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Symposium zu Cassee, Andreas: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin: Suhrkamp 2016. 282 Seiten. [978-3-518-29802-2]

Herausgegeben von Christian Neuhäuser (TU Dortmund)

Zur Verteidigung der globalen Bewegungsfreiheit: Eine Replik auf Johanna Gördemann, Susanne Mantel, Andreas Niederberger und Oliver Flügel-Martinsen1

Von Andreas Cassee (Freie Universität Berlin)

Jeder Mensch sollte frei entscheiden können, in welchem Land er sich vorübergehend aufhalten oder dauerhaft niederlassen will; Restriktionen sind nur dann zulässig, wenn sie im Einzelfall ein verhältnismäßiges Mittel sind, um andere entsprechend gewichtige moralische Rechte zu schützen – das ist die zentrale These meines Buchs zur globalen Bewegungsfreiheit. Die vielschichtigen und umsichtigen Kommentare in diesem Symposium fordern mich auf je unterschiedliche Weise heraus, diese These näher zu begründen und zu verteidigen. Für diese Herausforderung möchte ich mich zunächst herzlich bedanken – bei den RezensentInnen, bei Christian Neuhäuser, der dieses Symposium angeregt hat, und bei Frieder Vogelmann, der es auf Seiten der Zeitschrift für philosophische Literatur betreut hat.

Ein undifferenziertes Recht auf globale Bewegungsfreiheit?

Sowohl Johanna Gördemann als auch Susanne Mantel kritisieren, die Forderung nach einem allgemeinen Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit sei zu undifferenziert, um auf überzeugende Weise mit dem ganzen Spektrum von Mobilitätsanliegen in der realen Welt umzugehen. Wer allen Einreisewilligen, von Flüchtlingen bis hin zu „gut versorgten WeltenbummlerInnen“ (Mantel, 14), dasselbe Recht auf Bewegungsfreiheit zuschreibe, werde notwendigerweise die Mobilitätsansprüche der ersteren Gruppe zu schwach oder die der letzteren zu stark machen, so der gemeinsame Kern ihrer Kritik.

Flüchtlinge

Johanna Gördemann betont vor allem das erstgenannte Problem. Sie meint, mein Ansatz lasse keinen Raum, um die besonderen Ansprüche von Flüchtlingen angemessen zu berücksichtigen. Meine Ansicht, dass die Interessen von politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ besonders schwer wiegen, weist sie als ad hoc zurück: Wenn alle Menschen ein moralisches Recht auf Bewegungsfreiheit haben, weshalb sollten Flüchtlinge dann ein robusteres Zugangsrecht besitzen als andere Einwanderungswillige? Was Flüchtlinge im Rahmen meines Ansatzes von den übrigen MigrantInnen unterscheiden könnte, sei deshalb „maximal eine Hilfspflicht“ (Gördemann, 7). Hilfspflichten seien aber nicht einklagbar, sodass Flüchtenden am Ende nicht mehr bleibe als die Hoffnung auf die Wohltätigkeit („charity“) potenzieller Aufnahmeländer.

Ob Hilfspflichten tatsächlich so schwach sind, wie Gördemann sie darstellt, kann hier dahingestellt bleiben (ich würde es bestreiten). Denn der Vorteil eines Ansatzes, der Einwanderungskontrollen grundsätzlich in Frage stellt, scheint mir gerade darin zu bestehen, dass er von dem Hilfsparadigma wegführt, das die öffentliche Asyldebatte oft prägt. Wenn Staaten ohnehin kein Recht auf Ausschluss besitzen, verletzt die Abweisung von Flüchtlingen nämlich nicht bloß eine Hilfspflicht, sondern eine Nichtschädigungspflicht. Um Peter Singers (1994) vielzitierte Analogie zu bemühen: Das Problem einer restriktiven Asylpolitik besteht nicht bloß darin, dass sich Menschen weigern, ein ertrinkendes Kind aus dem Teich zu retten. Das Problem ist vielmehr, dass am Ufer des Teichs Grenzwächter stehen, die das Kind unter Zwang davon abhalten, sich aus eigener Kraft in Sicherheit zu bringen (wobei das Ufer ohnehin frei zugänglich sein sollte, weil es sich im öffentlichen Raum befindet).

Nun würde Gördemann an dieser Stelle wohl einwenden, dass der Zwang, der im Rahmen einer restriktiven Asylpolitik gegenüber Flüchtlingen ausgeübt wird, meiner Theorie zufolge nicht gravierender sein kann als ein analoger Zwang gegenüber Einwanderungswilligen mit trivialen Migrationsgründen; in beiden Fällen wird schließlich dasselbe Recht auf Bewegungsfreiheit verletzt. Ich glaube jedoch, dass dieser Einwand zwei Differenzierungsmöglichkeiten mit Blick auf dieses Recht (und mit Blick auf Rechte im Allgemeinen) übersieht, die auch die VertragspartnerInnen im Rawls’schen Urzustand berücksichtigen würden.

Erstens kann ein Eingriff in ein Recht besonders schwer wiegen, weil er das dem Recht zugrundeliegende Interesse besonders stark tangiert (nennen wir das die „interne Graduierung“ eines Rechts). Wer beispielsweise ein allgemeines Recht auf körperliche Unversehrtheit anerkennt, ist deshalb nicht auf die Ansicht festgelegt, dass eine Ohrfeige und die Zufügung einer schweren Verletzung in demselben Maß in dieses Recht eingreifen. Es ist vielmehr möglich, verschiedene Grade des Eingriffs zu unterscheiden, wobei der relevante Maßstab davon abhängt, worin genau die Grundlage des einschlägigen Rechts besteht. Mit Blick auf das Recht auf globale Bewegungsfreiheit bedeutet dies, dass Eingriffe unterschiedlich gravierend sein können, je nachdem, wie stark sie das zugrundeliegende Interesse an einer selbstbestimmten Lebensführung beeinträchtigen.

