoll sind – so beginnt Millers Argument für die „landsmännische Parteilichkeit“ – dann können „assoziative Pflichten“ (48) zwischen Mitbürgern begründet werden, die darauf abzielen, den institutionellen Rahmen, in welchem sich diese Werte historisch realisieren, funktionstüchtig zu halten. Zu diesen Pflichten zählt Miller die Bereitschaft, an politischen Prozessen mitzuwirken sowie das für sozialstaatliche Umverteilung notwendige Maß an Gemeinwohlorientierung auszubilden. Anders aber als bei persönlichen Nahbeziehungen wird der Kreis der moralisch Herausgehobenen hier nicht durch das Prinzip der Nähe, sondern funktional bestimmt. Da moderne Nationalstaaten faktisch die Orte sind, an denen Selbstbestimmung und Umverteilung rechtlich institutionalisiert sind, müssen assoziative Pflichten folglich allen denen gegenüber gelten, die unter denselben Gesetzen leben. Um Miller bis hierhin zu folgen, muss man kein Nationalist sein – wobei es unklar bleibt, wie die Figur assoziativer Pflichten auf die Frage der Einwanderung übertragen werden soll. Für sich genommen bedeutet deren Vorhandensein nicht mehr, als dass die Reproduktion moderner, demokratisch organisierter Rechtssysteme funktional darauf angewiesen ist, den Kreis ihrer Adressaten moralisch verpflichten zu können. Wie diese Pflichten sich zu den Rechten Anderer verhalten, ist damit nicht gesagt.

An dieser Stelle bringt Miller die Nation ins Bild, verstanden als historisch geteilte, vorpolitische Lebensform. Wer Miller bis zu den assoziativen Pflichten gefolgt ist, wird nun gefragt, wie diese motivational fundiert werden können. Millers Antwort ist aus seinen früheren Schriften (Miller 2007, Miller 1995) bekannt, denen Fremde in unserer Mitte auch weitgehend die Details der Argumentation überlässt: Erst wenn aus Mitbürgern „Landsmänner“ würden, könnten diese erklären „warum sie zusammengehören und ihre Rolle als Staatsbürger gerade an diesem Ort wahrzunehmen gedenken“ (51, Hervorhebung d. Verf.). Erst die geteilte nationale Identität könne die Art affektive Bindungen kreieren, die Bürgertugend und Gemeinwohlorientierung ihre motivationale Grundlage geben. Kaum besprochen bleibt auch, was die Verschiebung von assoziativen Pflichten zwischen Staatsbürgerinnen zu einer moralischen Parteilichkeit zwischen Landsleuten für den Inhalt dieser Pflichten bedeutet. Denn während assoziative Pflichten strikt darauf beschränkt sein dürften, die Reproduktion eines bestimmten Rechtssystems zu gewährleisten, zielt landsmännische Parteilichkeit auf den Erhalt einer kulturellen Lebensform. Insbesondere lässt Miller an dieser Stelle offen, was es für die Rechte Außenstehender bedeutet, wenn das Projekt, die „nationale Identität der bereits vorhandenen Bürger zu bewahren und zu stärken“ (51), zum Ziel öffentlicher Anstrengungen wird.

Pflichten gegenüber Außenstehenden fundiert Miller in den Menschenrechten, welche er als vorpolitische Subsistenzrechte versteht, die von außen an hinreichend geschlossene demokratische Gesellschaften herangetragen werden. Nur wenn sie minimal definiert würden, im Sinne eines festgeschriebenen Grundstocks menschlicher Bedürfnisse, könnten Menschenrechte bestehende Staaten genuin verpflichten und die Grenze, die die landsmännische Parteilichkeit setzt, überwinden. Zwar müssten Staaten auch alle anderen Ansprüche, die Andere gegen sie geltend machen, in Erwägung ziehen und deren Zurückweisung rechtfertigen. Aber nur die Verletzung der Subsistenzrechte könne Staaten tatsächlich positiv zur Abhilfe verpflichten.

