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Seiwert, Elvira: Enthüllungen. Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Springe: zu Klampen 2017. 294 Seiten. [978-3-86674-547-6]

Rezensiert von Martin Mettin (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)

Prägnant fasst der Untertitel den Gegenstand des Buches: eine Theorie der musikalischen Interpretation, also der Aufführung musikalischer Werke, und zwar im Zeitalter von Aufnahmetechnik und massenmedialer Verbreitung sowie Verfügbarkeit solcher Einspielungen. Kaum überraschend, dass für diese gleichermaßen musikwissenschaftlich wie philosophisch angelegte Studie die einschlägigen Texte Theodor W. Adornos zentrale Referenzen liefern, im Besonderen das Fragment gebliebene und erst 2001 aus dem Nachlass herausgegebene Projekt Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Doch handelt es sich beim vorliegenden Buch von Elvira Seiwert keineswegs um sekundierende Literatur, die vornehmlich jene Notizen und Entwürfe zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfügt, das Ergebnis sodann in die musiktheoretische Abteilung der Adorno-Schriften einreiht, um schließlich einen weiteren Forschungsgegenstand im Gebiet der Adorno-studies etabliert zu haben. Vielmehr geht es hier um ein eminent sachhaltiges Problem, das sich kursorisch folgendermaßen formulieren ließe: Musik als sinnlich erklingende Kunst bedarf der Aufführung, mithin ihrer Interpretation durch Musiker. Während bis zur Erfindung der Aufnahmetechnik dafür jedes Werk Mal um Mal neu gespielt werden musste, suggerieren die technischen Innovationen, mit ihnen ließen sich die Interpretationsanforderungen relativ simpel lösen: etwa, indem eine ein für alle Male gültige Interpretation der Werke eingespielt und damit für die Nachwelt konserviert wird; oder gar, indem digitale Rechenprogramme den Musikern ihre Aufgabe gleich ganz aus der Hand nehmen, wobei der Notentext vermittelst Computer direkt in Klang umgewandelt wird, jeden Notenwert und Takt exakt und metrisch korrekt wiedergebend. Eine Idee, die so neu nicht ist, wie Seiwert eindrücklich gleich im ersten Kapitel zeigt. Bereits in romantischer Epoche nämlich hatte E.T.A. Hoffmann schriftstellerisch gezeigt, dass selbst eine vermeintlich perfekte Automaten-Musik das Problem musikalischer Interpretation nicht lösen kann.

Seiwerts Versuch, das vertrackte und zuweilen widersprüchliche Verhältnis von Aufführung und Werk auszuloten, sprengt die disziplinären Grenzen. Geht es etwa um Fragen wie: ‚Was ist musikalische Zeit?' oder: ‚Was hat es mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs ‚Interpretation' auf sich?', so ist die zuständige Musikwissenschaft auf philosophische Hilfe angewiesen, auf Begriffsklärung genauso wie auf Deutung. Zugleich bricht das Buch die akademische Form auf, ist angereichert und versetzt mit Manuskriptauszügen zahlreicher Rundfunksendungen der Autorin, die sich zwar in anderem Medium, aber im gleichen Problemfeld bewegen (Stichwort: Musikarchiv). Hier kommt der Rundfunk selbst zu Wort, seine Potentiale genauso wie seine kulturindustriellen Sackgassen. Bei letzteren denke man durchaus an im Digitalen herumgeisternde Archive (youtube, spotify etc., auch wenn sie im Buch nicht eigens genannt werden), in denen man zwar beinahe jedes beliebige Musikstück wird finden können. Doch hier wie im staatlich finanzierten Rundfunk, um den es Seiwert oftmals geht, und in den meisten anderen Fällen folgt die Auswahl der Interpretationen kaum dem Kriterium, ob in ihnen der Gehalt eines Werkes tatsächlich hörbar wird. Eher orientiert sie sich an den Fetischen des Musikbetriebs: großen Namen, hohen Produktionskosten und eingängig gewordenen Spielweisen, die angenehm zu hören sind, denn es soll erbaulich klingen, nicht irritierend. Das Buch spürt der Kulturindustrie somit nicht dort nach, wo sie vermeintlich hingehört, nämlich im Populären; hingegen -- und durchaus provokant -- in den heiligen Hallen der Hochkultur. Und schließlich im Wissenschaftsbetrieb selbst, der sich über den populären Rundfunk erhaben wähnt. Auf die (falsche) Alternative „Universität versus Massenmedium" (13), also Radio, antwortet Seiwert: „Die vorliegende Arbeit nun denkt sich diesbezüglich vermittelnd" (13), sie beabsichtigt nämlich „selber medial vorzugehen" (13). Im Verfahren von „Kommentar, Konstellation, Montage" (16) nähert sie sich von ganz verschiedenen Seiten ihrem Gegenstand an. Neben jenen Rundfunkmanuskripten und den musikphilosophischen Erwägungen Adornos sind es insbesondere die Texte Walter Benjamins, welche die Fährten für die Auseinandersetzung legen. Im Folgenden seien einige solcher Konstellationen aufgegriffen.

