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Zeitschrift für philosophische Literatur 6. 1 (2018), 55–65

Stangneth, Bettina: Böses Denken. Hamburg: Rowohlt Verlag 2016. 251 Seiten. [ISBN 978-3-498-06158-6]
Rezensiert von Ringo Rösener (Universität Leipzig)

Mit ihrem Buch Böses Denken will die Philosophin und Autorin Bettina Stangneth dem Vorurteil ihrer eigenen Disziplin begegnen, dass das Denken nichts mit dem Bösen zu tun habe. Darin steckt vor allem eine Kritik an einer akademischen Unbedarftheit, die im Denken — frei nach Goethe — zwar stets das Gute will, obwohl es mitunter doch das Böse schafft (84). In diesem Sinne fragt Stangneth, ob das Denken wirklich so unschuldig sei, wie es gerade jene glauben, die das Denken zu ihrem Beruf gemacht haben. Verbunden sind damit drei Annahmen, die Stangneth kritisiert. Erstens: Denken sei das gute Vermögen, dem triebhaften und damit manchmal bösen Verhalten des Menschen zu begegnen. Zweitens: Die Ursachen jedweden Handelns lägen nur bedingt im Denken. Drittens: Gedankenlose kämen nicht als Täter in Betracht (128). Allen Annahmen widerspricht Stangneth in ihrem lesenswerten Buch. Sie tut das einerseits, indem sie einen allgemein gültigen und an der gesamten Menschheit orientierten Moralbegriff zum Anker ihrer Ausführungen bestimmt. Andererseits rekurriert sie auf einen intersubjektiven Begriff des Denkens, der über eine Differenzierung in praktische oder theoretische Philosophie hinausgeht und einen Dialog über das Denken impliziert.

Stangneth greift in ihrer Analyse auf Kant und Arendt zurück, die in ihren Arbeiten das Denken und das Böse exemplarisch zusammengebracht hätten (21–67, 69–121; vgl. Kant AA IV und VI; Arendt 2012 und 2014). Nach einer darauf folgenden Herleitung des Begriffs „akademisches Böse“ und einer Konkretisierung des Begriffs des Denkens (123–147), legt Stangneth dar, wann ihres Erachtens das Denken akademisch böse wird (148–199) und schließt diesen Teil mit Überlegungen zum bewussten bösartigen Denken ab (201–240). Um Stangneths Argumentation nachvollziehen zu können, soll hier zunächst der Rückgriff auf Kant und Arendt genauer dargestellt werden (I). Daraufhin sollen die ihr wichtigen Ausprägungen des bösen Denkens angeschaut werden (II), um letztlich zu fragen, inwieweit ihre begriffliche Neuschöpfung des „akademischen Bösen“ weiterhelfen kann, das Böse zu verorten, einzugrenzen und im besten Falle zu verhindern (III).

I.

Kant wird zunächst herangezogen, weil er den Begriff des „radikalen Bösen“ prägt (21–25). Radikal, so stellt Stangneth ausdrücklich klar, beziehe sich dabei nicht auf eine rücksichtslose Qualität, wie wir das Adjektiv heute gebrauchen, sondern auf die Wurzelhaftigkeit (radix). In der sinnbildlichen Vorstellung, dass uns etwas wurzelhaft angehört, findet die Argumentation der Autorin ihren Ausgang. Dem Bösen kann man quasi nicht aus dem Weg gehen.

Kant begegnete dieser Feststellung bekanntermaßen mit der Einführung eines Prinzips, dass das Böse in Schach halten soll. Dieses Prinzip – und das ist Stangneth wichtig – funktioniert wie ein „permanentes Notfallprotokoll“ (42). Es ist ihr deshalb wichtig, weil sie mit Kant übereinstimmt, dass wir dem Bösen nicht schlichtweg erliegen, sondern Orientierung suchen, um diesem zu begegnen. Kant habe jedoch festgestellt, dass man sich in der Suche nach Orientierung nicht auf Erfahrungen, Erkenntnisse oder Emotionen verlassen könne. „Wir gehen ständig auf schwankenden Grund und fahren immer nur auf Sicht“ (28). Daraus folgere Kant die Notwendigkeit des Denkens. Dem Bösen sei nur mit einer denkenden Verfahrensweise zu begegnen, die formal immer dieselbe ist und sich gleichzeitig an etwas Allgemeines hält. Der Kategorische Imperativ gibt den Ablauf dieser Verfahrensweise vor, während die Stimme der Vernunft das Vermögen bezeichnet, das Verfahren auch in Gang setzen zu können.