Nach den prinzipiellen Überlegungen zur Frage, wie die Prämisse von moralisch herausgehobenen Bindungen zwischen den Mitgliedern desselben politischen Kollektivs mit der Idee universeller Menschenrechte vereinbar sind, widmet sich Miller konkreten migrationsethischen Fragen. In Kapitel drei und vier geht es um das Problem der Grenze. Hier arbeitet er sich an gerechtigkeitstheoretischen Argumenten für offene Grenzen ab und meint in demokratietheoretischen Überlegungen schließlich starke Gründe dafür zu finden, politischen Gemeinschaften ein weitreichendes Grenzschließungsrecht einzuräumen.

Die prima facie überzeugendsten Argumente für offene Grenzen findet Miller in Diskussionen um die Vorstellung eines ursprünglichen Gemeinbesitzes an der Erde, in der Debatte um globale Chancengleichheit sowie in der Idee eines Menschenrechts auf Einwanderung. Alle drei Ansätze scheitern laut Miller jedoch letztlich in der Migrationsfrage. Das Mischverhältnis der einerseits kulturellen und andererseits politischen Gründe, die Miller hierfür angibt, führt in den Kern seines liberalen Nationalismus. Die an Grotius anschließende und von Matthias Risse (2012) aufgegriffene Idee des ursprünglichen Gemeinbesitzes an der Erde lässt sich in Bezug auf das Einwanderungsrecht für Miller nur sinnvoll als individueller Anspruch auf einen gleichen Anteil an Erdressourcen umformulieren. Demnach hätte ein Staat erst dann ein Recht auf Grenzschließung, wenn er nachweisen könnte, dass dadurch niemandem der Genuss ihres Anteils an Erdressourcen verwehrt wird. Laut Miller krankt dieser Ansatz unter anderem daran, dass er die kulturübergreifende Vergleichbarkeit des Wertes von Ressourcen voraussetzt. Dabei sei gerade nicht gegeben, dass „die von Märkten bestimmten Bodenwerte die relevanten sind“ (73). Andere Kulturen würden andere Maßstäbe zur Bestimmung von Bodenwerten heranziehen, etwa den der Biodiversität.

Diese deutlich kommunitaristische Argumentation ist auch für Millers Diskussion der globalen Chancengleichheit relevant, in der er an die einschlägigen Texte von Amartya Sen (2002) und Martha Nussbaum (2011) anschließt. Auch Chancenbündel würden kulturell unterschiedlich bewertet, die Idee globaler Chancengleichheit ist also durch eine Pluralität an Deutungshorizonten vermittelt, welche inkommensurabel sein können. Größeres Gewicht tragen in diesem Teil von Millers Argumentation gegen offene Grenzen aber Überlegungen zur politischen Selbstbestimmung. Offene Grenzen, so heißt es, können deshalb nicht mit Verweis auf die Ungerechtigkeit einer globalen Geburtenlotterie gerechtfertigt werden, die mit der Staatsangehörigkeit auch Lebensmöglichkeiten unterschiedlich verteilt, weil Gerechtigkeitserwägungen nicht ohne kollektive Selbstbestimmung zu denken sei. Die mit der Nationalität gegebenen Chancen seien demnach immer auch das Erbe kollektiver Entscheidungen, „beispielsweise über wirtschaftliche Wachstumsraten und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen“ (78). Und da die Nationalstaaten weiterhin die einzigen Arenen seien, in denen Verteilungsfragen öffentlich diskutiert, implementiert und verantwortet werden können, bleibt der Kreis der Adressaten von Umverteilungspolitiken auf den der Autoren nationalstaatlich geltender Gesetze beschränkt. Die zwischen zwei Nationen bestehende Chancenungleichheit ist dann, so heißt es schlicht, „einfach nur ein Nebenprodukt der Unabhängigkeit ihrer beiden Länder voneinander“ (79).

