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Möller, Kolja: Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen. Bielefeld: Transcript 2015. 244 Seiten. [978-3-8376-3093-0].

Rezensiert von Sabine Müller-Mall (TU Dresden)

Könnte es zu Beginn des Jahres 2017 schon wieder überholt sein, nach der Verfasstheit des Transnationalen zu fragen? Zeigen die Nationalstaaten sich nicht in einer Weise wiedererstarkt, die jede These von Verfassungselementen auf transnationalen politisch-juridischen Ebenen unplausibel werden lässt? Der Brexit und das sich in vielerlei Hinsicht neu konstituierende Trump-Amerika, die veränderten Verfassungen von Polen und Ungarn, gegenwärtige Krisenerfahrungen in Europa, die in jüngster Zeit wieder längst überkommen geglaubte Hoffnungen auf und Versprechen von nationalstaatlichen Grenzen ins Zentrum politischer Diskurse gespült haben – alle diese Beispiele könnten als Hinweise darauf gelesen werden, dass eine 2015 erschienene Monographie, die sich mit der Frage nach dem Konstitutionellen in der transnationalen Sphäre beschäftigt, möglicherweise schon ein gutes Jahr nach ihrem Erscheinen wieder aus der Zeit gefallen ist.

Es könnte allerdings auch eine ganz andere Lesart in Betracht kommen: eine, die einen relevanten Zusammenhang der Diskussionen um Konstitutionalisierungen im Transnationalen und jener um das Wiedererstarken des Nationalstaats offenlegen kann. Sie ergibt sich, wenn die gegenwärtigen Krisen ebenso wie das Problem transnationaler Konstitutionalisierung als echte Verfassungsfragen und nicht als bloße Pathologien populistisch geprägter Wahlkampagnen oder als Digitalisierungs- bzw. Globalisierungseffekt betrachtet werden.

Was heißt das: echte Verfassungsfragen? Für die genannten Fälle zeichnen sich echte Verfassungsfragen dadurch aus, dass sie das Verhältnis von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik verhandeln und nicht bloß hinnehmen. Und insofern, als sich beide Diskussionen, jene um die transnationale Konstitutionalisierung wie jene um das Wiedererstarken des Nationalstaats, als (wenngleich sehr verschiedene) Versionen, das Verhältnis von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik zu befragen, lesen lassen, ergibt sich ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt: die (echte) Verfassungsfrage. Während transnationale Konstitutionalisierung als eine verfassungstheoretische Weise gesehen werden kann, Probleme der Rückbindung transnationaler Herrschaftsausübung an einen pouvoir constituant formulierbar zu machen, können die Diskussionen und politischen Agenden um ein Wiedererstarken des Nationalstaats als Versuche gelesen werden, diese erste Frage durch Marginalisierung obsolet werden zu lassen. In beiden Fällen geht es um die Aushandlung des Zusammenhangs von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik unter der Bedingung, dass die territoriale Bindung oder Lösung dieses Verhältnisses konstitutiv für diesen Zusammenhang ist.

Entlang genau dieses Verhältnisses rekonstruiert Kolja Möllers Monographie Formwandel der Verfassung die Möglichkeit, Konstitutionalisierung in der transnationalen Sphäre zu denken. Die Rekonstruktion geht von der Beobachtung aus, dass sich auch in der Weltgesellschaft – die für Möller im Anschluss an systemtheoretische Ansätze Bezugspunkt und Referenzgröße der transnationalen Verfasstheit darstellt (49–51) – ein Widerspruch von demokratischer und herrschaftlicher Verfassung zeigt.

Die eine Traditionslinie des Konstitutionalismus generiert im Grunde zwei kollidierende Subverfassungen: eine Verfassung der Herrschaftsausübung und eine Verfassung der Herrschaftskritik. (26, Herv. i. Orig.)

