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Brown, Wendy: Die schleichende Revolution –– Wie der Neoliberalismus unsere Demokratie zerstört; Berlin 2015: Suhrkamp [ISBN 978-3-518-58681-5] 332 S.

Rezensiert von Till Hahn (Goethe-Universität Frankfurt)

In ihrem Essay Die schleichende Revolution geht es Wendy Brown um nicht weniger als um die Rekonstruktion des Neoliberalismus als einer spezifischen Form von Rationalität. Durch diese Rekonstruktion will Brown beweisen, dass der Neoliberalismus – wie der Titel bereits sagt – die Demokratie zerstört. Die Stoßrichtung ihrer Kritik ist dabei schnell zusammengefasst: Durch eine neuartige Verquickung von Staat und Wirtschaft wird die Selbstbestimmung des „Volkes“ ausgehebelt. Davon soll dann die „Wirtschaft“ profitieren. Selbst wenn man anerkennt, dass es sich hier um eine kritische Intervention handelt und nicht um ein systematisches Werk der Demokratietheorie, bleiben viele begriffliche Unschärfen in Brown Buch auffällig. Ihre Leitthese ist dabei aber hoch interessant: Der Neoliberalismus ist nicht einfach eine Ausweitung der Herrschaft des Kapitals über den Staat, sondern viel mehr ein neues Verhältnis zwischen Staat, Markt und Subjekt. Zur Ungenauigkeit ihrer Begriffe gesellt sich allerdings auch noch Sprunghaftigkeit in der Argumentation, was es zuweilen erschwert, den Thesen zu folgen.

Brown schließt zunächst an die Überlegungen Michel Foucaults an, der in seinen Vorlesungen Die Geburt der Biopolitik am Collège de France (1978–79) den Neoliberalismus als spezifische Gouvernementalität bezeichnet hat. Der Neoliberalismus ist – so die These – eine Rationalität der Regierung, der das Feld der Politik (der Staatsführung, der gesellschaftlichen Organisation etc.) seinem Wesen – nicht seiner Form – nach verändert (7f.). Politische Rationalität ist in diesem Zusammenhang nicht als Instrument der Regierung zu verstehen, sondern als ihre Bedingung; sie ist das „Feld der normativen Vernunft, aus dem die Regierungspraxis geschmiedet wird“ (136). Obwohl sich Brown in ihrer Rekonstruktion weitgehend auf das Konzept Foucaults stützt, greift dieses – ihr zufolge – zu kurz, um die gegenwärtige Situation des Neoliberalismus zu begreifen. Hierfür gibt sie vor allem zwei Gründe an: Zum einen bleiben Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität auf nationale Ordnungen beschränkt, eine zentrale Eigenschaft des neoliberalen Kapitals ist aber gerade seine Transnationalität (83). ** Zum anderen lässt sich der Kapitalismus nicht auf eine Ordnung der Rationalität reduzieren: Der Neoliberalismus stellt somit nicht nur eine neue Regierungsrationalität dar, sondern auch (und vielleicht zuerst) neue Akteur/innen, Methoden und Formen des Kapitals, die die Transformation der Gouvernementalität bedingen, beschleunigen oder beeinflussen (87). Wenn Brown also sagt, dass der Neoliberalismus nicht einfach eine Ausweitung der Herrschaft des Kapitals ist, so meint dies, dass er es zugleich auch ist. Im Hinblick auf den Leitgedanken ihres Buches (die Zerstörung der Demokratie durch den Neoliberalismus) ist dies entscheidend: Demokratische Institutionen werden nicht einfach durch kapitalistische (wie auch immer diese aussehen mögen) ersetzt, sondern das Verhältnis von Staat und Bürger/in wird von einem politischen in ein ökonomisches transformiert. Die aristotelische Figur des Homo Politicus, der aktiv an den Belangen des Staates teilnimmt, wandelt sich in die Figur des Homo Oeconomicus, für den das Kriterium der Verwertbarkeit im Vordergrund steht.