Der Deutungshoheit der substantialistisch verstandenen Nationen in Fragen der Ressourcengerechtigkeit und Chancengleichheit stellt Miller die Idee allgemeinmenschlicher und damit deutungsunabhängiger Bedürfnisse gegenüber, die er in den Menschenrechten verbürgt sieht. Strukturelle Verletzungen etwa des Rechts auf Nahrung, auf Redefreiheit oder auf Familiengründung können bei Miller Hilfspflichten in anderen Staaten hervorrufen, die in einigen Fällen auch die Form von Aufnahmepflichten annehmen können. Aber den so verstandenen Menschenrechten ist ein klares Hierarchieverhältnis eingeschrieben. Das zeigt sich auch in Millers Diskussion des letzten Arguments für offene Grenzen, der Idee eines Menschenrechts auf globale Bewegungsfreiheit. Befürworterinnen eines solchen Rechts (Carens 2013, Cassee 2016, Oberman 2016) verteidigen globale Freizügigkeit aus denselben Gründen, die für innerstaatliche Bewegungsfreiheit in Anspruch genommen werden. Sie verstehen Freizügigkeit als grundlegende menschliche Freiheit, die sowohl instrumentell – um etwa das Recht auf Religionsfreiheit und Demonstrationsfreiheit oder den Zugang zu Ressourcen zu ermöglichen – als auch intrinsisch für ein autonomes Leben wertvoll ist. Miller hingegen betont, dass es bei der Bestimmung individueller Freiheiten jeweils darauf ankomme, ein angemessenes Set an Optionen offen zu halten. So würde die Berufsfreiheit etwa vorsehen, zwischen einer angemessenen Auswahl an Berufen wählen, nicht aber, einen spezifischen Beruf ausüben zu können. In diesem Sinne könne sich etwa ein Mann, der Opernsänger werden will, aber in einem kleinen Land geboren ist, in dem es keine Oper gibt, nicht allein auf die Berufsfreiheit beziehen, um seinen Migrationsanspruch zu legitimieren (Miller 2012, 50f.). Abgesehen davon, dass mit dieser Argumentation kaum gerechtfertigt werden kann, warum Bewegungsfreiheit innerhalb von Staaten uneingeschränkt gewährt und nicht bereits auf ein jeweils „ausreichendes“ Set begrenzt werden sollte, verkennt Miller, dass es in der individuellen Autonomie nicht allein darum geht, zwischen verschiedenen Option zu wählen, sondern diese Wahl unabhängig treffen zu können – ohne, dass eine oder mehrere Optionen mit der Androhung von physischem Zwang behaftet ist (vgl. Raz 1986). Um zu verhindern, dass es die Regierungen sind, die vorgeben, welches legitime Interesse durch die Freiheitsrechte gedeckt ist und welches jenseits des Bereichs des Angemessenen fällt, bräuchte es mindestens eine politische Öffentlichkeit, deren Vernunft schon bei Kant (2011) über die Grenzen der Nationalstaaten hinausreichen musste. Globale Bewegungsfreiheit hätte – jenseits der negativen Freiheit, die vor allem Cassee (2016) geltend macht – daher auch bereits einen politischen Wert: Sie wäre zentral dafür, im Austausch mit einem möglichst weiten Kreis an Anderen ein Gegengewicht zur Deutungshoheit der Regierungen zu entwickeln.

Den Zusammenhang zwischen politischer Selbstbestimmung, Nationalität und dem Recht auf Grenzschließung erörtert Miller dort, wo er in Fremde in unserer Mitte ein weitreichendes Grenzschließungsrecht nationalstaatlicher Kollektive verteidigen will. Immigration in größerem Ausmaß schmälert langfristig demokratische Selbstbestimmung, so lautet hier die streitbare These. Hierfür führt er allerdings explizit nicht souveränitätstheoretische Gründe an, sondern beruft sich auf den Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Gerechtigkeitsstandards. Der Verweis auf eine vertragstheoretisch hergeleitete Staats- oder Volkssouveränität, so erinnert Miller, kann eben gerade nicht rechtfertigen, warum an Grenzen staatliche Gewalt auch gegen jene ausgeübt werden darf, die nie Teil des vertragsschließenden Kollektivs gewesen sind. Selbstbestimmung meint demnach nicht die unbedingte Geltung eines souveränen Willens, sondern bezieht sich auf den Anspruch eines demos, Ressourcen nach für alle annehmbaren Kriterien zu verteilen. Hier nun aber gilt laut Miller pauschal: „Klar ist, dass der Spielraum für freie Entscheidungen durch das Hinzukommen neuer Angehöriger der Staatsbevölkerung begrenzt worden ist“ (103). Miller argumentiert zunächst sozioökonomisch und verweist darauf, dass Immigration die im Zielland bereits schlechter Gestellten benachteilige, weil sie die Preise für Grundgüter in die Höhe treibe und eine umfangreiche Sozialpolitik verteuere. Entscheidend aber sind die demokratietheoretischen Implikationen dieser – empirisch kaum ausgeführten – These. Nicht die erhöhte Nachfrage an Grundgütern, sondern die sozialstaatliche Pflicht, jene für alle die zur Verfügung zu stellen, die sich längerfristig auf dem eigenen Hoheitsgebiet befinden, führe in den Kontrollverlust. Dieser Gedanke ist freilich nicht zu haben ohne eine starke, substantialistische Auslegung der „Landsmänner“, gegenüber denen Miller zufolge besondere Pflichten bestehen. Das Selbst demokratischer Selbstbestimmung muss hier zuallererst als kulturelle Einheit und nicht als reflexives Subjekt verstanden werden, dessen grundlegendste Prinzipien und Willensbildungsverfahren selbst es dazu anhalten, sich je neu hervorzubringen. Ansonsten ist kaum zu erkennen, warum nur Sozialzahlungen an Fremde, und nicht bereits alle sozialen Rechte als Einschränkung politischer Gestaltungsmacht betrachtet werden sollte.