Mode oder Modernität?

In seinen Notizen zu den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1954, die in das Umfeld seiner Reproduktionstheorie gehören, schreibt Adorno:

Gegen hermetische Absonderung neuer Musik, keine spezialistische Sekte. Dadurch alte museal[.] Versuch dies zu durchbrechen, alte aktualisieren. Nicht modernistisch aufputzen, sondern fragen: was können wir über die traditionelle Musik an der neuen lernen. Dies Thema des Kurses. (Adorno 2001, 320)

Adorno wollte mit seinem Kurs bei der jungen Komponistengeneration im Nachkriegsdeutschland ein Bewusstsein dafür wecken, wo musikalische ‚Avantgarde' aufzusuchen wäre: nicht in der sich ständig überbietenden Technisierung der Neuen Musik wie etwa im Serialismus, der am Ende alles Ausdruckartige und Subjekthafte tilgen muss; sondern das Gesuchte wäre in derjenigen Musik zu finden, die das musikalische Material ihrer Zeit so behandelt, dass die inneren Widersprüche solchen Materials zutage treten und ästhetisch erfahrbar werden. Modern also ist nicht immer notwendigerweise dasjenige, was gerade in Mode ist, also für sensationell gehalten und als Hype gehandelt wird. Modern ist ein Problembewusstsein und ein feinsinniger Umgang damit.

Adornos Notiz könnte gleichsam als ein Motto Seiwerts Buch vorangestellt sein, denn hier geht es gleichfalls um das inverse Verhältnis von Altem und Aktualität in fortschrittlicher Musik. Besonders frappant muss diese Unterbrechung und Umkehrung einer gewöhnlichen Zeitvorstellung, die immer nur das Gegenwärtige (= Zeitgenössische) als aktuell gelten lässt, im Medium des Rundfunks wirken; ist es doch Tendenz der Radiotechnik, via Live-Übertragung eine unmittelbare Teilhabe am Tagesgeschehen zu beschwören. Weitaus schwieriger hingegen, die Aufmerksamkeit auf tatsächlich Neues im Vergangenen zu lenken, das durch technische Entwicklung überholt und historisch erledigt erscheint. Einige der im Buch dokumentierten Sendungen Aus dem Musikarchiv wollen gerade das bewerkstelligen.

Maßstab der Modernität einer Interpretation wäre insofern, ob sie das Aktualitätspotential auch sogenannter alter Musik zum Klingen bringt; nicht, ob die technischen Mittel noch ‚auf der Höhe der Zeit' sind:

Nun, ›historische Aufnahmen‹, das klingt nach Patina und Edelrost respektive Rauschen und Knistern -- dem laut gewordenen Raunen der Vergangenheit; sie gelten als ein Steckenpferd, das, glaubt man dem allgemeinen Vorurteil, verschrobene Sonderlinge oder Spezialisten reiten, die allerdings hinter dem Rauschen und Knistern eine Aktualität, vielleicht gar Modernität wittern, die es vermöchten, besagten Edelrost wegzusprengen. (47)