Zweitens kann ein Eingriff in ein Recht auch deshalb besonders schwer wiegen, weil er zugleich andere Rechte tangiert („externe Graduierung“), beispielsweise wenn einem Abenteurer auf einer Solo-Expedition der Proviant gestohlen wird und er in der Folge verhungert. Die Verletzung des Eigentumsrechts ist hier besonders gravierend, weil mit ihr zugleich eine Verletzung des Rechts auf Leben einhergeht.

Soweit es nun überhaupt sinnvoll ist, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und anderen Einwanderungswilligen vorzunehmen, scheint sie mir auf einer externen Graduierung zu beruhen: Flüchtlinge sind Personen, deren zentrale Menschenrechte im Herkunftsland nicht gewährleistet sind (was aufgrund politischer Verfolgung, aber etwa auch aus wirtschaftlichen Gründen der Fall sein kann). Ihnen den Zugang zu einem sicheren Land zu verwehren, bedeutet deshalb nicht nur, ihr Recht auf Bewegungsfreiheit zu verletzen, sondern auch, sie davon abzuhalten, sich vor anderen Rechtsverletzungen in Sicherheit zu bringen. Darüber hinaus dürften Flüchtlinge in ihren Autonomieinteressen typischerweise besonders stark beeinträchtigt sein. Auch Überlegungen der internen Graduierung sprechen deshalb dafür, ihren Mobilitätsansprüchen besonderes Gewicht beizumessen und ihnen insbesondere nicht nur Zugang zu irgendeinem sicheren Land, sondern zu einem sicheren Land ihrer eigenen Wahl zu gewähren.

Ich glaube also, dass mein Ansatz durchaus die theoretischen Ressourcen hat, unterschiedlich schwere Eingriffe in die Bewegungsfreiheit zu unterscheiden. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil das allgemeine Recht auf globale Bewegungsfreiheit, das ich verteidige, kein absolutes Recht ist. Es ist zwar grundsätzlich das gute Recht jedes Menschen, ob Flüchtling oder nicht, staatliche Grenzen zu überqueren. Wenn es aber darum geht, dieses Recht im Konfliktfall gegen andere moralische Ansprüche abzuwägen, werden die konkreten Umstände bedeutsam; der Anspruch von Flüchtlingen ist diesbezüglich wesentlich robuster als derjenige privilegierter WeltenbummlerInnen.

Würde Flüchtenden ein robustes negatives Recht auf Bewegungsfreiheit zugestanden, so wäre die Reise übers Mittelmeer nicht nur sicherer, sondern auch wesentlich erschwinglicher als unter gegenwärtigen Bedingungen (Schlepper kassieren oft ein Vielfaches dessen, was eine legale Einreise mit der Fähre oder ein Flugticket kosten würde). Dennoch könnte es natürlich sein, dass einigen Betroffenen die Mittel fehlen würden, diese legalen Wege tatsächlich zu beschreiten, und Gördemann fragt zu Recht, ob die Staatengemeinschaft in solchen Fällen verpflichtet wäre, ihnen aktiv die Einreise zu ermöglichen. Ich meine, dass wir diese Frage mit Ja beantworten sollten, doch mir fehlt an dieser Stelle der Platz, diese Ansicht näher zu begründen – da sie nicht die Legitimität von Grenzkontrollen betrifft, liegt sie jenseits des Fokus meines Buchs.

Privilegierte WeltenbummlerInnen

Am anderen Ende des Spektrums der Gründe, aus denen Menschen nationalstaatliche Grenzen überqueren wollen, setzt die Kritik von Susanne Mantel an. Sie macht geltend, dass ich die Mobilitätsansprüche von Angehörigen der globalen Oberschicht, die aus vergleichsweise trivialen Gründen unterwegs sind, zu stark mache. Ich stimme ihr wie gesagt zu, dass die Umstände bedeutsam sind, wenn es darum geht, das Recht auf Bewegungsfreiheit gegen andere moralische Ansprüche abzuwägen; in den Fällen, die sie vor Augen hat, ist dieses Recht sicher besonders leicht zu überwiegen. Dieses Zugeständnis dürfte unseren Dissens allerdings nicht völlig auflösen. Denn ein allgemeines Recht auf globale Bewegungsfreiheit (oder irgendein anderes nicht-absolutes moralisches Recht) zu akzeptieren, bedeutet zwar nicht, das entsprechende Anliegen gegen jegliche Abwägungen immun zu machen, wohl aber, bestimmte gegenläufige Erwägungen aus der weiteren Deliberation auszuschließen. Eine solche Erwägung sind meines Erachtens die Präferenzen, die andere Menschen mit Blick auf unsere Lebensgestaltung haben mögen. Wenn wir uns beispielsweise einmal darauf festgelegt haben, dass ich ein Recht auf Religionsfreiheit besitze, dann wird die bloße Tatsache, dass andere Menschen es vorziehen würden, dass ich eine bestimmte Religion nicht ausübe, kein einschlägiger Gesichtspunkt mehr sein, der gegen dieses Recht abzuwägen ist. Analoges gilt für das Recht auf Bewegungsfreiheit. Wenn Mantel also glaubt, dass sich die VertragspartnerInnen im globalen Urzustand darauf einigen würden, dass die Mobilität der global Privilegierten beschränkt werden darf, um kulturelle Präferenzen einer Mehrheit der Alteingesessenen zu realisieren, dann weist sie die Annahme eines allgemeinen Rechts auf Bewegungsfreiheit (wie sie selbst zugesteht) zurück. In diesem Punkt besteht also ein Dissens: Mantel glaubt, dass kulturelle Mehrheitspräferenzen genügen, um in trivialen Fällen Beschränkungen der internationalen Mobilität zu rechtfertigen; ich bestreite das.