Etwas anderes will Miller auch nicht behaupten. Der längere Teil seiner demokratietheoretischen Rechtfertigung eines Grenzschließungsrechts widmet sich Überlegungen zum Verhältnis von kultureller Kontinuität und politischer Legitimität. Hier werden die Thesen expliziter, die Miller in der Rechtfertigung der landsmännischen Partikularität bereits angeschnitten hatte. Miller schreibt kultureller Kontinuität zunächst die mittelbare Rolle zu, das Maß an Vertrauen zu genieren, welches die Verwirklichung des Umverteilungsanspruchs moderner Sozialstaaten motivational voraussetzen müsse. Später verschärft er die These und macht bereits die Möglichkeit der gemeinsamen Formulierung von Gerechtigkeitsprinzipien davon abhängig, dass eine Gesellschaft ein nicht verhandelbares Ensemble ethischer Kernwerte teilt: „Man kann einen Staat haben, der sich in etwa zur Hälfte aus Fleischessern und in etwa zur anderen aus Vegetariern zusammensetzt, aber keinen, der auf gleiche Weise aus Demokraten und Theokraten besteht“ (109). Nun lässt sich – immer noch – darüber streiten, ob pluralistische Demokratien gerade dort, wo sie politischen Streit und soziale Umverteilung ermöglichen sollen, auf geteilte Grundwerte zurückgreifen müssen. Aber Miller beendet die Diskussion frühzeitig, indem er seine These abermals radikalisiert, nun zugunsten identitärer Positionen. Zu schnell macht er aus der Frage nach der Notwendigkeit eines geteilten ethos in demokratischen Gesellschaften die Frage nach einem durch kulturelle Homogenität und eine gemeinsame Geschichte verbundenen ethnos. Und ebenso wird aus der Perspektive demokratischer Partizipation die einer substantiellen Identifikation mit vorreflexiven Werten. Wo Miller die sozialen Bedingungen politischer Autonomie diskutiert, modifiziert er auch seine Definition demokratischer Selbstbestimmung. Diese drückt sich nun bloß noch in der Anforderung aus, die Gründe, die jeweils hinter von anderen getroffenen politischen Entscheidungen stehen, mögen öffentlich akzeptiert werden. Und dies wiederum ist in Millers stark zusammengestutzter Definition schlicht dann der Fall, wenn sich jemand in der Situation befindet, „von jemandem regiert zu werden, der die eigenen Ziele und Wertvorstellungen teilt“ (111).