Der kantische Vernunftbegriff wird von Stangneth als Sinn für Stimmigkeit und Unstimmigkeit ausgelegt. Gemeint ist damit die Erfahrung von Stimmigkeit zwischen Selbstbewusstsein und verantwortungsbewusstem, das heißt an der Menschheit orientiertem, Handeln. Bei Stangneth läuft diese Herleitung auf einen universalistischen Moralbegriff hinaus, der in der bewussten Inanspruchnahme der Vernunft reflektiert wird und zur Stimmigkeit führt. Die Frage ist allerdings, ob der kantische Vernunftbegriff nicht von ihr eigenwillig verkürzt und simplifiziert wird. Denn es bleibt unklar, wie Stimmigkeit und Unstimmigkeit bewusst erfahren werden können. Stangneth selbst schreibt, dass man sich gut fühle, wenn „wir nach unseren eigenen Überzeugungen handeln“ (41). Aber ist das nicht gerade der Rekurs auf Emotionen, den Kant ausschließen wollte?

Für Stangneth zeigt sich aber noch ein anderes Problem: Menschen wollen in ihrer Vielseitigkeit und Zerrissenheit mitunter die Stimmigkeit gar nicht herstellen. In diesem Sinne entdeckt sie eine zweite Komponente in der Betrachtung des radikalen Bösen:

‚Radikal Böse‛ ist der Name für die Erkenntnis, dass Menschen nicht nur Wissen erstreben, um sich mit seiner Hilfe in der Welt zurecht zu finden, sondern auch ein taktisches Verhältnis zu ihrem Wissen haben können, also dass wir es nur dann in unserem Handeln berücksichtigen, wenn wir es wollen. (64)

Kant hegte immer die Hoffnung, dass man die Vernunft und damit auch die Idee der Menschheit als einen gültigen Maßstab nicht verlieren könne. Er sei sich sogar sicher gewesen, der Mensch könne nicht absolut böse werden. Gerade das hält Stangneth aber für nicht ausgemacht. Denn der systematische Mord an Millionen von Menschen und die Reaktionen darauf haben gezeigt, dass man die Vernunft zwar nicht los wird, aber diese doch sehr wohl ausblenden könne (63).

Die bewusste Ausschaltung der Vernunft und damit der Verlust des Maßstabs in einer Idee der Menschheit resultiere aus der Verschiebung der Koordinaten der Wirklichkeit. Bekanntlich ist das Hannah Arendt aufgefallen. In ihren Arbeiten zum Totalitarismus verfolgt sie, wie die totale Weltanschauung nicht nur den Zufall abgeschafft hat, sondern die Idee der Menschheit durch die Idee des Volkes ersetzt wurde (78). Auf diese Weise sei auch die Idee von Gut und Böse unter die Räder gekommen. Stangneth stellt dabei Arendts Gedanken in den Vordergrund, dass der Zusammenhang zwischen Denken und Moral aufgekündigt wurde — wie es in einer gleichnamigen Vorlesung Arendts (Arendt 2012) heißt. Im Rückgriff auf Arendts Analysen kommt es somit zum zweiten Herleitungsschritt Stangneths: Während Kant die Verbindung von Denken und Moral aufgezeigt habe und daran festhielte, dass das Denken schon dafür sorge, dass die Menschen moralisch handeln, spüre Arendt gerade der Auflösung dieses Zusammenhangs nach, respektive der Ausschaltung der Vernunft.

Die „Banalität des Bösen“ bezeichne dabei das Aussetzen des Denkens.

Hannah Arendt spricht also von der Banalität des Bösen, wenn demjenigen, der eine Handlung begeht, die ohne jede Frage unmoralisch ist, dennoch diese Handlung als tunlich erscheint, weil ihn die Vernachlässigung des bewussten Denkens blind für die Möglichkeit eines anderen Handelns gemacht hat, also eines Handelns aus guten Gründen. (96f.)