In der zitierten Sendung ist es eine Einspielung Rudolf Serkins aus dem Jahr 1928, welche die Aktualität der Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs (BWV 988) auf die Probe stellt, und nicht die legändere, aber viel jüngere Aufnahme von Glenn Gould aus dem Jahr 1954. „Hat es nicht etwas Schockierendes, verehrter Hörer, wenn Vergangenes derart schlackenlos und brillant sich präsentiert? Wenn Vergangenheit, der mit technischen Mitteln dazu verholfen wird, sich auf der Höhe unserer Zeit zeigt?" (47)

Sukzessive ‚enthüllen' -- dem Titel des Buches entsprechend -- Modelle wie das soeben angedeutete, worum es geht: die Kunst der musikalischen Interpretation ist keine sekundäre und vernachlässigbare Veranstaltung zum angeblich beharrlichen Wesen der Kompositionen. Fragen der Aufführung verweisen vielmehr auf innermusikalische, in den Werken selbst liegende Probleme. Was erst durch das Aufkommen neuer Medien so recht auf die Tagesordnung tritt, liegt womöglich schon sehr viel länger im Wesen der Musik. Programmatisch fragt Seiwert:

Was aber bedeuteten die dazumal neuen Reproduktions-Medien für sie? wurden tatsächlich neue Qualitäten geschaffen? wurde in die Verhältnisse des Originals eingegriffen? Respektive: was wäre das ›Original‹ der Musik selbst schon im Moment ihrer originären -- nicht erst im Zustand ihrer technischen -- Reproduktion? Fragen wie diese -- Benjamin hatte sie für Film und Fotografie formuliert -- ließen sich, versuchsweise, der Musik applizieren. (11)

Die Engführung von Adorno und Benjamin ausgerechnet in solchen Belangen mag vielleicht manchen wundern, gilt in weiten Teilen der Sekundärliteratur doch, dass in Sachen Medientechnik Adorno und Benjamin nachgerade kontradiktorische Positionen vertreten hätten. Doch Seiwert wendet sich instruktiv und mit guten Argumenten gegen das Klischee vom Modeautoren Benjamin als kulturindustrieaffinem Apologeten neuer Medialität genauso wie gegen die falsche Vorstellung eines kulturkonservativen, seine normativen Urteile über Musik willkürlich setzenden Adorno. Dabei streben die Überlegungen weg von Benjamins berüchtigtem Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und hin zur verborgeneren Medientheorie in dessen Texten über Sprache.

Benjamins Spur: Übersetzung der Bilder in Musik

Bei Benjamin heißt es: „Übersetzung ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugehen auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen." (Benjamin GS IV, 9) Und zurecht konstatiert Seiwert: „Adorno hat diese kategorische Bestimmung der Übersetzung gleichsam experimentierend in den Entwurf seiner Reproduktionstheorie übernommen." (149) Zwar mag es zunächst den Anschein erwecken, Adorno hätte „den weitreichenden Übersetzungs-Begriff Benjamins eingekürzt, hätte ›Übersetzung‹ auf ihren landläufigen Begriff" (149) wieder restringiert, also ausschließlich als die Übertragung eines sprachlichen Inhalts in eine andere Landessprache verstanden. Doch lässt sich vielfach zeigen, dass ein Grundgedanke Benjamins auch Adornos Reproduktionstheorie zu eigen ist: dass nämlich nicht nur innerhalb der Sprache(n), sondern auch zwischen den sinnlichen Sphären der Erfahrungswelt und der Sprache jeweils Übersetzungsarbeit geleistet wird. Bezogen auf vorliegenden Gegenstand meint dies Folgendes: Als ein Kriterium von Kunstmusik kann gelten, dass sie notierte Komposition und somit nicht nur Klangereignis, sondern gleichermaßen Notentext ist. Das ist die Sprachähnlichkeit von Musik, auch wenn Musik und Sprache zugleich von einander getrennt sind (vgl. Adorno, GS 16). In schriftlich fixierter Sprache bzw. in notierter Komposition wird dabei die akustisch-sinnliche Erfahrungswelt in eine optisch-repräsentierende, aufspeichernde Schriftbildlichkeit übertragen und insofern der konkrete und flüchtige, akustische Sinneseindruck in die allgemeine Sphäre der Sprache überführt; dergestalt jedoch, dass selbst noch die abstrakt-allgemeine Schriftsprache Spuren sinnlicher Erfahrungen in sich trägt, auch wenn diese nun im optischen Medium, nicht mehr im akustischen liegen. Nicht Identität, sondern eine Ähnlichkeitsbeziehung waltet demzufolge zwischen jenen verschiedenen Sphären der Erfahrungswelt. Benjamin nannte das „unsinnliche Ähnlichkeit" (Benjamin, GS II, 207).