Vor dem Hintergrund der landsmännischen Parteilichkeit und des Grenzschließungsrechts behandeln die anwendungsbezogenen Kapitel fünf bis acht die konkreten Rechte und Pflichten von Einwanderern. Miller hält an der durchaus umstrittenen Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten fest, dehnt aber seine Flüchtlingsdefinition weit über die der Genfer Konvention hinaus. Flüchtlinge sind in Fremde in unserer Mitte alle diejenigen, deren Subsistenzrechte allein durch Immigration wiederhergestellt werden können – damit schließt Miller explizit auch Klimaflüchtlinge und Menschen, die in absoluter Armut leben, in seine Definition mit ein. Auch überall dort, wo er aufseiten der Einwanderungsländer Pflichten spezifizieren kann, ist Miller liberaler, als es die landsmännische Parteilichkeit hätte vermuten lassen. So gebieten die Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen ihm zufolge, dass Staaten verschiedene Möglichkeiten extraterritorialer Asylbeantragung einrichten, unter anderem das unter den Bedingungen gegenwärtiger Migrationsregime kaum vorstellbare Botschaftsverfahren. Und sie verbieten, trotz allen Appells an die nationale Kohäsion, dass Flüchtlinge nach kulturellen oder ökonomischen Kriterien ausgesucht werden. Millers Kulturalismus kommt eher dort zur Geltung, wo es um die Rechte ökonomischer Migrantinnen geht. Hier nämlich stehe es dem Einwanderungsstaat frei, Einwanderern nicht nur nach ökonomischer Eignung, sondern auch nach kulturellen Kriterien auszuwählen, sobald alle direkten Rassismen ausgeschaltet sind. Zwar stimmt Miller im Grunde mit Michael Walzers (2014) Forderung überein, dass Arbeitsmigrantinnen auch einen Anspruch auf Bürgerrechte haben sollen. Aber anders als bei Walzer soll dies bei Miller nur bei langfristigen Aufenthalten gelten, die auch durch kulturelle Integrationsbemühungen seitens der Einwanderer ergänzt werden müssen.

Auch wenn es hier noch einiges zu diskutieren gäbe, das grundsätzliche Problem von Fremde in unserer Mitte liegt nicht im Ausmaß der Einwanderinnen zuerkannten Rechte, sondern in deren Fundierung. Dies zeigt sich spätestens, wo Miller Hilfspflichten und Grenzschließungsrecht im Kontext einer globalen Verantwortungsverteilung gegeneinander abwägt. Fast wie ein Auftragswerk erscheint die Übersetzung von Strangers in Our Midst 2017 in Deutschland, wo die wieder aufgerollte Diskussion um eine „Obergrenze“ für – wahlweise – Flüchtlinge im Speziellen oder Einwanderer im Allgemeinen alle anderen Wahlkampfthemen in den Schatten gestellt hat. An Miller lassen sich die Fallstricke dieses Themas gut aufzeigen. Ausdrücklich plädiert er dafür, dass die Selbstbestimmung demokratischer Gesellschaften auch das Recht zur Festlegung von Einwanderinnenkontingenten einbeziehen muss – wenn auch mit der Einschränkung, dass die moralische Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen gebiete, diese bei Deckelung der absoluten Einwanderinnenzahlen bevorzugt ins Land zu lassen. Die landsmännische Parteilichkeit legt hierfür die Grundlage, aber nimmt man Millers Argumentation ernst, kann sie allein das Recht zur Bestimmung einer Obergrenze nicht begründen. Ausdrücklich hatte Miller die Bevorzugung der eigenen Landsleute in den Rahmen von Hilfspflichten gegenüber jenen gesetzt, deren Subsistenzrechte verletzt werden. Es hängt also alles davon ab, ob und wie die an sich unstrittige Verantwortung gegenüber Flüchtlingen so zwischen verschiedenen Staaten aufgeteilt werden kann, dass beides, Obergrenze und Schutzgewährung, gewährleistet ist.

Nachdem Miller einige Möglichkeiten der transnationalen Aufteilung von Verantwortung durchgeht, ohne konkret für die eine oder andere zu plädieren, ist sein Fazit schlicht: Es ist nicht abzusehen, dass sich die einzelnen Staaten in Abwesenheit einer durchsetzungsfähigen transnationalen Autorität auf gerechte Verteilungskriterien einigen können, eine „Schutzlücke“ (293) zwischen den legitimen Ansprüchen der Flüchtlinge und der laut Miller ebenso billigen Argumentation der einzelnen Staaten, ihren fair share bereits geleistet zu haben, sei zu erwarten. Man mag Miller ob der jüngsten europäischen Erfahrungen für diese Einschätzung Realismus attestieren. Aber dieser ist ein anderer Realismus als der anfangs zitierte, der es darauf angelegt hatte, die sozialen Bedingungen normativer Geltung aufzuspüren. Beinahe schmittianisch meint Miller, im Zweifelsfall gäbe es einen „tragischen Wertekonflikt“ (145) zwischen den Schutzansprüchen der Flüchtlinge und den Ansprüchen politischer Gemeinwesen, die eigene nationale Lebensform zu erhalten. So lange Miller sowohl das Selbsteintrittsrecht ablehnt als auch – mit dem recht lapidaren Verweis, eine zwischenstaatliche Einigung sei „schwer vorstellbar“ (138) – darauf verzichtet, nur ein einziges Kriterium dafür zu benennen, wie eine gerechte zwischenstaatliche Verteilung von Flüchtlingen aussehen könnte, gleichzeitig aber das Überleben demokratischer Gemeinwesen an die bloß passive Identifikation mit substantiellen Werten knüpft, schlägt Fremde in unserer Mitte die Tür für nationalistische Positionen wesentlich weiter auf, als Millers eigene liberale Grundsätze es zulassen dürften.