In Stangneths Argumentation hallt dabei immer Kant nach. In der Erklärung guten oder bösen Handelns ist der Maßstab wichtig, an dem man sein Denken ausgerichtet hat. Die

Banalität des Bösen ist die Beschreibung eines Täters, damit also eines konkreten Menschen, der auf seiner Suche nach Orientierung einen Maßstab wählt, der nicht davor schützt, böse Taten zu fördern und mit anderen zu verwirklichen, weil es eben kein Vernunftanspruch ist, den man immer nur im bewussten Denken findet. Stattdessen richtet sich dieser Täter an der Gemeinschaft aus, die zufällig um ihn herum existiert. Er verzichtet also auf die Konsultation der Vernunft und konzentriert sich ganz und gar auf das „Wir“. (105)

In der Konstruktion dieses ominösen „Wir“ gegen die anderen, an der die Philosophie selbst nicht unschuldig gewesen wäre (sofern diese Kategorien wie Boden und Heimat einführte), liege aber auch das eigentliche Problem der Theorie einer „Banalität des Bösen“.

Arendts Banalitätstheorie führt zu einem Problem und damit zum eigentlichen Argument Stangneths. Das „Wir“ ist nämlich nicht beliebig, wie es Arendt anscheinend suggeriert. Mit Blick auf den Nationalsozialismus im Speziellen und auf totalitäre Systeme im Allgemeinen muss mit dem „Wir“ ein künstliches und regelgeleitetes gemeint sein, das sämtliche Kontingenz bewusst ausschalten will. Arendts These ist für die Autorin deshalb nur ein Modell, das Böse zu erklären. Sie zeige einen Zusammenhang von Denken und Moral auf – konkret die Auflösung dieses Zusammenhangs zugunsten eines anderen Maßstabes. Für Stangneth bleibt Arendt aber den Nachweis schuldig, dass der Maßstab selbst nicht beliebig ist, sondern von vornherein auf die Auflösung hinaus will (112). Seltsam ist, das Stangneth Arendts Untersuchung Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft an dieser Stelle nicht in ihre Argumentation einbezieht. Sonst wäre ihr vermutlich aufgefallen, dass auch Arendt wusste, dass das Banale eben nicht in zufälliger Gestalt daherkommt, sondern lange vorbereitet wird (vgl. Arendt 2014). Das ist nicht unbedingt ein Lapsus, sondern dem Aufbau des Buches von Stangneth geschuldet. Denn nur so kann sie jetzt zu ihrem eigentlichen Anliegen kommen: Nicht die Gedankenlosigkeit führt zum Bösen, sondern die Verkehrtheit des Denkens löst es aus:

Wenn die Leistungsfähigkeit des Sinnes für Stimmigkeit und Unstimmigkeit im Selbstverhältnis, also Kants Stimme der Vernunft, davon abhängt, dass wir bewusst denken, dann kann der Mensch sich nicht nur im Einzelfall davon abhalten, Böses zu tun. Sondern er kann sich […] „sogar dagegen konditionieren“. (89)

Zusammenfassend lässt sich also Stangneths Herleitung eines tatsächlich bewussten bösen Denkens folgendermaßen auf den Punkt bringen: Die Autorin bezieht sich auf einen Vernunftbegriff, der an der Idee einer allgemeinen Menschheit orientiert ist und setzt auf einen kantischen universalistischen Moralbegriff. Die von Kant geforderte Aktivität des Denkens, um dem Bösen Einhalt zu bieten, wird mithilfe Hannah Arendts in einem weiteren Schritt als prekär und manipulierbar dargestellt, um im letzten Schritt dem Denken selbst die Möglichkeit des Bösen zuzuschreiben. Damit will Stangneth auf einen Modus des Denkens hinweisen, der jegliche von Kant herkommende Universalität untergräbt. Sie stellt sich somit gegen einen allein positiv verstandenen Begriff des Denkens. Das Problem, dem sich Stangneth im Folgenden widmet, ist böses Denken.

II.

Zunächst zweifelt sie vor allem die naive Haltung an, dass das Denken selbst unschuldig sei. Demnach wäre es Ausdruck eines Vorurteils, Denken führe automatisch zu einem „Licht“ (126). Auch wäre es ein Vorurteil, wenn Denken als ein mitunter folgenloses Nachdenken behandelt werde. Beidem widerspricht die Autorin vehement. Zwei Argumente stützen diesen Widerspruch.