In diesem Kontext erinnert Seiwert an Benjamins Konzept der dialektischen Bilder und fasst nun auch das Notenbild als ein solches:

Schrift (und Sprache) der Notenbilder -- als »dialektische« genommen --, hieße [...] ihre einstige Beweglichkeit zu innervieren, die sie zu einem Potential stets akuter Aktualität macht, welches, solange die Verhältnisse sind wie sie sind, vom Veralten jedenfalls kaum bedroht sind. (154)

Das aber ist das Unerhörte an Adornos Reproduktionstheorie sowie an Seiwerts Auseinandersetzung mit ihr: Zersetzung des Irrglaubens, eine Komposition sei für sich genommen fertig, statisch, der Geschichte enthoben; sei bloße Spielanleitung für eine gleichsam mechanische Reproduktion. Im Inneren der Werke selbst -- sofern sie dem musikalischen Material ihrer Zeit gerecht werden -- liegt etwas stets noch Unfertiges eingeschlossen. Aus sich heraus fordern sie zur permanenten Aktualisierung auf, wollen immer wieder von Neuem interpretiert werden.

Daß die »Bedeutung der Notation« geschichtlich, jede Schicht des Werkes für Geschichte offen, daß es der Horizont dialektischer Reproduktion ist, vor dem der Beweis geführt, Geschichte vorgeführt wird: eine solche invariantenaverse und identitätskritische Theorie wäre einmal einer Musiktheorie zu konfrontieren, wie sie sich immer mal wieder und immer wieder neu erfindet. Und sich etwa in folgender These ausspricht: »Die oberste Funktion des Notationssystems liegt darin, die Identität des Werks durch die Geschichte seiner flüchtigen Aufführungen hindurch zu sichern.« [M]ögen die Aufführungen flüchtig sein, so ist es das Werk doch mit ihnen. (188)

In Adornos Reproduktionstheorie heißt es diesbezüglich: „Die wahre Reproduktion ist die Nachahmung eines nicht vorhandenen Originals" (Adorno 2001, 269).

Zum richtigen Lesen der Werke

Wenn aber der musikalische Text keine „Anweisung zur Aufführung, keine Fixierung der Vorstellung, sondern die notwendig fragmentarische, lückenhafte, der Interpretation bis zur endlichen Konvergenz bedürftige Notation eines Objektiven" (Adorno 2001, 11) ist, dann ergeben sich gerade hieraus die Anforderungen musikalischer Interpretation. „Wie also gelesen wird, ist kaum einerlei", folgert Seiwert entsprechend, wobei „Musik als Sprache ihren Platz hat in jenem »Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten«, einem Konservatorium gleichsam mimetischer Impulse; ihre ›Aussprache‹ sich von daher reguliert." (91) Dies wäre das Gebot richtigen Lesens für die aufführenden Interpreten von Musik, die einen treffenden Ausdruck für den Notentext zu finden haben. Die Aufgabe des musikalischen Übersetzers ließe sich mithin folgendermaßen bestimmen: „Reproduzierende Lektüre, ansetzend am Kleinsten, Unscheinbarsten, [...] nach und nach aufs Ganze gehen" (98).