Politisch dürfte dieser Dissens insofern nicht besonders bedeutsam sein, als die meisten Angehörigen der globalen Oberschicht bereits heute die Möglichkeit haben, Zeit in den Alpen, am Himalaya oder auf einer Südseeinsel zu verbringen, wenn sie das tun wollen. Die betreffenden Staaten dürften ihnen im rechtlichen Status quo zwar die Einreise verweigern, faktisch sieht es aber kaum ein Staat als seinen Interessen förderlich an, wohlhabende Einreisewillige von seinem Territorium fernzuhalten. Diese Beobachtung entkräftet zwar nicht Mantels Einwand, legt aber immerhin die Vermutung nahe, dass die Mobilität der Privilegierten in einer Welt mit offenen Grenzen nicht wesentlich größer wäre als in der heutigen Welt.

Darüber hinaus sollten wir die Möglichkeit nicht übersehen, dass wir es bei den von Mantel diskutierten Fällen in erster Linie mit Problemen der Hintergrundungerechtigkeit zu tun haben könnten. Vielleicht ist das Problem gar nicht, dass sich die global Privilegierten frei über staatliche Grenzen bewegen können, sondern dass sie überhaupt derart privilegiert sind. Wenn das der Fall ist, dann lautet die angemessene Antwort jedenfalls in der idealen Theorie: „Nehmt den Reichen das Geld weg, aber lasst ihnen die Bewegungsfreiheit!“

Auch diesseits groß angelegter Umverteilungsmaßnahmen scheint es mir sinnvoll, über Mechanismen nachzudenken, welche die entsprechenden Probleme zu lindern vermögen, ohne die Bewegungsfreiheit anzutasten. Statt beispielsweise den Reichen den Umzug in ein Land mit tiefen Steuersätzen zu verbieten, sollten wir robuste Regulierungen zur Verhinderung schädlichen Steuerwettbewerbs anstreben (siehe dazu Dietsch 2015). Auf Probleme der Gentrifizierung und Verdrängung könnte mit einer sinnvollen Miet- und Bodenpolitik statt mit Einreisebeschränkungen reagiert werden. Und statt wohlhabenden TouristInnen von vornherein die Einreise zu verweigern, um eine lokale Kultur zu bewahren, könnte eine Kurtaxe erhoben werden, um kulturelle Institutionen zu finanzieren.

Manche der Fälle, die Mantel vorschweben, würde ich außerdem dahingehend beschreiben, dass auf Seiten der bisherigen EinwohnerInnen wesentlich mehr auf dem Spiel steht als bloß eine kulturelle Präferenz. Das ist etwa dann der Fall, wenn Menschen gezwungen sind, aufgrund steigender Mieten von ihrem bisherigen Wohnort wegzuziehen. Zur Bewegungsfreiheit zählt nämlich auch das Recht, sich nicht von einem Ort wegzubewegen, und es scheint mir überzeugend, dass dieses Recht nicht nur durch Zwangsumsiedelungen verletzt werden kann, sondern auch durch wirtschaftlichen Druck (Oberman 2011; Angeli 2016). Mehr als eine kulturelle Präferenz ist auch die „Präferenz“ für eine Gesellschaft, in der Frauen oder Angehörige sexueller Minderheiten ihrer Rechte sicher sein können. Staaten haben meiner Ansicht nach kein Recht, Mehrheitspräferenzen darüber durchzusetzen, welche Sprache die Menschen sprechen, welche Musik sie hören oder welche Kleider sie tragen sollen, aber selbstverständlich dürfen und sollen Staaten Frauenrechte und die Rechte sexueller Minderheiten schützen. Nun sollten wir uns bewusst sein, dass Argumente über einen möglichen Konflikt zwischen diesen Rechten und der Bewegungsfreiheit allzu oft auf scheinheilige Art und Weise verwendet werden. (Frauenfeindlich und homophob sind immer die anderen!) Aber wir sollten einen Fall, in dem ein solcher Konflikt tatsächlich bestünde, nicht mit Fällen verwechseln, in denen die Bewegungsfreiheit mit kulturellen Vorlieben in Konflikt steht.

Wenn wir von Fällen absehen, in denen Hintergrundungerechtigkeit vorliegt oder mehr als eine kulturelle Präferenz auf dem Spiel steht, dann bleiben diejenigen, in denen einem Mobilitätsanliegen eine vergleichsweise triviale kulturelle Präferenz gegenübersteht (beispielsweise eine Präferenz, im öffentlichen Raum nicht mit seltsamen Gerüchen oder fremden Sprachen konfrontiert zu sein). Allerdings könnte das fragliche Mobilitätsanliegen ebenfalls einigermaßen trivial sein – vielleicht sucht die betreffende Person einfach nur einen Tapetenwechsel. Weshalb sollten wir in solchen trivialen Fällen ein Recht auf Bewegungsfreiheit anerkennen?