Das erste Argument funktioniert eher historisch, trägt aber auch systematische Züge (126–142). In diesem Argument geht es um die Rolle der Vernunft und die Position, die diese mitunter in der Philosophie und in der Wissenschaft eingenommen habe. Im Nationalsozialismus sei die Vernunft unter die Räder gekommen. Diese sei nämlich nicht mehr als eine innere Stimme wahrgenommen, sondern als ein von außen herangetragenes Manipulationsmittel verunglimpft worden. Die Nazis hätten in einer allgemein gültigen und universalistischen Vernunft einen Trick jüdischer Intellektueller ausgemacht, die sich in ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit auf nichts anderes berufen können, als auf so etwas Abstraktes und schwer zu Begreifendes wie die Vernunft. (Mit dem Preußen Kant sei man da nicht viel besser umgegangen, weil man dessen vernunftbegründete Pflichtverfolgung zum Frondienst abwertete; vgl. 133.).

Dieses historische Argument klagt auch die deutsche Philosophie an. Die Vernunft wäre nämlich durch die Begriffe Heimat und Boden ersetzt worden. Martin Heideggers Verdikt, dass man sich „von der Vergötzung des boden- und machtlosen Denkens“ lossagen müsse, um ein „deutsches Denken“ zu suchen (nach Stangneth, 133), wird von ihr herangezogen, um der Philosophie nochmals deutlich zu machen, dass es ein Genie aus ihrer Mitte war, das die Vernunft an erster Stelle diskreditierte. Die eigentlich „erschreckende Erkenntnis“ ist laut Stangneth aber, dass die bisher unverdächtige Kritik an der Aufklärung als „Reaktion auf die Erfahrung Auschwitz“ ungewollt diese Veräußerlichung fortschreibe (136f.): Das geschehe eben dann, wenn nämlich die Vernunft auch noch nach 1945 als eine äußerliche Ursache herangezogen wird — nur eben diesmal bei der Herleitung des Massenmordens in Gestalt einer Anklage der rationalen Vernunft. Stangneth misstraut allen Kritiken an dem aufklärerischen Vernunftbegriff, weil sie in diesen ein Bekenntnis zu einer allgemein gültigen Stimme der Vernunft vermisst. Ein Nachweis und eine Analyse, wo das stattfindet, bleibt Stangneth erstaunlicherweise schuldig. Es lässt sich nur vermuten, dass damit Adornos und Horkheimers Analyse in der Dialektik der Aufklärung gemeint ist.

Das historische Argument wendet Stangneth systematisch, wenn sie behauptet, dass man dem Bösen den Hof bereitet, so lange man die Vernunft als ein Außen ansieht, das man auch ablehnen kann. Dabei ist sie sich sicher, dass die Vernunft nun mal zum Menschen und einer Idee von Menschheit gehöre wie das Amen in die Kirche:

Der Mensch ist […] Weltbürger nur in dem Sinne, dass er sich überall auf der Welt bewegen kann, weil die Idee einer Orientierung an der Vernunft von der Idee der Menschheit gar nicht zu trennen ist. (142)

Folgt man der Autorin, wird demnach in der Negation der Vernunft auch einer Idee von Menschheit bewusst abgeschworen. Der Weg zum Bösen wird also vorbereitet.

Dem schließt sich ein zweites, eher systematisches, Argument an (143–147), in dem es auch zu einer Eingrenzung des Denkens selbst kommt. Zunächst wäre Denken nicht gleich Denken. Es gäbe zum einen das menschliche Vermögen zu denken. Dieses Vermögen zeichnet prinzipiell alle Menschen aus. Unterschieden wird das Denken jedoch von der Denkungsart. Diese variiert von Mensch zu Mensch. Während also der Prozess des Denkens unangetastet bleibt, plädiert Stangneth für eine Unterscheidung verschiedener Denkungsarten. Damit differenziert sie zwischen einer Denkungsart in Ansehung einer allgemeinen Moral und einer Denkungsart in der Negation dieser allgemeinen Moral (verbunden mit der Negation der Vernunft).