Überaus verdienstvoll macht die Arbeit Seiwerts diese Aufgabe modellhaft hörbar. So werden die fragmentarischen Überlegungen Adornos zur musikalischen Reproduktion nicht nur um ihren Benjaminschen Subtext ergänzt und damit verständlich gemacht. Zugleich konfrontiert Seiwert die allgemeine Theorie mit dem ästhetischen Material, stellt erstere damit auf die Probe, indem sie Glücksfälle genauso wie Irrpfade der Interpretationsgeschichte aufspürt. Eines solcher Interpretationsprobleme ist dasjenige des richtigen Zeitmaßes: Mit welcher Geschwindigkeit soll ein Stück gespielt werden, wie ist mit den Tempoangaben umzugehen? Seiwert schließt sich hier einem Plädoyer Adornos an, die Musik häufig viel rascher zu spielen, als es im Konzertbetrieb üblich ist. Grund dafür ist aber nicht die unkritische Feier eines instrumentalen Virtuosentums, vielmehr die innere Anforderung von Musik, als zusammenhängendes Ganzes zu erklingen statt vorbuchstabiert zu werden. Um das flüchtige Wesen eines musikalischen Werkes zu erfassen, bedarf es -- mit Benjamin gesprochen -- einer „Schnelligkeit im Lesen", denn solches Begreifen untersteht „einem notwendigen Tempo oder vielmehr einem kritischen Augenblicke" (Benjamin, GS II, 209). Doch wird diese Anforderung in der Aufführungspraxis nicht selten missachtet; auffällig etwa, dass Ludwig van Beethovens Werke kaum je in dem Metrum gespielt werden, das ausdrücklich den Noten zu entnehmen ist, hingegen oftmals in „weihesam-öder Langsamkeit" (107). Schützenhilfe bekommt solche sinnentstellende Aufführungspraxis auch aus den Reihen der Musikwissenschaft: „1989 aber, als ausdrücklichen Widerspruch, formuliert Grete Wehmeyer ihre These vom »zu schnellen«, in der Konsequenz zu halbierenden Tempo." (106) Ganz plastisch erfahrbar wird der Unterschied zwischen verzerrender Langsamkeit und erhellender Geschwindigkeit in der Montage verschiedener Aufnahmen. Auch hier ist es wieder eine der Sendungen Aus dem Musikarchiv, die jenes Problem dem denkenden Ohr präsentiert, diesmal anhand von Beethovens Violinkonzert in D-Dur, op. 61. Seiwerts Kommentar zu einer der Einspielungen transportiert diesen Höreindruck, bringt ihn auf den Begriff:

So wird [...] bis heute (man höre die Aufnahme mit Karajan und Anne-Sophie Mutter und staune über das präzis getroffene halbe Tempo), der zweite Satz [...] insistent nach Art des weihevollen Hymnus zelebriert. Bei einem solchen Tempo fällt der Satz auseinander, wird zu einem Rätsel, das nicht beabsichtigt ist; die komponierten Details bleiben vereinzelt und einander fremd, anstatt daß sie, ihrem Sinn nach, aufeinander bezogen wären. Unmittelbar ohrenfällig wird das bei Gelegenheit jenes völlig überraschend auftauchenden durchbrochenen Streicher-Pizzicatos im Mittelteil des zweiten Satzes. Beethoven hat es von langer Hand vorbereitet, -- durch die bewegungsgleichen Achtelfiguren im Orchester zu Satzbeginn. Nur -- weder hatte Beethoven einen so weit reichenden Arm, noch hat das Orchester einen derart langen Atem, daß es, im Schneckentempo, zur fälligen Vermittlung kommen könnte. Das Motiv erscheint als Gottesgeschenk -- soll heißen: als ein, ohne Vergangenheit, vom Himmel hoch herkommendes. Was es nicht ist. (111 f.)