Dieses Problem peripherer Anwendungsfälle, in denen keine bedeutsamen Interessen auf dem Spiel zu stehen scheinen, ist nicht auf das Recht auf globale Bewegungsfreiheit beschränkt. Auch andere Freiheitsrechte schützen im Einzelfall oft triviale Anliegen. So gilt das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit dem konventionellen Verständnis zufolge auch dann, wenn jemand aus banalen Gründen eine Boyband kritisieren will, deren Musik ihm im Grunde völlig egal ist, und andere Personen eine starke Präferenz haben, dass ihre Lieblingsband nicht öffentlich kritisiert wird. Ähnliche Fälle ließen sich etwa auch mit Blick auf die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit oder die innerstaatliche Bewegungsfreiheit konstruieren. Man könnte nun versucht sein, auch in diesen Fällen mit Mantel ein differenzierteres Regime einzufordern: Weshalb beschränken wir uns nicht auf die Forderung, dass sich Menschen frei äußern, versammeln, vereinigen und bewegen dürfen, wenn im Einzelfall ein erhebliches Interesse daran besteht, und lassen zu, dass ansonsten eine Abwägung zwischen Mehrheitspräferenzen und individuellen Freiheiten vorgenommen wird?

Ein Teil der Antwort ist sicher, dass wir in Teufels Küche kommen, wenn wir erst einmal zugeben, dass Präferenzen darüber, wie andere Leute ihr Leben gestalten, ein legitimer Grund für die Einschränkung individueller Freiheiten ist. Darüber hinaus würde ein solches „differenziertes“ Regime von Freiheitsrechten dazu führen, dass der Staat ständig Urteile darüber fällen müsste, an welchen unserer persönlichen Entscheidungen wir tatsächlich ein erhebliches Interesse haben. Das wäre zum einen aus pragmatischen Erwägungen problematisch – es würde zwangsläufig zu Irrtümern (und möglicherweise sogar zu absichtlichen Fehlinterpretationen) kommen. Zum anderen glaube ich aber auch, dass in gewisser Hinsicht doch ein nicht-triviales Interesse verletzt wird, wenn der Person in unserem Beispiel die Äußerung über die Boyband untersagt wird – tangiert ist nämlich nicht nur ihr (wie wir angenommen haben triviales) Interesse an der konkreten Meinungsäußerung, sondern auch ihr höherstufiges Interesse daran, selbst darüber zu entscheiden, was ihr im Leben wichtig ist. Diese Überlegungen sprechen für „undifferenzierte“ Freiheitsrechte, die Individuen einen Selbstbestimmungsanspruch über bestimmte Aspekte ihrer eigenen Lebensführung einräumen, ohne im Einzelfall nochmals zu fragen, ob das konkrete Interesse erster Stufe, das sie dabei verfolgen, besonders schwer wiegt. Wenn sich also zeigen lässt, dass an Bewegungsfreiheit im Allgemeinen ein starkes Interesse besteht, scheint mir das Grund genug zu sein, diese Freiheit auch in peripheren Fällen zu akzeptieren.

Schließlich scheint es mir wichtig zu betonen, dass Mehrheitspräferenzen eben nur das sind: Präferenzen einer Mehrheit, die kaum je von allen Menschen geteilt werden. Im uns interessierenden Fall würde ein differenzierteres Regime zwar dazu führen, dass die kulturellen Präferenzen einiger Menschen besser erfüllt würden. Aber andere Menschen (sowohl Menschen im Innern einer sich abschottenden Gesellschaft, die gerne mit AusländerInnen interagieren möchten, als auch Menschen, die sich nicht mit der Kultur des Landes identifizieren, in dem sie geboren sind, und gerne woanders leben möchten) wären weniger gut in der Lage, ihre kulturellen Präferenzen zu erfüllen. Hinter dem Schleier des Nichtwissens können die Menschen nicht vorhersehen, ob sie die Mehrheitspräferenzen in dem Land teilen werden, in dem sie zur Welt kommen. Ich glaube deshalb, dass sie sich hüten werden, einer Regel zuzustimmen, die ihre individuelle Freiheit zugunsten des Erhalts einer „nationalen Kultur“ einschränkt, in die sie zufällig hineingeboren werden und von der sie noch nicht absehen können, ob sie sich einmal damit identifizieren werden.

Handlungsfreiheit und Autonomie

Als „Flirt mit dem Naturrecht“ liest Andreas Niederberger mein Plädoyer für offene Grenzen. Ich bin mit diesem Etikett nicht besonders glücklich, weil es eng mit zwei Annahmen verknüpft ist, die ich nicht teile. Erstens geht die naturrechtliche Tradition davon aus, dass es so etwas wie ewige moralische Wahrheiten gibt, die wahlweise vernunftrechtlich oder theologisch begründet sind. Mein Argument beruht nicht auf dieser Prämisse; darauf werde ich in meiner Antwort auf Oliver Flügel-Martinsen zurückkommen. Zweitens ist mit dem Naturrecht meist die Vorstellung verbunden, dass ein Kernbestand moralischer Rechte gleichsam juridische Geltung besitzt. So liest Niederberger offenbar die (zugegebenermaßen kursorischen) Ausführungen zu den individualethischen Konsequenzen eines moralischen Rechts auf globale Bewegungsfreiheit im Schlusswort meines Buchs: Moralische Rechte seien meiner Position zufolge überpositive Rechte, „die direkte Geltung auch in positiven Rechtsordnungen […] für sich beanspruchen können“ (Niederberger, 22). Das möchte ich so nicht behauptet haben – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass moralische Rechte einen direkten Einfluss darauf haben, welche juridischen Rechte Menschen genießen. Was ich an dieser Stelle behaupte, ist nur, dass ein moralisches Recht auf Bewegungsfreiheit die Ansicht nahelegt, dass es moralisch gerechtfertigt sein könnte, gegen ungerechte Einwanderungsgesetze zu verstoßen.2 Diese Ansicht setzt keine bestimmte Position zum Verhältnis von moralischen und juridischen Rechten (und insbesondere keine Zurückweisung des Rechtspositivismus) voraus; dass es illegal ist, gegen ungerechte Gesetze zu verstoßen, möchte ich nicht bestreiten.