Es sei dabei so, dass die bewusste und somit durchdachte Abweisung der Vernunft oder einer allgemeinen Moral im Angesicht einer Idee von Menschheit denkend zum Bösen führe (146). Mit diesem Argument möchte Stangneth ein neues Kapitel in der Theorie des Bösen aufschlagen. Zur Erinnerung sei nochmals kurz auf Kant und Arendt verwiesen. Kant sieht das Böse in der Bevorzugung menschlicher Triebe und Gefühle, die statt der „denkenden“ Vernunft handlungsleitend werden; Arendt macht das Böse in der kompletten Gedankenlosigkeit aus. Stangneth hingegen zieht das Böse mit ins Denken hinein. Böse sei das – nicht weniger kluge oder systematische – Denken, das einer allgemeinen Moral oder einer Idee einer allgemeinen Menschheit bewusst aus dem Weg geht. Eben weil so ein Denken sogar als eine professionalisierte (d. h. berufsmäßig ausgeführte) Denkungsart nachweisbar ist, die mit allen Qualitäten des Denkens ausgezeichnet und sich selbst bewusst ist, gibt es ein böses Denken. Dieses bewusste und sich selbst als Denken bezeichnendes Arbeiten nennt Stangneth „akademisches Böses“, das sie im Folgenden in drei Ausprägungen charakterisiert. Leider wird weder hier noch später wirklich klar, warum dieses Böse als „akademisch“ bezeichnet wird.

Zunächst greift Stangneth bestimmte Spielweisen der Abstraktion an (148ff.). Gemeint ist damit zum einen die Faszination am Bösen, die sich mitunter unbedarft in der Betrachtung böser (fiktionaler) Taten einstellt und letztlich suggeriere, man lebe in einer heilen Welt. Zum anderen sind abstrakte Gedankenspiele angesprochen, die böse Handlungen zum Gegenstand haben und sich bis ins kleinste Detail in der Rekonstruktion ergötzen. Solche Abstraktionen nennt Stangneth „Ästhetisierungen“ des Denkens (156). Sie kritisiert daran, dass man sich zum Unbeteiligten stilisiert, während das Denken doch eigentlich der Entscheidungsfindung diene und nicht der bloßen Betrachtung. Die Frage ist allerdings, ob Stangneth nicht zu streng ist, gehören doch distanzierte Abstraktionen zum Wesen des akademischen Arbeitens dazu. Selbst Fiktionalisierungen sind eben nicht nur der Faszination geschuldet, sondern ein Modus, das Böse überhaupt zu verarbeiten. Um diesem Typus des „akademischen Bösen“ wirklich auf den Grund zu gehen, ist eine dezidierte Auseinandersetzung mit Beispielen eigentlich notwendig.

Die zweite Ausprägung des akademischen Bösen ist etwas plausibler und setzt am gegenwärtigen Identitätsparadigma an (160ff.). Identität wäre ein neuer Maßstab in einer Welt, die sämtliche Maßstäbe – inklusive der Idee einer allgemeinen Menschheit – über Bord geworfen zu haben scheint. Der Maßstab läge nun in jeder Person selbst und rekurriert auf die Pflicht, mit sich selbst identisch zu sein. Nicht die Stimmigkeit des Selbstbewusstseins mit der Umwelt würde verfolgt, sondern die Stimmigkeit mit dem Selbstbild wird zum zentralen Anker.

Es ist die fatale Folge dieser Denkungsart, dass unter der Forderung, jederzeit mit sich selbst identisch zu sein, auch das als vernünftig erscheinen kann, was als Handlung betrachtet eindeutig unmoralisch ist (165f).

Anders angesagt: Wenn man ein auf Perfektion ausgerichtetes Leben zum Anker seiner Existenz nimmt, dann wird die natürliche Unvollkommenheit schnell zum Feind (167).

Böse wird dieses Beharren auf sich selbst deshalb, weil die Idee der Identität zu einer Verabsolutierung eines Selbstideals führe. In der Verfolgung einer konsequenten Haltung nur zu sich selbst gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen Selbstoptimierungswahn und Selbstmordattentat bzw. zwischen Smartwatch und Bombengürtel (168). Die Sorge um sich und sein Heil führe zum Verlust der anderen und in diesem Sinne schleicht sich ein Vollzugsdenken ein, das letztlich totalitär wäre.

Das Ich-Bewusstein, das immer im Bewusstwerden der anderen seinen Anfang nimmt, definiert hier die Identität als existenzielle Abkehr von den anderen und allem, was das Individuum mit anderen Menschen verbindet. (171)

Trotz dieser wichtigen Kritik an der Identitätssehnsucht erschließt sich nicht, warum das Beharren auf einer schlüssigen und immer durchgehaltenen Identität Denken ist. Ist es nicht viel eher ein irregeleiteter Wille, der die Funktion des Denkens untergräbt?