Dieser Widerspruch, darauf laufen die fein gesponnenen Überlegungen der Studie hinaus, sei für die gegenwärtige Situation nicht mehr über das „Imaginäre der Volkssouveränität, das noch für Marx, Maus, Habermas und den späten Lefort den Horizont markiert“ (207), zu entspannen. Denn für die „fragmentierte Hegemoniekonstellation der Weltgesellschaft“ (207) findet sich einfach kein Volk, dessen konstituierende Macht sich als verfassungsgebende Gewalt denken ließe (207). Vielmehr, so lautet der Vorschlag (vor allem, aber nicht nur im Anschluss an Lefort), müsste die konstituierende Macht des Volkes als in eine „destituierende“ Macht übergehend gedacht werden, die durch „gegenhegemoniale Kommunikationsstrukturen“ (202) auf Dauer ausgeübt werden könne. Damit zeigt sich ein Verständnis von demokratischer Verfassung als „Institutionalisierung des Herrschaftskonflikts“ (von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik), „in der die Seite der Herrschaftskritik das Privileg besitzt, die andere Seite zurückzunehmen“ 201f.). Es ist diese Rekonstruktion einer Institutionalisierung des Herrschaftskonflikts – wobei die Seite der Herrschaftskritik durch eine destituierende Macht ausgeübt wird –, die erlaubt, demokratische Verfasstheit „auch auf Ordnungsbildungen jenseits des Nationalstaates [zu] übertragen“ (201f.). Denn in dieser Version findet die „demokratische Konstitutionalisierung […] ihre Orientierungspunkte nicht in einer übergreifenden Weltverfassung“, sondern der Regimestruktur (dazu 62–73) ihrer Herrschaftsausübung entsprechen eben „gegenhegemoniale Kommunikationsstrukturen“ und nicht die einzelnen Bürger*innen (202).

In dieser Formulierung zeigt sich, nebenbei bemerkt, weshalb die Konstruktion einer destituierenden (negativen) Macht als Legitimationsgrundlage demokratischer Verfasstheit in diesem Ansatz gerade nicht mit dem Selbstverständnis gegenwärtiger rechtspopulistischer Bewegungen als Gegenmächte demokratisch entkoppelter Herrschaftsausübung kurzgeschlossen werden darf: Die Berufung auf das ‚Volk‘ des Rechtspopulismus meint eine abzählbare Menge von bestimmten Bürger*innen. Sie meint weder das Imaginäre noch gegenhegemoniale Strukturen im Möllerschen Sinne – denn sie ist zwar ‚dagegen‘, aber nicht in jener auf die Herrschaftsausübung bezugnehmenden Weise, die erst geeignet ist, den Herrschaftskonflikt auf Dauer zu stellen und bei Möller Verfassung gerade definiert.

Wie aber rekonstruiert sich der titelgebende „Formwandel der Verfassung“ im Einzelnen? Der „Formwandel“ des Konstitutionalismus in der transnationalen Konstellation bildet Annahme und Grundlage der Überlegungen, nicht den Fluchtpunkt. Er wird nicht abgeleitet, sondern als zwangsläufig vorausgesetzt, um der Gefahr zu entgehen,

dass mit der Annahme von konstitutionellen Strukturmerkmalen gleichzeitig davon ausgegangen wird, dass die Normativität des demokratischen Rechtstaats in den transnationalen Raum übertragbar ist und nur in disaggregierter Form verwirklicht wird (20).

Möller kann auf diese Weise ein Problem vermeiden, dem sich viele Ansätze etwa eines ‚globalen Konstitutionalismus‘ aussetzen: das Konstitutionelle aus materiellen Ähnlichkeiten verrechtlichter Strukturen einfach auf kurzem Wege abzuleiten und so in zahlreichen überstaatlichen Strukturen wiederzufinden.

Mit dem Begriff des Formwandels, der gegenwärtig in Bezug auf Veränderungen demokratischer Strukturen eine Konjunktur erfährt,[^1] gerät allerdings auch eine notwendige Folgefrage ins Spiel, die im Verlauf der Argumentation nicht ohne weiteres, sondern erst durch den gesamten argumentativen Bogen zu beantworten ist: Wenn sämtliche Veränderungen der am Konstitutionalismus beteiligten Gegenmächte, die Deterritorialisierung der verfassten Strukturen und die Lösung von nationalstaatlichen Sphären, wenn alle diese Wandlungsprozesse die Form der Verfassung betreffen, welche ‚bleibenden‘ Aspekte erlauben dann, in allen Fällen von Verfassung zu sprechen? In Möllers Rekonstruktion ist es die „Institutionalisierung des Herrschaftskonflikts“ (202), die in Form der Etablierung destituierender Macht erlaubt, demokratische Verfasstheit auf die Sphäre des Transnationalen zu übertragen. Genau dieser institutionalisierte Konflikt von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik prägt aber bereits den Marxschen, zur Grundlage der Arbeit herangezogenen (21–27) Verfassungsbegriff. Möller löst das ‚formale‘ Problem des Formbegriffs schließlich überzeugend – unter Formwandel versteht der Autor,

dass ein Veränderungsprozess stattfindet, der bestimmte Strukturmerkmale des Konstitutionalismus in die Weltgesellschaft fortschreibt. Diese werden aber so grundlegend transformiert, dass man von einer anderen Form des Konstitutionalismus ausgehen muss (30).

