Rössler, Beate: Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben. Berlin: Suhrkamp 2017. 443 Seiten. [ISBN: 978-3-518-58698-3]
Rezensiert von Florian Heusinger von Waldegge (Eberhard Karls Universität Tübingen)
Das Konzept der Autonomie gehört spätestens seit der Aufklärung zu den wichtigsten Selbstzuschreibungen des Menschen und damit unweigerlich zu den Grundbegriffen modernen Philosophierens. Seine „ungeheure Sogwirkung“ erklärt sich v.a. dadurch, dass sich über ihn das spannungsreiche Verhältnis von individuellem Selbst und gesellschaftlicher Ordnung modellieren lässt (vgl. Honneth 2013, 36) – und für eben dieses Spannungsverhältnis interessiert sich auch die Amsterdamer Philosophieprofessorin Beate Rössler in ihrem Buch Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben. Ebenso ungewöhnlich wie erfrischend an Rösslers Buch ist dabei die Art und Weise, wie sie sich mit dem Thema auseinandersetzt. Denn es wendet sich nicht nur an Fachphilosoph*innen, sondern auch an interessierte Laien.
Um beide Gruppen gleichermaßen ansprechen zu können, entwirft Rössler nicht erst eine Theorie, die sie dann auf Alltagssituationen anwendet, vielmehr geht sie den umgekehrten Weg und zeigt in neun Kapiteln verschiedene lebensweltliche Probleme, Kontexte und Möglichkeiten des Scheiterns von Autonomie auf, um „unter der Hand“ eine Theorie persönlicher Autonomie zu entwickeln (27). Dabei beleuchtet sie das Spannungsverhältnis zwischen unserem normativen Selbstverständnis und dem individuellen Streben nach Selbstbestimmung einerseits und das Spannungsverhältnis zwischen unseren alltäglichen Erfahrungen und unserer „Verankerung“ in sozialen Beziehungen andererseits (14) nicht nur aus verschiedenen lebensweltlichen Perspektiven, sondern auch anhand vieler anschaulicher Beispiele aus der Literatur. Denn der gelebte autonome oder nicht-autonome Alltag, so Rössler, hat seine eigene Phänomenologie, die durch Schriftsteller*innen manchmal besser auf den Punkt gebracht wird, als durch Philosoph*innen (21). Dabei vertritt sie zwei Hauptthesen: Erstens hat Autonomie „Wert und Bedeutung“ für uns, weil sie konstitutiv für die Selbst- und Weltaneignung ist (ebd.). Zweitens ist Autonomie eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für ein gelungenes Leben (27).
Im ersten Kapitel unternimmt Rössler eine begriffliche Annäherung an das Konzept der Autonomie, durch die sie es sowohl in den historischen Kontext, als auch in die aktuelle Forschungsdiskussion einordnet. Dabei versteht sie individuelle Autonomie als das Vermögen, „sich selbst Gesetze geben zu können, nach denen wir handeln und die wir selbst für richtig halten“ (31). Rössler bemerkt dabei zu Recht, dass diese Idee auf Kant zurückgeht – obgleich es ihm um die Quelle der Verpflichtung und nicht um ein „Für-Richtig-Halten“ geht. In Anschluss an Kant hält es Rössler zwar für plausibel, allen Personen Autonomie kategorisch zuzuschreiben, im Gegensatz zu Kant müsse Autonomie aber auch als „graduierbare Fähigkeit“ zugeschrieben werden können (34). Nach einer kurzen Diskussion des Zusammenhangs von Autonomie und positiven und negativen Freiheitsrechten geht sie deshalb anschließend zu der zentralen Frage über, „welche individuellen Eigenschaften oder Fähigkeiten Personen zugeschrieben werden müssen, damit sie mehr oder weniger autonom genannt werden können, und welche sozialen Bedingungen für diese Zuschreibung nötig sind“ (45).