In der Ausschaltung anderer Meinungen aufgrund einer Verabsolutierung der eigenen zeige sich die dritte Weise des „akademischen Bösen“ (178ff.). Gemeint ist die Stilisierung eines eigenen Mündigseins (oder Selberdenken-Könnens), bei gleichzeitiger Disqualifizierung anderer Meinungen als Fremdbestimmung. „Selberdenken als absoluten Gegensatz von Fremdbestimmung zu definieren, erlaubt es, die Gültigkeit jeder Information allein durch den Aufweis seiner Quelle als Lüge zu markieren.“ (182) Damit stößt Stangneth in ein weiteres gegenwärtiges Problemfeld vor. Angesprochen sind jene Debatten, die keine Debatten mehr sind, sondern vom Ausschluss der anderen leben, um sich selbst in Sicherheit zu wiegen. Bemerkenswert ist Stangneths historischer Vergleich an dieser Stelle: Schon Adolf Eichmann hätte behauptet, dass eben jeder auf seine Weise recht habe (184).

Mit dem Verlust der Austauschfähigkeit gegensätzlicher Meinungen verliere sich nicht nur die Möglichkeit andere Perspektiven kennenzulernen, sondern auch die Orientierung an einer allgemeineren Moral. Denn in dieser Weise werde als Moral nur das akzeptiert, was man selbst für diese hält – da ist sich Stangneth sicher (190). Weshalb das wiederum „akademisch“ ist, bleibt abermals unklar. Sicher, die Beispiele auf die Stangneth rekurriert, kommen aus dem akademischen Raum. So können Forderungen nach „Safe Spaces“ oder Redeverbote zum Ausblenden anderer Meinungen führen. Aber das Beharren auf einer eigenen Meinung, ohne sich anderen stellen zu wollen, findet doch auch ganz woanders statt (z. B. in der Ausladung von unliebsamen Gesprächspartnern in Talkshows oder im Blockieren und Löschen von Kommentaren auf Facebook, sofern sie der „eigenen Meinung“ widersprechen). Auch ist Stangneths Erklärung dieser Ausblendungsstrategien nachgerade falsch. Sie sieht diese ursächlich in der medialen Überforderung der gegenwärtigen Jugend sowie in früh erfahrenen Angriffen, wie z. B. Mobbing im Internet. Aber ist es nicht so, dass Kinder heutzutage – zumindest westeuropäische – beschützter und behüteter aufwachsen als das jemals der Fall gewesen ist? Man könnte die von Stangneth angesprochenen Probleme auch anders erklären, als Ergebnis einer Erziehungsweise, die aus einem Schutzbedürfnis heraus Kinder der Fähigkeit beraubt, mit Kontingenz, anderen Menschen und überhaupt mit den Gefahren in der Welt umzugehen. Das ist aber nicht akademisch böse, sondern schlicht und ergreifend fahrlässige Erziehung.

Im letzten Teil des Buches, der leider nicht als ein Kapitel abgetrennt ist, widmet sich Stangneth dem bösartigen Denken. Dabei bezieht sie sich auf eine Abstufung des Bösen bei Kant: Die Arten menschlicher Verwerfungen lassen sich in Schwäche (fragilitas), Unredlichkeit (impuritas) und Verderbheit (courruptio, perversitas) differenzieren (56). Erst auf der letzten Stufe der Verderbtheit ist der Mensch schlicht bösartig - man könnte auch sagen, im vollen Bewusstsein böse – und zeigt das, was man vermutlich als wirklich böses Denken bezeichnen würde. Es ist bedauerlich, dass Stangneth einen Umweg über das „akademische Böse“ genommen hat, um erst auf den letzten dreißig Seiten zu ihrem Thema zu kommen. Auf diesen schildert sie nämlich tatsächlich Strategien, die man ohne Frage als bewusstes und gedachtes Böse bezeichnen muss.