Konzeptuell fasst Brown den Neoliberalismus – recht holzschnittartig – in sieben Eigenschaften zusammen: 1. Nicht mehr der Austausch von Gütern, sondern der Wettbewerb verschiedener Unternehmer/innen bestimmt die Dynamik des Marktes. Damit einhergehend ist nicht mehr die Äquivalenz (von Waren), sondern die Ungleichheit von Anbietern konstitutionelles Element des Marktes (72 f.). 2. Es treten nunmehr alle Beteiligten als Kapitalist/innen auf: Neben die klassischen Erscheinungsformen des Kapitals tritt nun auch das Humankapital, welches jeden Menschen zwingt, sich selbst im Sinne bestmöglicher Verwertbarkeit zu formen und zum Markt zu tragen (73 f.). 3. Die Folge dieser Entwicklung ist die Hervorhebung der Produktivität vor dem Produkt, die des Unternehmens vor den Konsum und die Befriedigung. Die Gesellschaft beruht demnach nicht mehr auf dem Austausch, sondern auf der Dynamik des Wettbewerbs selbst. Angestrebt wird die Steigerung des (Human-) Kapitals, nicht der Produktion. Effekte davon sind die allseitige Finanzialisierung bis in die kleinsten Lebensbereiche von Versicherungen, Renten usw. (74) 4. Innerhalb dieser Konstellation muss sich der Staat zum Markt positionieren. Die staatliche Souveränität und die Gesetze, die sie erlässt, werden zu Stützen des Wettbewerbs und dienen der Produktion von Humankapital, nicht mehr den Rechten von Bürgern als vom Markt unterschiedene Entitäten (75 f.). 5. Der Markt wird im Neoliberalismus zum exklusiven Ort der Veridiktion, der Produktion von Wahrheit. Er stellt zugleich den Rahmen, innerhalb dessen etwas als rational gesehen werden kann, dar und weitet seinen Maßstab auf alle Bereiche der Gesellschaft aus. 6. Von dieser Ausweitung der Marktlogik bleibt auch der Staat nicht unberührt: „Der neoliberale Staat kann offen als kapitalistischer Staat und im Namen des Kapitals handeln, weil das Wirtschaftswachstum seine Staatsräson und die Wertsteigerung des Kapitals ein vermeintlicher Wachstumsmotor ist.“ (78) 7. In der demokratischen Deliberation ersetzt schließlich der Konsens nach marktrationalen Kriterien den diskursiven Widerstreit verschiedener Modelle, welcher den klassischen Liberalismus auszeichnete (ebd.).

Besonders in dieser Rekonstruktion vermischt Brown drei Sphären. Sie unterscheidet an keiner Stelle zwischen der materiellen Wirklichkeit ökonomischer und politischer Prozesse, dem ideologischen Diskurs über diese Prozesse und der wissenschaftlichen Analyse derselben. Wenn sie etwa von der Fundierung des Marktes auf Wettbewerb statt auf Austausch spricht, so versäumt sie zu präzisieren, worauf sich dieser Wettbewerb stützt, wenn nicht auf die Genese von Kapital durch Austausch. Ebenso verhält es sich mit ihrer Diagnose, der Markt der „Ort der Veridiktion“. Leser/innen, die mit dem Œuvre Foucaults vertraut sind, mögen eine Intuition dahingehend haben, was damit gemeint sein könnte, wer jedoch nähere Erläuterungen dazu erwartet, wird enttäuscht. Besonders augenfällig werden diese Schwächen dann beim Kern ihrer Kritik, der „Verquickung von Ökonomie und Regierungskunst“ (89). Hier lässt sie im Unklaren, was genau mit diesem Begriff bezeichnet werden soll: Meint sie einen ideologischen Prozess, in dem sich die Selbstrechtfertigung bürgerlicher Staaten zunehmend auf das Feld der Ökonomie verlegt? Meint sie die zunehmende Verwendung des Vokabulars der Ökonomie als bürgerlicher Wissenschaft in der Regierungspraxis? Meint sie das zunehmende Agieren von Staaten als ob sie ökonomische Akteure wären? Meint sie zunehmendes Agieren der Staaten im Sinne des Kapitals? Die Ungenauigkeiten Browns in ihren Analysen machen es unmöglich zu extrapolieren, welche dieser Annahmen sie teilt (vielleicht alle). Eine inhaltliche Beurteilung und Diskussion ihres Gehalts wird auf diese Weise erschwert.