Die neue Form der Verfassung ergibt sich dann durch die grundlegende Transformation des Konzepts konstituierender Macht in ein Konzept destituierender Macht, die Konstitution des Konstitutionellen aus dem Konflikt zwischen Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik aber bleibt bestehen.

Der argumentative Weg dahin setzt zentral an der systemtheoretischen These, „Gesellschaft ist heute immer Weltgesellschaft“ (49) an, die aber einer „hegemonietheoretischen Umschrift“ (82) unterzogen wird: Im Anschluss an Mouffe/Laclaus postmarxistische Hegemonietheorie fasst Möller den „Übergang zur Weltgesellschaft als fragmentierte Hegemoniekonstellation“ (88, Herv. i. Orig.). Diese zeichnet sich allerdings nicht allein durch „bloße Vielfalt“ aus, sondern: „[s]ubstantielle Programme werden in einen höherrangigen Status gehoben. Damit sind sie der Befragbarkeit weitgehend entzogen“ (106). In diesem Entzug der Befragbarkeit zeigt sich jenes Verfassungsproblem, das schließlich durch das Konzept destituierender Macht behoben werden soll: antagonistische Konfliktverhältnisse könnten nicht mehr in Verhältnisse der Gegnerschaft umgearbeitet werden (106).

Zusammenfassend wird der Formwandel des Konstitutionalismus also anhand von drei Begriffen konturiert: Regimeverfassungen, Substantialisierung, Rückkehr des Antagonismus (106–114). Dabei ist es vor allem der weltgesellschaftliche Ausgangspunkt in der speziellen Version des Regimeverfassungsdenkens, der die vorausgesetzte und von Marx abgeleitete „gegenseitige Verwiesenheit von Verfassung und Gesellschaft“ (22) für den vorgelegten Ansatz durchführt.

Bevor dieser Formwandel des Konstitutionalismus aber auf seine demokratischen Defizite bzw. Anknüpfungspunkte (um diese zu beheben) hin befragt wird, zieht Möller noch ein Kapitel in die Untersuchung ein, das sich mit einer kritischen Analyse zeitgenössischer Verfassungstheorien beschäftigt. Im Wesentlichen werden zwei prominente Theoriegruppen daraufhin untersucht, ob sie den Konstellationen transnationalisierter Verfasstheit gerecht werden können: Jene Ansätze, die sich unter der Frage/These nach der „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ zusammenfinden, und jene, die von einem „transnationalen gesellschaftlichen Konstitutionalismus“ (153) ausgehen, deren symmetrisch angeordnete Schwächen in konzisen Lektüren aufgezeigt werden. Einerseits verliere die längst „Realität“ gewordene Konstitutionalisierung des Völkerrechts die (welt-)gesellschaftliche Rückbindung an die „fragmentierte Hegemoniekonstellation“ aus dem Blick und könne zentrale Aspekte transnationaler Konstitutionalisierung nicht behandeln; andererseits scheitere der transnationale gesellschaftliche Konstitutionalismus daran, „den Widerspruch zwischen demokratischer und herrschaftlicher Verfassung präsent zu halten“ (153), obwohl er den Formwandel der Verfassung berücksichtige.

Für Möllers Ansatz, der den Formwandel der Verfassung ja ebenso wie die fragmentierte Hegemoniekonstellation voraussetzt, bleibt im vierten Teil der Arbeit die Aufgabe, zu entwickeln, wie die im Übergang zur Weltgesellschaft entstandenen demokratischen Defizite aufzulösen seien:

Deshalb schlägt der vierte Teil prognostische Überlegungen zum Problem der demokratischen Verfassung vor. Die Aussichten sind dabei düster. Bisher sind diejenigen großen Geschichtszeichen und radikaldemokratischen Verfassungsrevolutionen, wie sie Marx in der Französischen Revolution für die bürgerliche Gesellschaft ausgemacht hat, in der Weltgesellschaft ausgeblieben (31).

Der eingangs schon beschriebene Weg zur Auflösung der demokratischen Defizite bedarf deshalb eines dem Formwandel der Verfassung vergleichbaren grundlegenden Wandlungsprozesses: Er greift in der vorliegenden Arbeit auf die Konzeption destituierender Macht zurück und entspricht insofern einem „Formwandel des Demokratieprinzips‘“ (179). „Der Formwandel betrifft nicht nur die Seite des Konstitutionalismus als Herrschaftsform. Auch die andere, demokratische Seite muss den Formwandel anerkennen“ (179). Diesen Anspruch löst das Konzept der Destitution ein – Destitution soll die „Regime“ der „postnationalen Konstellation“ „von substantiellen Projekten und Zwecksetzungen […] befreien“ (179). Daran anknüpfend soll die Vorstellung transnationaler Demokratie ihre Urszene umschreiben: Nicht mehr die bürgerliche Revolution, die das Gründungsmoment eines souveränen, selbstbestimmten Volkes beschreibt, sondern „Perioden von Verfassungskämpfen langer Dauer“, illustriert durch den „Konflikt zwischen Patriziern und Plebejern in der römischen Republik“, sollen das Paradigma bilden (180).