Dies gilt besonders, wenn man Millers völkerrechtlichen Pessimismus mit seinen Argumenten zum Recht auf Bewegungsfreiheit und zur kulturellen Selbstbestimmung abgleicht. Carens (2013, 269f.) und Cassee (2016, 138) haben Millers eigentümliche Tendenz beobachtet, individuelle Freiheitsrechte mit Verweis auf den Schwellenwert angemessener Handlungsoptionen zu relativieren, das Interesse nationaler Gemeinschaften an kultureller Kohäsion aber gegenüber den Ansprüchen von Migranten auf Bewegungsfreiheit für grundsätzlich gerechtfertigt zu halten. Während Miller demnach davon ausgeht, dass den Einzelnen in ihren Herkunftsstaaten normalerweise eine angemessene Palette an Handlungsoptionen zur Verfügung steht und es also Migrantinnen selbst zufallen würde, ausländische Regierungen vom Gegenteil zu überzeugen, haben die Mitglieder der Nationenkollektive diese Beweislast nicht zu tragen. Sie müssen nicht erst zeigen, dass ihr Interesse an kultureller Kohäsion mehr ist als eine bloße Präferenz, die sie zwar mit Recht verfolgen, aber auch aufgrund anderer, essentiellerer Interessen, verwehrt bekommen können, ohne dadurch den Zugang zu grundlegenden Freiheiten zu verlieren. In Millers politischer Theorie zeigt sich hier ein gutes Stück kommunitaristische Ontologie: Ohne es recht auszuweisen, befördert er die Idee kultureller Kohäsion von einem Wert, dem demokratische Kollektive sich unter anderen verschreiben wollen können, zur Bedingung der Möglichkeit politischer Selbstbestimmung schlechthin. Es ist, als komme das in der landsmännischen Parteilichkeit ausgedrückte Recht auf kulturelle Selbsterhaltung auf zweiter Ebene zurück, diesmal – wie bereits Carens (2013, 269) und Cassee (2016, 146) beobachtet haben – als „Trumpf“.

Nun lässt sich Millers Projekt, ein weitreichendes Grenzschließungsrecht im Rahmen basaler menschenrechtlicher Verpflichtungen zu verteidigen, nicht nur intern, sondern auch bereits in seinen Prämissen kritisieren. So sinnvoll das Vorhaben ist, eine umfassende Migrationsethik auf die Grundlage einer Gesellschaftstheorie zu stellen, die nach den sozialen Bedingungen normativer Geltung fragt, so skeptisch muss Millers Demokratieverständnis stimmen, das demokratische Legitimität vorreflexiv an die Identifikation mit den kulturell konstanten Werten einer abgrenzbaren Nation knüpft. Hier schlägt Millers Realismus unweigerlich ins Konservative um. Die empirischen Zusammenhänge, auf die Fremde in unserer Mitte verweist, wirken häufig sporadisch und selektiv, Millers demokratietheoretische Prämissen sind ihnen stets vorgeschaltet – und die kommen nahe an einen aristotelischen Substanzialismus heran, der demokratische Legitimität bereits hinreichend in kultureller Identifikation selbst verortet. Das Kernelement der Partizipation und die damit einher gehende Idee, dass ein demokratisches Kollektiv sich in je erneuerten Willensbildungsakten immer wieder selbst herstellt, fällt bei Miller hinten runter. Die Menschenrechte, die in Fremde in unserer Mitte die Last tragen, nahezu sämtliche Pflichten gegenüber jenen zu begründen, die nicht von vornherein Teil eines Nationenkollektivs waren, treten an dieses Bild bloß von Außen heran. Ganz im Sinne von Hannah Arendts früher Kritik werden sie bei Miller „zu einer Art zusätzlichen Ausnahmerechts für die Unterdrückten, auf das sich ihre Beschützer beriefen“ und stellen darin bloß „ein Minimum an Recht für die Entrechteten dar“ (Arendt 2014, 602). Eng definiert als Subsistenzrechte, ist ihr Status vis-à-vis dem Grenzschließungsrecht – das zeigt Millers Diskussion der Obergrenze – nie ganz gesichert: Im Ernstfall des tragischen Wertekonflikts existieren sie entweder auf Kosten demokratischer Selbstbestimmung und sozialstaatlicher Umverteilung – oder gar nicht.