Vor dem Hintergrund der feministischen Kritik an individualistischen und patriarchalischen Autonomiekonzepten und den einschlägigen Diskussionen um die soziale Bedingtheit individueller Akteure stellt Rössler dabei die Janusköpfigkeit der Autonomie heraus. Denn sie wird durch politische und soziale Strukturen sowohl erst ermöglicht als auch mitunter behindert oder eingeschränkt (56). Gleichzeitig weist sie die beiden dominierenden Theorietypen innerhalb der philosophischen Forschung zum Autonomiebegriff zurück: Prozedurale Ansätze sind hinsichtlich der Überzeugungen, Präferenzen und Handlungsgründe der Akteure neutral. Demzufolge ist man genau dann autonom, wenn man diese in einer angemessenen Art und Weise gebildet oder reflektiert hat, bzw. wenn man sich mit ihnen identifiziert (vgl. Mackenzie und Stoljar 2000, 13–19). Substanzielle Ansätze dagegen behaupten, dass autonome Akteure die Fähigkeit haben müssen, die richtigen von den falschen Überzeugungen, Präferenzen und Handlungsgründen zu unterscheiden, um entsprechend handeln und sich Autonomie aneignen zu können (19–21). Rössler weist die dualistische Entgegensetzung beider Alternativen zurück und argumentiert im Folgenden für einen „schwachen Perfektionismus“, nach dem „ein sinnvolles Angebot an Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten notwendig ist, um Personen Autonomie zusprechen zu können.” (52)
Autonomie bedeutet mindestens, dass wir aus guten, eigenen, auf Reflexion beruhenden Gründen handeln können, dass wir über die Herkunft unserer Wünsche, Überzeugungen und Pläne, wie überhaupt über den Sinn unserer Vorhaben, nachdenken können, dass wir unseren eigenen Wertvorstellungen folgen und dass wir eingebunden sind in Beziehungen der Anerkennung. (57)
Um diesen Autonomiebegriff zu entwickeln, untersucht Rössler im zweiten Kapitel zunächst das Verhältnis von Ambivalenz und Autonomie, das auch in der Forschungsdiskussion immer wieder thematisiert wird. Gegen Theoretiker*innen wie Harry Frankfurt macht sie dabei anhand von alltäglichen und literarischen Beispielen geltend, dass Ambivalenzen und Entscheidungsunsicherheiten als Ausdruck der Komplexität des Selbst zu verstehen sind (64–65) und dass sich Autonomie und Ambivalenz nicht ausschließen. Vielmehr könne Autonomie als vernünftiger Umgang mit der Unvereinbarkeit der eigenen Wünsche, Überlegungen und Gründe verstanden werden (92–93).
Wesentlich problematischer ist die Argumentation des anschließenden Kapitels, in dem Rössler herausarbeiten will, dass Autonomie konstitutiv für den Sinn des Lebens und deshalb intrinsisch wertvoll ist (99). Dabei beansprucht sie zu zeigen, dass Autonomie nicht auf interne Strukturen der Willensbildung reduzierbar ist und dass sich der Sinn des Lebens nicht in subjektiver Wunschbefriedigung erschöpft (108). Mithilfe von Robert Nozicks berühmtem Beispiel der Erlebnismaschine argumentiert sie erstens, dass wir nicht nur an (im hedonistischen Sinne) guten Erfahrungen, sondern auch an Erfahrungen, die auf Wahrheit beruhen, interessiert sind. Bei der Wahl zwischen einem falschen, simulierten, glücklichen und einem wahren, auf Realität beruhenden, unglücklichen Leben, so Rössler, entscheiden sich die meisten von uns ohne langes Nachdenken für das Letztere. Das Problem an dieser Argumentation ist, dass es sich hierbei um ein verkapptes Mehrheitsargument handelt, nach dem dasjenige gut oder richtig ist, was die Meisten für gut oder richtig halten. Damit jedoch ist dem Relativismus schlecht beizukommen. Zweitens argumentiert Rössler gegen subjektivistische Positionen aus einer „rationalen [und] begründungsorientierten Perspektive“: Denn auch Frankfurtianer*innen, so Rössler, müssen begründen können, was sie für liebenswert, verfolgenswert oder sinnvoll erachten. Dabei sieht sie zwar richtig, dass Fragen nach dem sinnvollen Leben in allgemeinere Narrative eingebettet sind, das aber spricht erstens noch nicht gegen „Formen des Nonkognitivismus [und] Wollensrelativismus” (110–111). Zweitens behauptet Rössler, dass es sich bei Fragen nach dem Sinn des Lebens gerade nicht um Wahrheitsfragen, sondern um Fragen der Behauptbarkeit handelt (112). Damit begibt sie sich jedoch anscheinend in einen Widerspruch zu ihrer vorherigen Argumentation. Darüber hinaus wird nicht ganz klar, wie sie ihre schwach substanzielle Theorie von Autonomie im vermeintlichen Spannungsfeld von Subjektivismus und metaphysischem Realismus verortet (120). Die Behauptung jedenfalls, dass Menschen ihre „eigenen Projekte“ verfolgen müssen, um ihrem Leben Sinn zu geben – etwa Bücher schreiben, Autos entwerfen oder Schüler*innen unterrichten – und dass sich diese Projekte angesichts des modernen Pluralismus und in Ermangelung eines objektiven Halts nur vor dem Hintergrund eines intersubjektiv geteilten Sinnhorizonts als selbstbestimmte und sinnvolle Projekte beschrieben werden können (117), lässt einige Fragen offen, wie noch genauer gezeigt wird.