Indem die Untersuchung einen – für die transnationale Konstellation notwendigen und unhintergehbaren – Weg aufzeigt, das Konstitutionelle aus dieser Modellvorstellung der bürgerlichen Revolution als Gründungsmoment herauszulösen, gelingt es, einen Blick auf die veränderte Verfassung einer nicht mehr nur durch Nationalstaaten vorstrukturierten Welt zu beschreiben, der über viele bestehende Ansätze hinausweist. Die Perspektive kommt ohne das Imaginäre der Volkssouveränität aus (207), das für die transnationale Welt schlicht nicht analog denkbar ist. Genau genommen geht Möllers Buch auch über seinen eigenen Titel hinaus. Wenn der Konflikt von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik auf Dauer gestellt wird, indem konstituierende in destituierende Macht übergeht, dann haben wir es nicht nur mit einer anderen Form von Verfassung zu tun, sondern mit einer grundsätzlich anderen Antwort auf die Verfassungsfrage: Während Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik sich in der nationalstaatlichen Verfassung entsprechen können, und die Verfassungsfrage sich dann auf die immer neue Aushandlung eines beschreibbaren Verhältnisses bezieht, verläuft sie für die fragmentierte, transnationale Konstellation auf fundamental anderen Wegen. Hier müssen Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik nämlich – schon um die Verfassungsfrage, die Frage nach ihrem Verhältnis, überhaupt stellen zu können – immer neu aufeinander bezogen werden. Destitution kann Herrschaftsausübung aus vielen verschiedenen Richtungen kritisieren – Konstitution muss, weil sie das Ganze jedenfalls imaginär umfasst, holistisch gedacht werden. Insofern entsprechen sich die Konzeptionen destituierender und konstituierender Macht nicht vollständig. Die Verfassungsfrage selbst vervielfältigt sich in dem vorgelegten Modell: das ist eine wichtige bisher kaum gesehene Konsequenz des Formwandels der Verfassung. – Gleichzeitig löst sie sich von der Frage nach der Territorialität, indem sie territoriale Anknüpfungen durch ein Prinzip relationaler Bezogenheit der Destitution auf die Herrschaftsausübung ersetzt. Dadurch allerdings gewinnt auf dem Nebengleis ein Begriff wieder an Fahrt, der im Konstitutionalismusdiskurs ein eher randständiges Dasein fristet: jener der Herrschaft. Denn wenn Herrschaft in der transnationalen Konstellation weder notwendig staatlich noch notwendig territorial gebunden ist, die Ausübung von Herrschaft aber zum zentralen und alleinigen Bezugspunkt konstitutiver wie destitutiver Kräfte wird, dann könnten Herrschaftsbegriffe, die sich – wie vorliegend – über den Hegemoniebegriff erschließen lassen, problematisch werden. Schließlich gehen diesen Begriffen in der transnationalen, postdemokratischen Konstellation, wie Möllers sie beschreibt, die Bezugspunkte (Volk, Territorium, Staat, Gesellschaft) oder jedenfalls ihre Eindeutigkeit verloren. Eine zentrale, an die vorgelegte Studie anschließende Frage muss deswegen den Herrschaftsbegriff unter Bedingungen postdemokratischer Verfasstheit neu verhandeln. Hier wäre ausblickend noch einmal rückzufragen, ob die „hegemonietheoretische Umschrift“ (82) des Ansatzes nicht vielleicht auch den Hegemoniebegriff selbst umschreiben müsste.

Es handelt sich – zusammenfassend – um eine unbedingt lesenswerte Untersuchung, die nicht nur bekannte Stränge einer im Ausgang von Marxschen Verfassungsbegriffen geprägten Verfassungstheorie einer bemerkenswerten Wandlung unterzieht und das Konzept destituierender Macht für die postnationale Verfassungskonstellation fruchtbar macht, sondern auch ganz nebenbei eine konzise und präzise Kritik zeitgenössischer Verfassungstheorien liefert.

2017: „Formwandel der Demokratie“.

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