Darüber hinaus bringt Niederberger die Möglichkeit ins Spiel, dass die Frage der Grenzkontrolle gewissermaßen moralisch unterdeterminiert sein könnte: Es wäre denkbar, „dass nicht nur diejenigen, die mit Grenzen konfrontiert sind, keine Verpflichtung haben, sie anzuerkennen, sondern auch diejenigen, die gerne Grenzen errichten würden, keine Verpflichtung haben, dies zu unterlassen“ (Niederberger, 25). Ich möchte nicht bestreiten, dass dies eine logisch kohärente Möglichkeit ist, die normative Situation zu beschreiben. Ich glaube jedoch, dass diese Position wenig überzeugend ist. Denn sofern die Erlaubnis, Grenzen zu errichten, auch eine Erlaubnis einschließt, zumindest den Versuch zu unternehmen, sie gewaltsam zu kontrollieren, würde diese Position auf die Ansicht hinauslaufen, dass die Grenze ein Ort der bloßen Gewalt ist – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass Gewalt gegen Unschuldige verübt wird (was mir eine angemessene Beschreibung der Situation zu sein scheint), sondern auch in dem Sinne, dass sich diejenigen, die Gewalt gegen Unschuldige verüben, ihrerseits nichts zuschulden kommen lassen.

Unser substanziellster Dissens dürfte aber den Zusammenhang zwischen Handlungsfreiheit und individueller Autonomie betreffen. Ich glaube, dass Handlungsfreiheit (etwa mit Blick auf die Wahl des eigenen Aufenthaltsorts) für eine autonome Lebensführung zentral ist, Niederberger bestreitet dies. Nun sollten wir auf der Hut sein, an dieser Stelle nicht in einen reinen Streit um Wörter zu verfallen. Eine Klärung des Autonomiebegriffs kann mit Blick auf unterschiedliche Erkenntnisinteressen erfolgen, und es ist nicht offensichtlich, dass für jedes Erkenntnisinteresse derselbe Autonomiebegriff sinnvoll ist (Baumann 2008: 456f.). Wer sich beispielsweise dafür interessiert, wie inhaftierte DissidentInnen unter widrigen Umständen ihre Autonomie bewahren können, wird gut daran tun, eine andere Autonomiekonzeption zu wählen als jemand, der sich für die Begründung moralischer Rechte (einschließlich des Rechts, nicht willkürlich inhaftiert zu werden) interessiert.

Jedenfalls wenn es um die Begründung moralischer Rechte geht, scheint mir eine Autonomiekonzeption überzeugend, wie sie etwas Joseph Raz (1986) vertritt. Autonom sind Personen dieser Position zufolge in dem Maß, in dem sie sich als (Co-)AutorInnen ihres eigenen Lebens verstehen können. Negative Freiheitsrechte sind für sich genommen zwar kein Garant für ein autonomes Leben in diesem Sinn – eine Person könnte umfassende Freiheitsrechte genießen, aber aus anderen Gründen keinen Zugang zu wertvollen Optionen haben, zwischen denen sie wählen könnte, oder es könnten ihr die psychologischen oder sozialen Voraussetzungen fehlen, um überhaupt eine sinnvolle Wahl zwischen verschiedenen Optionen treffen zu können. Aber zwangsbewehrte Eingriffe in die Handlungsfreiheit führen ceteris paribus immer zu einer Reduktion der Autonomie: Die Möglichkeit, ohne Zwang und Manipulation über bestimmte Aspekte der eigenen Lebensgestaltung zu entscheiden („Unabhängigkeit“), ist eine zentrale Dimension der individuellen Autonomie; darauf bezieht sich mein Argument für ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit.

Niederberger macht demgegenüber einen kantischen Autonomiebegriff stark, der Autonomie als Möglichkeit der moralischen Selbstgesetzgebung versteht. Eingriffe in die individuelle Handlungsfreiheit seien diesem Verständnis zufolge „so lange unbedenklich, wie in das moralische Entscheidungsvermögen der anderen Person nicht eingegriffen wird (indem sie z.B. physisch oder qua Manipulation bzw. Drohung gezwungen wird, eine bestimmte Handlung zu vollziehen)“ (Niederberger, 26).

Nun kann man sich zunächst fragen, ob aus einer Autonomiekonzeption, der es bloß um den Erhalt des moralischen Entscheidungsvermögens geht, überhaupt so viel folgt. Selbst wenn ich zu einer bestimmten äußeren Handlung gezwungen werde, könnte mir ja immer noch die Möglichkeit bleiben, mich innerlich von dieser Handlung zu distanzieren und so mein moralisches Entscheidungsvermögen zu bewahren. Wer einem Kriminellen unter vorgehaltener Waffe seine Brieftasche gibt, wird dadurch nicht moralisch korrumpiert. Und wenn wir umgekehrt mit Niederberger annehmen, dass der Zwang zu einer spezifischen Handlung immer in die Autonomie in seinem Sinn eingreift, dann bräuchte er ein Argument dafür, weshalb es sich anders verhalten sollte, wenn ein zwangsbewehrter Eingriff einem Menschen immer noch eine Wahlmöglichkeit lässt („Gib mir deine Brieftasche oder deinen Schmuck, sonst schieße ich!“), oder wenn auch nur eine bestimmte Option unter Zwang entzogen wird, die wir ansonsten ergreifen würden.