Im darauffolgenden Kapitel über den Zusammenhang von Autonomie, Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung skizziert Rössler die philosophische Diskussion um das Problem der Selbsterkenntnis in aller gebotenen Kürze um anschließend die These zu vertreten, dass wir nur dann ein autonomes Leben führen können, wenn wir wissen, was wir denken und wollen bzw. wer wir sind oder sein wollen (152). Neben dem Fall der Selbsttäuschung diskutiert sie dabei den Fall der epistemischen Verunsicherung anhand von Paul Brensons Interpretation des Filmklassikers Das Haus der Lady Alquist („Gaslight“). Dabei wird der Zusammenhang von Selbsterkenntnis, Selbstachtung und Autonomie anschaulich herausgearbeitet (158). Besonders interessant ist jedoch die anschließend aufgegriffene Diskussion um das Verhältnis von Autonomie und Selbsterkenntnis im Kontext von Self-Tracking-Technologien wie Lifelogs. Rössler argumentiert, dass diese nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer bloß quantitativen Datenerfassung eher zur Selbstentfremdung als zur Selbstbestimmung beitragen. Denn sie würden es erstens erschweren unterschiedliche Narrative vergangener Ereignisse von sich zu entwerfen und zweitens einen verdinglichten Blick von außen implizieren (173).
Diese Diskussion wird auch im fünften Kapitel weitergeführt, das mit Bezug auf Tagebücher und Blogs traditionelle und neue Technologien der Selbstbeobachtung reflektiert. Anhand ausgewählter Tagebucheinträge von Franz Kafka, Sylvia Plath, Max Frisch, Virginia Woolf und George Eliot beansprucht Rössler dabei zu zeigen, dass das Tagebuchschreiben eine Artikulation der Suche nach dem selbstbestimmten Leben ist und dass das Tagebuch als Gerüst für die eigene Autonomie verstanden werden kann, insofern es dabei hilft, das eigene Leben besser zu verstehen und zu leben (214). Das gilt prinzipiell auch für das „tagebuchähnliche Bloggen“ (220) wie Rössler am Beispiel von Wolfang Herrendorfs Arbeit und Struktur darlegt. Allerdings sieht sie bei weitem nicht immer eine Kontinuität von analogen und digitalen Praktiken der Selbstvergewisserung und Selbstbeobachtung. Die von Rössler aufgeworfenen Fragen, ob und wie sich der Blick auf uns durch technologische Transformationen ändert, gehört wahrscheinlich zu den spannendsten philosophischen Problemen der Digitalisierung. Rössler deutet zwar an, zwischen einem technophoben Kulturpessimismus und einer naiv-optimistischen Sichtweise vermitteln zu wollen, doch leider führt sie die Diskussion an dieser Stelle nicht weiter und schließt das Kapitel mit der unkontroversen Feststellung, dass es in den neuen Medien auch um Selbstbestimmung geht (230).
Im sechsten Kapitel thematisiert Rössler die Bedeutung des Wählens und die Bedingungen autonomen Entscheidens. Autonomie, so argumentiert sie dabei, ist eine normative Fähigkeit und eine Vorbedingung des guten Lebens, „als mit ihr bestimmte Lebensweisen ausgeschlossen werden, die sich entweder selbst prinzipiell und strukturell der Autonomie entziehen […]“ (238). Dabei differenziert sie in ihren Vorüberlegungen weiter zwischen dem glücklichen und dem sinnvollen Leben, bleibt in ihren Ausführungen allerdings oft vage (240–244). Entscheidend für das autonome bzw. gute Leben sei, dass wir die Wahl „zwischen guten möglichen Optionen [und] Projekten“ haben (250). Dabei betont Rössler, dass die Wahl selbst wertvoll ist und es nicht darauf ankommt, wie entschieden wird. Eine solche Wahl wird zwar durch die Identität der wählenden Person und durch den sozialen Kontext der Wahl festgelegt, doch ist sie laut Rössler genau dann autonom, wenn man sich mit den gewählten Projekten und Beziehungen identifiziert und wenn man auch angesichts widriger Umstände loyal zu ihnen steht.