Klarheit verspricht zunächst der zweite Teil des Buches: Diese neue Form der Regierungskunst, bekommt nun – wenn schon keine zufriedenstellende Definition, so doch wenigstens einen Namen: die Governance. Die Governance als dem Neoliberalismus adäquate Praxis des Politischen ist damit zugleich der Testfall, in dem Brown die „Zerstörung der Demokratie“ die der Neoliberalismus als Ganzes betreibt, anhand des politischen Feldes aufzuzeigen verspricht. In dieser neuen politischen Struktur drückt sich, Browns Ansicht nach, dieses neue Verhältnis von staatlicher und ökonomischer Macht und den von ihr betroffenen Subjekten aus. In dieser institutionellen Praxis kulminiert (in politischer Hinsicht) die Entwicklung der neoliberalen Zerstörung der Demokratie. Diese Entwicklung ist zugleich das Ergebnis und die logische Konsequenz der vielfachen Transformationen, die in Wirtschaft, Gesellschaft und staatlicher Ordnung durch den Neoliberalismus gezeitigt (und von Brown bereits angedeutet) wurden, und der Ausdruck des neuen Verhältnisses zwischen Staatlichkeit und Subjekt. Brown skizziert sie kenntnisreich:

Mit einem Wort, die Governance verbreitet eine entpolitisierende Erkenntnistheorie, Ontologie und Gesamtheit von Praktiken. Da ihre Ausrichtung weich, inklusiv und technisch ist, verscharrt die Governance strittige Normen und strukturelle Schichtenbildung (wie zum Beispiel Klassen) sowie die Normen und Ausschlüsse, die durch ihre Verfahren und Entscheidungen in Umlauf gesetzt werden. Sie integriert Subjekte in die Zwecke und Bahnen der Nationen, Betriebe, Universitäten oder anderer Gebilde, die sich ihrer bedienen. Im öffentlichen Leben verdrängt die Governance liberal-demokratische Anliegen mit Bezug auf Gerechtigkeit durch technische Problemformulierungen, Fragen nach dem, was recht ist, durch Fragen nach der Effizienz, selbst Fragen nach dem was legal ist, durch solche nach der Effektivität. Am Arbeitsplatz verdrängt die Governance den horizontalen Zusammenhalt von Gewerkschaften und das Arbeiterbewußtsein und die Politik des Kampfes durch hierarchisch organisierte ‚Teams’, die Kooperation mehrerer Parteien, individuelle Verantwortlichkeit und Antipolitik. (154 f.)

So einleuchtend ihre Argumente bezüglich der Aushöhlung demokratischer Praktiken zunächst erscheinen, so willkürlich wählt sie allerdings ihre Beispiele. Um nur die prominentesten zu nennen: Die Ökonomisierung der US-amerikanischen Hochschulen und die Neustrukturierung des irakischen Staates nach der US-amerikanischen Invasion. Der Umbau der Hochschulen, wie Brown ihn rekonstruiert, erscheint wenig repräsentativ für die gesellschaftliche Entwicklung als ganze. Die Elemente, auf die sie hier eingeht, wirken willkürlich herausgepickt und ihr systematischer Zusammenhang wird an keiner Stelle klar. Obwohl die Kritik der Ökonomisierung im Vordergrund steht, wird nicht deutlich, was genau sie meint: An manchen Stellen wirkt es fast so, als sei das Hochschulstudium aus ökonomischen Interesse (etwa zur Berufsbildung) eine Entwicklung der letzten Jahre. Eine Kritik der Finanzialisierung von Hochschulbildung und die Einhegung von z. B. Studiendarlehen in die allgemeine „Schuldenökonomie“ (Lazzarato 2012) fehlt ganz. Browns Argumentation erschöpft sich hier lediglich darin, der gegenwärtigen (sicherlich prekären) Situation von Hochschulbildung ein idealisiertes Bild der Vergangenheit gegenüber zu stellen. Unkritisch übernimmt sie die Ansicht, die Massenhochschulen der 60er Jahre seien ein Eldorado der humanistischen Bildung für alle gewesen, in dem sich die „Mittelschicht“ (S. 215) durch Wissen über „Geisteswissenschaften, Literaturwissenschaften und Naturwissenschaften“ (ebd.) auszeichnete.