Dass solche Verwirrungen der Zeitverhältnisse kein Zufall sind, vielmehr bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen entspringen, wird an vielen Stellen des Buchs thematisch. So korrespondiert etwa eine dergestalt entwicklungslose musikalische Zeit den Zeitverhältnissen kapitalistischer (sprich: warenproduzierender) Produktionsverhältnisse. Sie ist die Zeit des „Immer-wieder-von-vorn-Anfangen[s] und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. [...] Ein Auf-der-Stelle-Treten und Nicht-vom-Fleck-Kommen -- von nun an bis in Ewigkeit." (162)

Buch als Medium fürs Ohr

Nun wurde soeben gesagt, dass Zusammenhänge wie diese in Seiwerts Buch hörbar werden. Einerseits ist das naturgemäß nicht wörtlich zutreffend. Das Buch liegt als reiner Text vor, ein Mitschnitt der Radiosendungen (allesamt für den SWR produziert) ist ihm nicht beigefügt. Das stellt den Leser vor das Problem, selbst auf die Suche nach den zitierten Interpretationen der Werke gehen zu müssen, um sich einen tatsächlichen Höreindruck vom musikalischen Material zu verschaffen. Auch wenn man glauben könnte, das Internet habe alles in der Welt ‚zugänglich' gemacht, glückt das leider nur selten. Betrüblich zudem, dass selbst beim SWR keine der Sendungen in der öffentlichen Mediathek zu erreichen ist.

Andererseits jedoch handelt es sich bei vorliegender Arbeit tatsächlich um so etwas wie ein Hör-Buch (im übertragenen Sinne), was das Fehlen der Tonspur aufwiegt. Nicht nur gelingt es den detaillierten Beschreibungen verschiedener musikalischer Interpretationen, die Problem- wie Glücksfälle von Musik vor dem inneren Ohr anklingen zu lassen. Darüber hinaus ist der Sprachstil des Werkes selbst einer für kritische Ohren. Die Rhythmik des Textes regt Gedanken und Folgefragen an, die über das Musik-Thema hinausweisen, beispielweise: was wohl das richtige Tempo beim Lesen von philosophischer Literatur wäre. Zudem fordert die Textform mit ihren Brüchen, Einschüben und Themen- wie Genrewechseln zum konzentrierten Mitdenken auf, lenkt so die Aufmerksamkeit auf das Schwierige hinter allzu geläufigen Selbstverständlichkeiten.

Schließlich sind Seiwerts Enthüllungen in zahlreichen Passagen dann doch Hörbuch im beinahe wörtlichen Sinn: Die dokumentierten Rundfunksendungen erinnern an eine Radiopraxis, die inzwischen fast vergessen scheint. Kaum noch sind Sendungen zum Thema mit einer solchen Komplexität anzutreffen, die Möglichkeiten der Hörtechnik derart verständig ausschöpfend. Selbst ohne Tonspur vermitteln die Texte dabei das ungeheure Erkenntnispotential einer richtig eingesetzten Montagetechnik, die mit ihren Kontrasten, Ergänzungen und Überlagerungen einen Gegenstand vielseitig entfalten kann. Im Modus der „Betriebsstörung" (198) erinnern die Sendungen an die Konzerte Michael Gielens, der -- ebenfalls montierend -- die Erwartungen des klassischen Konzertpublikums zu sabotieren vermochte. Kein Zufall, dass als ein letzter Modellfall im Buch Gielens Konzertarrangements untersucht werden.

Den gelegentlichen Erwägungen Adornos, angesichts einer vom Fetischcharakter okkupierten, sinnenstellenden Aufführungspraxis selbiger doch den Rücken zuzukehren und sich dem stillen Lesen der Musik zu widmen, stellt Seiwert mit ihren Enthüllungen einen emphatischen Zuspruch fürs sinnhafte wie sinnliche Erklingenlassen von Musik zur Seite. Eine Schule fürs Ohr, deren Lektüre unbedingt zu empfehlen ist.

Literatur

Adorno, Theodor W. Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion [1927--1959], in: Nachgelassene Schriften, Abt. I, Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001.

Adorno, Theodor W. „Fragment über Musik und Sprache" [1956], in: Gesammelte Schriften, Band 16. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997, 251--256. (Zitiert mit der Sigle GS 16.)

Benjamin, Walter. „Lehre vom Ähnlichen" [1933], in: Gesammelte Schriften, Band II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977, 204--210. (Zitiert mit der Sigle GS II.)

Benjamin, Walter. „Die Aufgabe des Übersetzers" [1921], in: Gesammelte Schriften, Band IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1972, 9--21. (Zitiert mit der Sigle GS IV.)

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