Im siebenten Kapitel beansprucht sie zu zeigen, dass Privatheit die Bedingung der Möglichkeit eines autonomen Lebens ist, insofern der Begriff die Zugangskontrolle zu Daten, Wohnungen, Entscheidungen oder Handlungsweisen beschreibt (285). Rössler unterscheidet dabei zwischen informationeller Privatheit (als Kontrolle über Daten und Informationen), dezisionaler Privatheit (Kontrolle über Handlungen und Entscheidungen) und lokaler Privatheit (Kontrolle über den (häuslichen) Rückzugsraum). Dabei geht sie zunächst näher auf die informationelle Privatheit ein, die sie aufgrund staatlicher Überwachung durch Geheimdienste, Konsumentenüberwachung und freiwillige Herausgabe bzw. das Teilen von Daten bedroht sieht (293–294). Obwohl Rössler betont sich nicht an einem Social-Media-Bashing beteiligen zu wollen, greift sie dabei die auch in den empirischen Wissenschaften viel diskutierte These auf, dass die Nutzung und die Architektur Sozialer Netzwerkseiten zu einer Homogenisierung und Ökonomisierung von sozialen Beziehungen führen könnten (vgl. Vorderer u.a. 2015). Leider vertieft sie diese spannende Diskussion an dieser Stelle nicht weiter, sodass ihr Warnen vor Autonomieverlusten und einer tendenziellen Einebnung von „Loyalitäten, Parteilichkeiten, Vertrauen [und] Engagement“ (300) an dieser Stelle etwas pauschal erscheint – zumal sie auf mögliche Gegenargumente selbst hinweist. Die nach wie vor relevanten Diskussionen um die feministische Kritik an traditionellen Vorstellungen von Privatheit und den Wert der Privatheit für demokratische Gesellschaften werden am Ende des Kapitels nur noch kursorisch abgehandelt.
Im achten Kapitel bindet Rössler die aufgezeigten Schwierigkeiten zurück an die philosophischen Diskussionen um den Autonomiebegriff, indem sie die These von den sozialen Bedingungen der Autonomie erneut aufnimmt. Dabei möchte sie zeigen, dass Autonomie nicht unter allen möglichen sozialen und politischen Umständen gelebt werden kann, sondern nur unter solchen, die die Befriedigung von Elementarbedürfnissen garantieren. Um die sozialen Bedingungen der Autonomie herauszuarbeiten, nimmt sie zunächst die Diskussion um den kantischen Autonomiebegriff auf. Dabei weist sie Hegels Kritik an Kants formalem und individualistischen Autonomieverständnis in der Interpretation von Axel Honneth mit Recht zurück, deutet die wichtige Pointe der Diskussion jedoch nur an: Denn Hegelinterpret*innen wie Terry Pinkard oder Robert Pippin haben darauf hingewiesen, dass Kants (vermeintlich) legislativer Autonomiebegriff als „Selbstgesetzgebung“ zum „Paradox der Autonomie“ führt (vgl. dazu ausführlich Khurana u. a. 2011). Trotzdem ist Rössler in der Behauptung Recht zu geben, dass sich allein über das kantische Modell nicht zeigen lässt, wie die sozialen Bedingungen von Autonomie bestimmt werden müssen (331).