Vor allem aber scheint mir ein Autonomieverständnis, das ausschließlich auf unsere Moralfähigkeit abzielt, ein verarmtes Bild des menschlichen Lebens zu zeichnen. Was das Leben für uns wertvoll macht, ist schließlich nicht zuletzt die Möglichkeit, eine Vorstellung eines gelingenden Lebens zu entwickeln und zu verfolgen; und ein gelingendes Leben kann, muss aber nicht ausschließlich auf die Verwirklichung moralischer Prinzipien abzielen. Vielleicht würde Niederberger an dieser Stelle zugestehen, dass zum „moralischen Entscheidungsvermögen“, das es zu schützen gelte, auch die Befähigung zu einer Konzeption des Guten zähle. (Dafür spricht sein Verweis auf die beiden moralischen Vermögen nach Rawls.) Aber wenn uns unsere Konzeption des Guten am Herzen liegt, dann natürlich deshalb, weil wir unser Leben tatsächlich danach ausrichten wollen; zentral ist nicht nur die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten zu entwickeln, sondern auch die Möglichkeit, sie tatsächlich zu verfolgen. Ich glaube, dass ich Rawls diesbezüglich auf meiner Seite habe. Weshalb sollten die VertragspartnerInnen hinter dem Schleier des Nichtwissens beispielsweise an einer möglichst guten Ausstattung mit Vermögen und Einkommen interessiert sein, wenn nicht deshalb, weil diese Grundgüter ihnen dabei helfen, ihre Konzeption des Guten wirksam zu verfolgen? Aus demselben Grund sind Handlungsfreiheiten wichtig: Sie geben uns einen Raum, in dem wir ohne Eingriffe Dritter versuchen können, ein nach unseren eigenen Maßstäben gelingendes Leben zu führen.

Handlungsfreiheit in dieser Weise ernst zu nehmen, bedeutet natürlich nicht, jegliche Beschränkung durch Pflichten (oder durch zwangsbewehrte Gesetze) zurückzuweisen. Eine völlig uneingeschränkte Handlungsfreiheit ist kollisionsfrei gar nicht denkbar – diese Überlegung liegt der Ansicht des frühen Rawls zugrunde, dass sich Individuen hinter dem Schleier des Nichtwissens für das „umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten“ aussprechen würden, das „mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“ (Rawls 1979: 81); sie geht übrigens auf Niederbergers Kronzeugen Kant zurück, der in diesem Zusammenhang zwar nicht den Autonomiebegriff verwendet, für dessen Bestimmung des Rechtsbegriffs Handlungsfreiheit („Willkür“) aber ebenfalls zentral ist.3 Darüber hinaus halte ich es (gegen Rawls) für überzeugend, dass eine gewisse Abwägung zwischen Handlungsfreiheiten und einer möglichst umfassenden Ausstattung mit anderen Grundgütern zulässig ist. Aber wenn wir mit Niederberger annehmen, dass äußere Handlungsfreiheit überhaupt nicht von Belang ist, wenn es darum geht, moralische Rechte zu begründen, so hat dies radikale Implikationen, die weit über die Zurückweisung eines Rechts auf (innerstaatliche oder zwischenstaatliche) Bewegungsfreiheit hinausgeht. Es wäre dann beispielsweise nicht einzusehen, weshalb Menschen die Freiheit genießen sollten, mit anderen Menschen ihrer eigenen Wahl zusammenzuleben (eine Voraussetzung für den Erhalt des moralischen Entscheidungsvermögens dürfte das kaum sein). Der Preis für die Zurückweisung meines Arguments für globale Bewegungsfreiheit ist dann die Aufgabe individueller Freiheit überhaupt.

Bewegungsfreiheit als politische und moralische Frage

Noch grundsätzlichere Einwände methodologischer Art bringt schließlich Oliver Flügel-Martinsen gegen meine Position vor. Er kritisiert, ein gerechtigkeitstheoretischer Ansatz wie der meine sei ahistorisch, weil er von der Annahme moralischer Subjekte ausgehe, ohne Prozesse der Subjektivierung mitzudenken; er entpolitisiere die Migrationsfrage, weil er auf moralische Prämissen zurückgreife, „die dem Raum des Politischen gleichsam vorgeordnet werden“ (Flügel-Martinsen, 37); und er verliere die Machtfrage aus dem Blick, die für ein angemessenes Verständnis normativer Fragen zentral sei. Vorzuziehen sei deshalb ein Ansatz, der „die Reflexion politikphilosophischer Fragen intern mit einer gesellschaftstheoretischen und zeitdiagnostischen Perspektive“ (36) verknüpfe und seine „genuin politische normative Kraft schlicht aus dem Aufweis der Kontingenz“ (38) politischer Ordnungen ziehe.