Ebenso verhält es sich mit Browns zweitem Beispiel: Dass die Neustrukturierung der irakischen Institutionen kein Musterbeispiel für demokratische Staatlichkeit war, kann ebenso wenig überraschen, wie die Erkenntnis, dass dies vor allem dem US-amerikanischen Kapital diente (168 ff.). Warum diese doch recht spezielle Episode der jüngsten Geschichte ausgerechnet repräsentativ für die neoliberale Regierungsform als ganze sein soll (abgesehen von der Tatsache, dass auch hier Techniken der Governance angewandt wurden), bleibt schleierhaft. Brown schafft es nicht deutlich zu machen, was die Besetzung des Irak von früheren kolonialen Projekten unterscheidet, zumal die Ermächtigung von Privatunternehmen geradezu paradigmatisch für den Kolonialismus ist (Robins 2012).

Kritik am Neoliberalismus ist dennoch alles andere als ungerechtfertigt. Browns Gesellschaftsanalyse, die sie auf dem foucaultschen Begriff des Neoliberalismus sowie ihrer Analyse der Governance aufbaut, kann als zutreffend betrachtet werden. Es ist mittlerweile eine politik-theoretische Binsenweisheit, dass das Staatshandeln zunehmend mit wirtschaftlichen Interessen verschmilzt, demokratische Deliberation durch apolitische Vermittlung ersetzt und demokratische Institutionen durch pure Interessenvertretung ausgehöhlt werden (vgl. Harvey 2005; Rancière 2002; Vogl 2011; Žižek 2009; Lapavitsas et al 2012). So weit ist dies aber nichts Neues. Brown geht leider selten wirklich über die Thesen, die bereits zahlreiche Theoretiker/innen der Postdemokratie formuliert haben, hinaus (vgl. Crouch 2008). Ihre Analyse dieser Verhältnisse bleibt nebelhaft und ungenau, oft erschöpft sie sich gar im reinen Rezitieren post-strukturalistischer Reizbegriffe – wie Macht, Subjekt, Form etc. – ohne dass ihr theoretischer Mehrwert erkennbar wäre.

Keinen Zweifel lässt Brown dagegen im Hinblick auf die Frage bestehen, welche Demokratie denn da eigentlich vom Neoliberalismus zerstört wird. Und spätestens dies sollte Misstrauen wecken: die Demokratie der USA nach dem Zweiten Weltkrieg (222). Brown läuft hier Gefahr, die fordistische Nachkriegsdemokratie zu romantisieren. Besonders in den angeführten Beispielen ist dies auffällig: Sie verdrängt die zahlreichen Kämpfe, die besonders in den 60er Jahren in und um die Universitäten ausgetragen wurden, zugunsten eines ideologischen Bildes der bürgerlichen Massenbildung, in der jeder unabhängig von Klasse und Rasse am (ebenfalls nicht kritisierten) Bildungsideal teilhaben konnte (S. 216). Ebenso ignoriert Brown die zahlreichen militärischen Interventionen zugunsten des US-Kapitals, die bereits vor der Neoliberalisierung stattfanden. Brown versucht hier auf Kosten des kritischen Blicks auf die Vergangenheit ihr „Vorher-Nachher-Bild“ zu schärfen und die Illusion eines radikalen Bruchs zwischen einem demokratischen „Früher“ und einem undemokratischen „Jetzt“ aufzubauen.

Als Steinbruch für Argumente gegen den Wirtschaftsliberalismus ist Wendy Browns Die Schleichende Revolution also durchaus nützlich. Als Werk zur systematischen Gesellschaftstheorie ist es aber begrifflich und analytisch zu unscharf.

Literatur

Crouch, Colin. Postdemokratie. Bonn: bpb, 2008.

Harvey, David. Kurze Geschichte des Neoliberalismus. Zürich: Rotpunkt, 2005.

Lapavitsas, Costas et al. Crisis in the Euro-Zone. London: Verso, 2011.

Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen, Berlin: b_books 2012.

Rancière, Jacques. Das Unvernehmen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002.

Robins, Nick: The Corporation that Changed the World. London: Pluto Press 2012.

Vogl, Joseph. Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes, 2011.

Žižek, Slavoj. Auf verlorenem Posten. Frankfurt: Suhrkamp, 2009.

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