Um den sozial-relationalen Charakter der Autonomie herauszuarbeiten, greift sie in Anschluss an Robert Noggle das Beispiel der unterdrückten Olivia („Opressed Olivia“) auf. Olivia wurde (durch gewöhnliche Erziehungsmethoden) so großgezogen, dass sie die sexistischen Einstellungen einer patriarchalischen Gesellschaft übernimmt. Im Erwachsenenalter gehört die feste Überzeugung an die natürliche Unterordnung der Frau ebenso zu ihrem gelebten Rollenbild, wie die tiefste Bestrebung Hausfrau zu sein. Man könnte prima facie behaupten, Olivia sei aufgrund einer ideologischen Erziehung und Gesellschaft nicht in der Lage, ein autonomes Leben zu führen (337). Rössler hingegen differenziert hier weiter, indem sie den Begriff der adaptierten Präferenzen aus der Forschungsdiskussion aufgreift. Denn er erklärt, warum Mitglieder unterdrückter Gruppen Präferenzen ausbilden, die die ungerechten Strukturen, unter denen sie leiden, nicht verhindern, sondern reproduzieren. Gegen Theoretiker*innen wie Natalie Stoljar argumentiert sie dabei, dass adaptierte Präferenzen nicht per se autonomieverhindernd sind. Schließlich kann man, so Rössler, in unterschiedlichen Hinsichten und Graden autonom sein (344). Deshalb sei es ebenfalls möglich, Olivia nichtautonome Präferenzen zuzuschreiben, ohne ihr jegliche Autonomie absprechen zu müssen. Vertreter*innen substantieller Autonomiebegriffe hält sie dabei vor, einen zu anspruchsvollen Autonomiebegriff zu verwenden, der mit dem alltäglichen Leben nichts mehr zu tun hat: Schließlich müssten sie aufgrund der noch immer bestehenden patriarchalischen Strukturen allen (Haus-)Frauen ihre Autonomie absprechen. Rössler hingegen argumentiert, dass auch die unterdrückte Olivia ein sinnvolles und partiell autonomes Leben führen kann, sofern sie eigene Projekte verfolgt und in ausreichend vielen Hinsichten ihres Lebens aus eigenen guten Gründen handelt (347). Dabei unterscheidet sie zwischen „guten Gründen”, die den Prozess des Nachdenkens und Überlegens fördern und unterstützen und „ideologischen Gründen“, die eben dies verhindern (346).
Im abschließenden neunten Kapitel verteidigt Rössler den von ihr entwickelten Autonomiebegriff gegen skeptische Einwände. In Anschluss an Peter Strawson beansprucht sie dabei zunächst zu zeigen, dass unser Verständnis eines selbstbestimmten Lebens nicht durch die Neurowissenschaft oder den physikalischen Determinismus bedroht werden kann. Dabei will sie die These, dass Autonomie eine angenehme und nützliche Illusion sei, zurückweisen, ohne den Determinismus zu widerlegen (369). Zwar macht sie in dem Zusammenhang zu Recht auf die „Unhintergehbarkeit und Unaufgebbarkeit unserer moralischen Praktiken“ (375) aufmerksam, die komplexe philosophische Debatte um die Freiheit des Willens und den „naturgesetzlichen Determinismus“ (369) wird dabei jedoch lediglich in Fußnoten angedeutet. Es bleibt daher fraglich, warum Rössler das Problem aufnimmt, wenn sie sich nicht ernsthaft mit der Gegenposition auseinandersetzen will. Daran anschließend handelt sie noch den „gesellschaftlichen Determinismus“ (377) ab, um trotz der sozialen Bedingtheit des Handelns einen Spielraum für Autonomie und Freiheit aufzuweisen. Am Beispiel impliziter Vorurteile beansprucht sie zu zeigen, dass sich gesellschaftliche Strukturen gegen autonome Handlungen und Entscheidungen durchsetzen können – ohne sie im Ganzen zu verhindern (384). Die anschließende Frage nach der moralischen Verantwortlichkeit und das Verhältnis von individueller und institutioneller Verantwortung wird ebenfalls nicht mehr ausführlich diskutiert.
Die hier skizzierte Argumentation zeigt, dass Beate Rössler ohne Frage ein spannendes und längst überfälliges Buch geschrieben hat. Spannend ist es, weil sie die gegenwärtige Relevanz eines klassischen philosophischen Themas pointiert aufzeigt. Überfällig ist es, weil es zeigt, dass diese Relevanz nicht nur hinsichtlich abstrakter Forschungsdiskussionen besteht. Philosophische Überlegungen wie diejenigen Rösslers sind ganz im Gegenteil wichtig für das persönliche und gesellschaftliche Selbstverständnis und damit auch für das individuelle und politische Handeln. Allerdings merkt man dem Buch auch die Schwierigkeit eines doppelten Anspruchs an, für Philosoph*innen und Laien gleichermaßen zu schreiben und dabei einen adäquaten Autonomiebegriff vor dem Hintergrund möglichst vielseitiger, aktueller und lebensrelevanter Beispiele zu gewinnen.