Nun wird es mir an dieser Stelle zweifellos nicht gelingen, den spätestens seit Kant und Hegel schwelenden Konflikt über die Frage nach dem richtigen Zugang des philosophischen Nachdenkens über politische Fragen zu klären. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es diesbezüglich wirklich nur einen richtigen Zugang gibt, oder ob sich nicht vielmehr aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven Erhellendes zu denselben Themenkomplexen sagen lässt. Aber ich möchte kurz versuchen, auf Flügel-Martinsens Einwände zu reagieren und zugleich die Vorzüge einer Position zu skizzieren, die den Umgang mit menschlicher Mobilität sowohl als politische als auch als moralische Frage versteht.

Der Hinweis auf die Kontingenz politischer Ordnungen ist zweifellos ein wichtiger Ausgangspunkt des Nachdenkens darüber, wie wir uns zu diesen Ordnungen verhalten sollen (es ginge auch anders!). Aber die „normative Kraft“ dieses Hinweises scheint mir beschränkt: Es gibt Elemente kontingenter Ordnungen, für deren Bewahrung es sich lohnt zu kämpfen (das Folterverbot!), und andere, die wir bekämpfen sollten (meiner Ansicht nach die bestehenden Migrationsregime). Wer an dieser Stelle nicht in einen Dezisionismus verfallen („ich entscheide mich ohne weitere Begründung, für das Folterverbot und gegen Einwanderungsbeschränkungen zu sein“) oder sich auf eine reine Beobachterrolle zurückziehen will („ich erkläre bloß, weshalb Menschen die Gerechtigkeitsüberzeugungen haben, die sie nun einmal haben“), wird nicht umhinkommen, über seine eigenen normativen commitments nachzudenken. Auch dürfte das Bekenntnis zu einer bestimmten politischen Prozedur nur beschränkt taugen, die Frage zu beantworten, wofür oder wogegen wir selbst im politischen Prozess unsere Stimme erheben sollen.4 Der Vorzug eines gerechtigkeitstheoretischen Zugangs besteht nun einfach darin, dass er es uns erlaubt, transparent und mit offenem Visier über substanzielle Gerechtigkeitsüberzeugungen nachzudenken und zu streiten.

Ein solcher Prozess der Selbstbefragung (und des Streits mit anderen) über Gerechtigkeitsüberzeugungen ist nicht auf die Annahme angewiesen, dass es so etwas wie ewige moralische Wahrheiten oder eine ahistorische „view from nowhere“ gibt. Im Rahmen eines kohärentistischen Rechtfertigungsprogramms wie des Rawls’schen Überlegungsgleichgewichts (Rawls 1979: 65–73) beginnen wir vielmehr mit den normativen Überzeugungen, die wir bereits haben (und mit anderen teilen), um uns selbst darüber klar zu werden (und andere davon zu überzeugen), wie wir uns im Einklang mit diesen commitments oder unter akzeptabler Revision unserer bisherigen Überzeugungen zu kontingenten Ordnungen verhalten können.

Wenn ich mich also zu einer Perspektive bekenne, die moralische Subjekte und individuelle Rechte ernst nimmt, dann einfach deshalb, weil diese Annahmen zu den moralischen Überzeugungen zählen, die ich selbst nicht ohne weiteres aufzugeben bereit bin, und weil ich vermute, dass diese Überzeugungen von manchen LeserInnen geteilt werden. Zwar ist keine Ausgangsfestlegung immun gegen Revision: Wenn mir jemand nachweisen kann, dass diese Annahmen mit anderen normativen commitments in Konflikt stehen, die ich noch weniger bereit bin zu revidieren, müsste ich möglicherweise von ihnen Abstand nehmen. Aber als Ausgangsfestlegungen gehen sie zunächst einfach deshalb in die Theorie ein, weil es meine Überzeugungen sind. Ich brauche deshalb nicht zu bestreiten, dass diese Überzeugungen eine Entstehungsgeschichte haben und dass sie anderen Menschen zu anderen Zeiten möglicherweise seltsam erschienen wären. Meine Theorie ist also zwar in der Hinsicht „ahistorisch“, dass sie keine historische Theorie darüber ist, wie diese moralischen Überzeugungen zustande gekommen sind. Aber sie ist nicht „ahistorisch“ in dem Sinne, dass sie eine zeitunabhängige Wahrheit einer bestimmten moralischen Perspektive voraussetzt.

Der Anspruch der Gerechtigkeitstheorie ist also schlicht ein anderer als der eines Zugangs, wie ihn Flügel-Martinsen skizziert: Jene will einen Streit über Normen austragen, den dieser gesellschaftstheoretisch verorten und in eine Theorie des Politischen insgesamt einbetten will. Daraus nun aber zu folgern, dass die Gerechtigkeitstheorie ihre Fragen nicht als politische Fragen ernst nehmen kann, scheint mir falsch. Zugegeben: manche PhilosophInnen in „meiner“ Tradition geben allzu gerne vor, ihre Tätigkeit sei keine politische, und dieses Selbstverständnis nährt den Verdacht, wir wollten politische Kämpfe durch „Philosophie im Lehnstuhl“ ersetzen und würden unsere Positionen gleichsam von außen an den politischen Raum herantragen. Ich halte das für einen Irrtum. Ich glaube, dass die gerechtigkeitstheoretische Auseinandersetzung mit politischen Fragen eine genuin politische Auseinandersetzung ist. Die akademische Arena hat zwar ihre eigenen Diskursregeln, ist aber doch Teil der größeren politischen Arena. Aussagen darüber, welcher Umgang mit menschlicher Mobilität moralisch gerechtfertigt ist, sind politische Aussagen; dass die Migrationsfrage entweder eine moralische oder eine politische sein soll, leuchtet mir nicht ein.