Eine Strategie ist jene Argumentation, die die Nazis anwendeten, um für keine ihrer noch so abscheulichen Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden: Der schamlose Rückzug auf die eigene Unfähigkeit und Unwissenheit (208ff.). Die zweite Strategie ist die Einfühlung in den Schmerz der anderen, um diese in sadistischer Art und Weise zu quälen, zu foltern und gegebenenfalls zu töten (220ff.). Die dritte Strategie (223ff.) ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, die automatisch ausschließend wirken und

von denen man genau weiß, dass sie Fehlentwicklungen hervorbringen, weil sie [wiederum; RR] gezielt Denkungsarten hervorbringen, die ihrerseits fehlgeleitet sind […] (228).

Diese reichen von der Schaffung und Kontrolle von Eintrittsbarrieren im Bildungsbereich bis hin zur Ghettoisierung und Einteilung in voneinander separierte Gemeinschaften.

Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Bettina Stangneth diese Strategien genauer analysiert hätte. Denn in den davor getätigten Beschreibungen eines „akademischen Bösen“ als charakteristische Züge eines bösen Denkens – die etwa ein Drittel des Buches einnehmen – verliert die Autorin das eigentlich böse Denken aus dem Blick. Die beschriebenen Ausprägungen des „akademischen Bösen“ sind mitunter auch gar nicht dem Denken zuzuordnen, sondern dem egoistischen Wollen, das ohne Frage böse Resultate hervorbringt. Bei den Strategien jedoch, die auf diesen letzten Seiten abgehandelt werden, tritt tatsächlich so etwas wie ein bewusstes Böses in Erscheinung. Dort wird nämlich wirklich böse gedacht.

III.

Abschließend lässt sich Folgendes sagen: Das Ziel des Buches ist die Rettung einer Moral, die auf die Idee der Menschheit gestützt ist. Stangneth legt mit Kant einen universalistischen Maßstab an, der sie weit trägt. In ihrer Analyse ist sie mitunter sehr genau und hat nachvollziehbar dargestellt, was es bedeutet diesen Maßstab zu verlieren: der Verlust eines Bewusstseins für die anderen. In diesem Sinne tauchen historische und gegenwärtige Beispiele auf, die den philosophischen Gedankengang erhellen und begreifbar machen. Dabei ist Stangneths Anliegen, sich auf eine universalistische und auf eine an der allgemeinen Menschheit orientierte Moral zu beziehen, durchweg plausibel. Erstaunt nimmt man vor allem die ungewöhnlichen Verbindungen wahr, die die Autorin zieht. Diese sind nicht nur interessant, sondern auch anregend.

Unklar bleibt, wo die Qualität des bösen Denkens zu suchen ist. Es leuchtet ein, dass Denken nicht nur Gutes hervorbringt, auch wenn manch einer das gern hätte. Der Zusammenhang von Denken und Moral, den Stangneth verständlich mit Kant und Arendt aufzeigt, verliert sich aber in der Betrachtung dessen, was sie das „akademische Böse“ nennt. Denn in den Ausprägungen, die natürlich wichtige Probleme benennen, stellt sich den Leser_innen schon die Frage, ob damit wirklich Formen des Denkens angesprochen sind. Oder kritisiert Stangneth nicht eher Praktiken, die auch – aber nicht ausschließlich – in der akademischen Welt auftreten? Allein der Begriff des „akademischen Bösen“ wirkt konstruiert und scheint eine Anklage zu sein, die den Akademien und Universitäten eine Einnistung in einen Elfenbeinturm vorwirft. Aber das ist leider nichts Neues und sollte vielleicht auch nicht als böses Denken bezeichnet werden. Wirklich böses Denken schildert Stangneth erst auf den letzten dreißig Seiten. Dabei aber hätte sie nicht stehen bleiben dürfen, damit hätte sie beginnen müssen. Eine reichhaltige Analyse des bösartigen bewussten Denkens fehlt daher nach wie vor. Über das Böse wissen wir somit trotz des ohne Frage lesenswerten Buches von Bettina Stangneth leider immer noch zu wenig.

Literatur:

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. München: Piper, [1955] 2014.

Arendt, Hannah: „Über den Zusammenhang von Denken und Moral“, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1. Herausgegeben von Ursula Ludz, 128–155. München: Piper, [1961] 2012.

Kant, Immanuel (AA VI): „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, in: *Gesammelte Schriften**. Bd. 6: Abt. 1, Werke*. Berlin: Preußische Akademie der Wissenschaften, [1793] 1914.

Immanuel Kant (AA IV): „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“, in: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Abt. 1, Werke. Berlin: Preußische Akademie der Wissenschaften, [1785] 1903.

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