Das jedoch führt dazu, dass Rössler bisweilen von Jane Austen zu Hendrik Ibsen springt, nur um anschließend noch zu erwähnen, dass ein weiterer Aspekt des Problems der Selbsttäuschung auch in Woody Allens Film Hannah und ihre Schwestern aufgezeigt wird (140–144). Wie bereits mehrfach angedeutet wurde, wirkt auch das inhaltliche Vorgehen manchmal etwas überhastet. So etwa, wenn sie auf wenigen Seiten das Verhältnis von Autonomie zu diskriminierenden Rollenbildern, Alltagsrassismus, der Verweigerung einer Staatsbürgerschaft aus religiösen Gründen oder dem Film Das Leben der Anderen abhandelt (352–361). Auf diese Weise gehen an manchen Stellen des Buches die argumentative Stringenz und die begriffliche Präzision etwas verloren.
So spricht Rössler neben dem autonomen Leben (269) und der autonomen Wahl (277) auch von Autonomie als normativer Fähigkeit (237) oder als Eigenschaft von Personen (272). Aber wenn es sich bei Autonomie um eine (im sozialen Kontext) gelernte Fähigkeit oder (wie bei Kant) um eine Eigenschaft handelt, wie ist sie dann graduell zuschreibbar? Ferner argumentiert Rössler, dass ein adäquater Autonomiebegriff unserer alltäglichen Intuition entsprechen muss. Aber was ist mit der „feministischen Intuition“, die die von Rössler kritisierte Natalie Stoljar betont (dies. 2000)? Denn wenn der unterdrückten Olivia trotz ihrer vielen und prägenden adaptierten Präferenzen ein autonomes Leben attestiert wird, verliert der Autonomiebegriff dann nicht auch sein kritisches Potential? Und schließlich: Wie kann zwischen den adaptierten und den eigenen Präferenzen bzw. zwischen den guten Gründen und den ideologischen Gründen unterschieden werden? Denn wenn es keinen „objektiven Halt”, sondern nur „intersubjektiv geteilte Sinnhorizonte“ gibt, könnte die unterdrückte Olivia argumentieren, dass nicht sie, sondern Beate Rössler aufgrund ihrer ideologischen Erziehung die adaptierten Präferenzen hat.
Zwar sprechen all diese Probleme nicht abschließend gegen die Argumente Rösslers, sie zeigen aber, dass es an einigen Stellen besser gewesen wäre, sich auf einzelne Aspekte der Spannung zwischen unserem normativen Selbstverständnis und unseren alltäglichen Erfahrungen zu beschränken und diese dafür ausführlicher abzuhandeln. Ob der Selbsteinschätzung Rösslers Recht zu geben ist, dass in ihrem Buch alle grundsätzlichen Angriffe auf die Möglichkeit und Wirklichkeit der Autonomie aus dem Weg geräumt sind (393), bleibt damit gerade aus philosophischer Perspektive mehr als fraglich. Außer Frage steht dagegen, dass es sich auch für Laien zum Nach-, Mit- und Weiterdenken empfiehlt.
Literatur
Honneth, Axel. Das Recht der Freiheit: Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2013.
Khurana, Thomas, und Christoph Menke (Hg.). Paradoxien der Autonomie. Freiheit und Gesetz I. Berlin: August, 2011.
Mackenzie, Catriona, und Natalie Stoljar. „Introduction: Autonomy Refigured“. In Relational Autonomy: Feminist Perspectives on Automony, Agency, and the Social Self, hg. von Catriona Mackenzie und Natalie Stoljar, 3–31. New York/Oxford: Oxford University Press, 2000.
Stoljar, Natalie. „Autonomy and the Feminist Intuition“. In Relational Autonomy: Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, hg. von Catriona Mackenzie und Natalie Stoljar, 94–111. New York/Oxford: Oxford University Press, 2000.
Vorderer, Peter, Christoph Klimmt, Diana Rieger et al. „Der mediatisierte Lebenswandel: Permanently online, permanently connected“. Publizistik 60.3 (2015), 259–76. doi:10.1007/s11616-015-0239-3.
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