Eine sich als politisch verstehende analytische Philosophie wird also nicht darauf abzielen, politische Kämpfe zu ersetzen, sondern wird im besten Fall dazu beitragen, sozialen Bewegungen Orientierungshilfe zu leisten und ihnen Argumentationsstrategien zur Verfügung zu stellen, die sich in der politischen Auseinandersetzung als nützlich erweisen könnten. Das wird natürlich nur in wenigen Fällen gelingen, aber seine beschränkte politische Wirkmacht dürfte den normativ-analytischen Zugang nicht wesentlich von anderen Theoriesträngen unterscheiden.

Nun wären soziale Bewegungen zweifellos schlecht beraten, wenn sie sich in ihrer Positionierung ausschließlich auf Gerechtigkeitserwägungen stützen würden. An dieser Stelle kommt der Einwand ins Spiel, dass die Gerechtigkeitstheorie die Machtfrage zu wenig ernst nehme. Natürlich stehen einer gerechten Welt oft handfeste Machtkonstellationen entgegen, die herzlich wenig mit abweichenden moralischen Überzeugungen zu tun haben. Auch GerechtigkeitstheoretikerInnen sind nicht so naiv, zu glauben, dass sich die Welt sofort zum Besseren wenden würde, wenn die Menschen bloß ihre moralischen Irrtümer einsähen. Aber sollten wir etwa aufhören, gerechtfertigte Ansprüche normativ geltend zu machen, bloß weil die politischen Kräfteverhältnisse ihre Durchsetzung momentan nicht zulassen?

Das Elend der gegenwärtigen Migrationspolitik besteht nicht zuletzt darin, dass diejenigen, die am meisten von einem anderen Umgang mit menschlicher Mobilität profitieren würden, im Rahmen formaler nationalstaatlicher Politik keine Lobby haben. Keine Politikerin hat einen Anreiz, um die Gunst von sans papiers, abgewiesenen Asylsuchenden oder Einreisewilligen im Ausland zu buhlen. Doch wenn es deshalb naiv ist, danach zu fragen, ob es eine überzeugende Rechtfertigung für die bestehende Politik gibt, dann höchstens im Sinne einer produktiven, entlarvenden Naivität: Wenn sich ausgehend von der wohlmeinendsten Rekonstruktion der Gegenposition darlegen lässt, dass keine stichhaltige Rechtfertigung für diese Position vorgebracht werden kann, und wenn die Gegenseite anschließend immer noch an ihrer Position festhält, dann ist gezeigt, dass sich der politische Gegner höchstens noch auf überlegene Machtmittel stützen kann. Entlarvende Feststellungen dieser Art (der Kaiser trägt keine Kleider!) sind das Ziel der Gerechtigkeitstheorie, wie ich sie verstehe.

In einer Welt, in der Gerechtigkeitsüberzeugungen und moralische Argumente in der politischen Auseinandersetzung überhaupt keine Rolle spielen würden, wäre mit solchen Feststellungen natürlich wenig gewonnen. Aber damit das gerechtigkeitstheoretische Unterfangen sinnvoll ist, müssen wir umgekehrt nicht annehmen, dass Gerechtigkeitsüberzeugungen die einzige Triebkraft politischer Veränderung sind. Es genügt die Annahme, dass sich kontingente Ordnungen meist auch durch die Überzeugung der ihnen Unterworfenen stabilisieren, dass es sich um gerechtfertigte Ordnungen handelt. Wenn es gelingt, diese Überzeugung ins Wanken zu bringen, ist das ein genuin politischer Akt: Es ginge nicht nur anders, sondern vor allem auch gerechter!

Literatur

Angeli, Oliviero. „Freedom of Movement and Emigration Pressures. A Defence of Immigration Fees.“ Moral Philosophy and Politics 3.2 (2016), 269–287.

Baumann, Holger. „Reconsidering Relational Autonomy. Personal Autonomy for Socially Embedded and Temporally Extended Selves.“ Analyse & Kritik 30 (2008),445–468.

Dietsch, Peter. Catching Capital. The Ethics of Tax Competition. New York: Oxford University Press, 2015.

Hidalgo, Javier. „Resistance to Unjust Immigration Restrictions.“ Journal of Political Philosophy 23.4 (2015), 450–470.

Kant, Immanuel. Die Metaphysik der Sitten (= Akademie-Ausgabe, Bd. 6). Berlin: de Gruyter, 2003.

Oberman, Kieran. „Immigration, Global Poverty and the Right to Stay.“ Political Studies 59.2 (2011), 253–268.

Rawls, John. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979.

Raz, Joseph. The Morality of Freedom. Oxford: Clarendon, 1986.

Singer, Peter. Praktische Ethik. Zweite Auflage. Stuttgart: Reclam, 1994.


  1. Für wertvolle Hinweise zu früheren Versionen dieses Texts möchte ich mich bei Sabine Hohl bedanken.

  2. Ich schreibe „nahelegt“, weil natürlich denkbar wäre, dass dieser Konklusion eine moralische Pflicht entgegensteht, ungerechten Gesetzen zu gehorchen. Siehe dazu Hidalgo (2015).

  3. „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Kant 2003: 230)

  4. Eine Antwort auf die „Grenzziehungsfrage“ kann Flügel-Martinsen nur deshalb geben, weil er nicht zwischen der demokratietheoretischen Frage nach den Grenzen des demos und der substanziellen Frage nach der Rechtfertigbarkeit der zwangsbewehrten Kontrolle territorialer Grenzen unterscheidet.

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