Eine anders verstandene Sozialtheorie der Demokratie würde den Blick darüber hinaus auf eine andere gesellschaftliche Dynamik richten müssen, die Millers Gerechtigkeitstheorie trotz Bekenntnis zum Nicht-Idealismus eigentümlicherweise verkennt: die der längst globalisierten kapitalistischen Integration. Es erscheint wirklichkeitsfremd, wenn Miller die Verantwortung für Verteilungsentscheidungen allein bei nationalen Regierungen sieht und sich für die globalen Effekte national getroffener Entscheidungen etwa in der Wirtschaftspolitik blind stellt. Andersherum ist auch der für Miller so schützenswerte Sozialstaat ohne die fortwährende Grenzüberschreitung von Kapital und Arbeit gar nicht denkbar. Nimmt man dies ernst, sind die gerechtigkeitstheorethischen und demokratietheoretischen Implikationen gravierend. Nicht nur würden Verteilungsentscheidungen alle diejenigen berücksichtigen müssen, die von der konkreten Politik eines Staates tatsächlich betroffen sind. Darüber hinaus stellen moderne Nationalstaaten ihrer eigenen gesellschaftsvertraglichen Rechtfertigung nach denen, die von ihren politischen Entscheidungen betroffen sind, bereits ein Mitbestimmungsrecht in Aussicht. Miller schiebt solchen Überlegungen den nationalen Riegel vor, der mit dem Realismus, auf den er sich auch beruft, nur scheinbar kompatibel ist.

Literatur

Arendt, Hannah. Elemente und Urspünge totaler Herrschaft. München: Piper, 2011.

Carens, Joseph. The Ethics of Immigration. New York: Oxford University Press, 2015.

Cassee, Andreas. Globale Bewegungsfreiheit: Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen. Berlin: Suhrkamp, 2016.

Kant, Immanuel. Zum ewigen Frieden. Mit den Passagen zum Völkerrecht und Weltbürgerrecht aus Kants Rechtslehre. Kommentar von Oliver Eberl und Peter Niesen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2011 .

Miller, David. Justice for Earthlings. Essays in Political Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, 2013.

Miller, David. „Einwanderung: Das Argument für Beschränkungen“. In: Andreas Cassee und Anna Goppel (Hg.): Migration und Ethik. Münster: mentis 2012, S. 47-65.

Miller, David. National Responsibility and Global Justice. Oxford: Oxford University Press, 2007.

Miller, David. On Nationality. Oxford: Clarendon Press, 1995.

Nussbaum, Martha. Creating Capabilities. The Human Development Approach. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2011.

Oberman, Kieran. „Immigration as a Human Right“. In: Sarah Fine und Lea Ypi (Hg.): Migration in Political Theory. The Ethics of Movement and Membership. Oxford: Oxford University Press, 2016.

Raz, Joseph. The Morality of Freedom. Oxford: Oxford University Press, 1986.

Risse, Matthias. On Global Justice. Princeton: Princeton University Press, 2012.

Sen, Amartya. Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002.

Walzer, Michael. Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt/Main: Campus, 2014.


  1. Kollektivplurale werden in diesem Text in etwa abwechselnd sowohl in der femininen als auch in der maskulinen Form benutzt, um auf Personen beiden Geschlechts zu verweisen. Sollen tatsächlich ausschließlich Frauen oder Männer gemeint sein, werde ich dies kenntlich machen.

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