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Symposium zu Cassee, Andreas: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin: Suhrkamp 2016. 282 Seiten. [978-3-518-29802-2]

Herausgegeben von Christian Neuhäuser (TU Dortmund)

Ein Plädoyer für eine gerechte Welt?

Von Johanna Gördemann (Universität Duisburg-Essen)

In Zeiten der Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge liefert Andreas Cassee ein Plädoyer für offene Grenzen und stellt damit Grenzregimen ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit entgegen. Grenzen sind demnach nicht per se in Frage zu stellen, wohl aber der Umgang mit ihnen und die damit einhergehende Verteilung der Begründungslasten. Um einen solchen Paradigmenwechsel innerhalb einer Welt, die über territoriale Staaten organisiert ist, nachvollziehbar zu machen, prüft Cassee zunächst alle philosophischen Argumente, die seiner Position im Wege stehen könnten. Die erste Hälfte des Buches widmet er daher einer umfassenden Untersuchung, die offenlegen soll, warum das Recht auf Ausschluss, das Staaten für sich beanspruchen, nicht überzeugend ist. Dem folgt in der zweiten Hälfte des Buches eine Darlegung der Gründe, die den Anspruch, sich grenzüberschreitend auf der Erdoberfläche bewegen zu können, als unverzichtbar für ein selbstbestimmtes Leben verteidigen. Die normative Verknüpfung grenzüberschreitender Bewegungsfreiheit und individueller Autonomie begründet Cassee letztendlich innerhalb einer kosmopolitischen Variante der Vertragstheorie von John Rawls. Insgesamt liefert Cassee mit seinem Buch nicht nur ein Plädoyer für offene Grenzen, sondern auch einen systematischen und gut verzahnten Querschnitt durch die Migrationsethik der letzten Jahrzehnte. Für die Leserinnen und Leser bedeutet das, alle zentralen Argumente der Migrationsdebatte gemeinsam mit dem Autor überprüfen zu können. Andreas Cassee verleitet die Struktur seines Buches leider dazu, erst sehr spät eine eigene Position auszuarbeiten und selbst Stellung zu beziehen.

In den meisten westlichen Gesellschaften sehen wir uns einer rechtlichen und politischen Realität gegenüber, die Migration zu steuern oder zu begrenzen versucht und folgendermaßen beschrieben werden kann: Staaten haben das Recht, über ihre eigenen territorialen Grenzen zu verfügen, und die gängige Praxis, Einwanderungswillige an der Grenze abzuweisen, ist nicht nur Teil des geltenden Rechts, sondern, so nimmt man an, auch moralisch legitim. Diese sogenannte Standardansicht lässt jedoch offen, auf welchem normativen Fundament sie errichtet ist, das heißt, welche philosophischen Annahmen hinter ihr stehen und worauf das Recht auf Ausschluss eigentlich ein Recht ist.

Ein Teil dieser Begründungslücke lässt sich schnell schließen: Bei dem Recht auf Ausschluss, so Cassee, handelt es sich offensichtlich um eine Kompetenz von Staaten, deren Zweckmäßigkeit auf die Kontrolle bestimmter Güter oder aber auf die Möglichkeit der politischen Selbstbestimmung gerichtet ist (31ff.). Wer in der philosophischen Debatte Schlüsse ziehen möchte, die ein solches Recht verteidigen, der kommt an kommunitaristischen (z.B. Michael Walzer), liberal nationalistischen (z.B. David Miller, Will Kymlicka) oder aber institutionalistischen Argumenten (z.B. Ryan Pevnick, Christopher Wellman) nicht vorbei. Argumente der ersten und zweiten Art machen die Annahme stark, dass nationale Zugehörigkeit und kulturelle Bezogenheit moralisch relevant sind und sich daraus weitreichende Souveränitätsansprüche ergeben, was vor allem bedeutet, darüber verfügen zu dürfen, wer politische und territoriale Grenzen passieren darf. Institutionalistische Ansätze hingegen verzichten auf diese kulturelle Dimension und ersetzen sie z.B. durch kollektive Eigentumsrechte an staatlichen Institutionen, die mittels bestimmter Leistungen von Bürgerinnen und Bürgern erworben werden und dazu führen, dass über zukünftige Mitglieder der Gesellschaft souverän entschieden werden darf – was beantwortet werden muss, ist also die Frage, wer zukünftig zu diesen Institutionen beitragen und von ihnen profitieren darf und wer nicht.

In seiner Rekonstruktion und Kritik weist Cassee Kommunitaristen und liberalen Nationalisten nach, dass ihre Annahmen über die normative Bedeutung kultureller (in sich geschlossener) Kontexte zu voraussetzungsreich sind und dass sie zudem von sehr homogenen Gesellschaften ausgehen. Problematisch ist vor allem, dass diese Homogenität letztendlich als Funktionsbedingung gerechter, demokratischer Gesellschaften ausgewiesen wird. Michael Walzer nimmt zwar an, dass kulturelle Diversität global wertvoll ist, diese Diversität kann jedoch nur mittels geschlossener Grenzen, die die Kulturen unterschiedlicher Staaten bewahren, aufrechterhalten werden. Diese These sei schon mit Blick auf die EU-Personenfreizügigkeit sehr unplausibel, so Cassee, und könne die Bedingungen oder Möglichkeit der Einebnung kultureller Landschaften nicht erklären (124f.). Walzer unterstellt zudem, dass Gesellschaften in sich geschlossene kulturelle Kontexte sein müssen, um überhaupt soziale Güter und moralische Normen bestimmen und durchsetzen zu können. Dieser Prozess der „kulturellen Bedeutungsverleihung“ (104) legt damit nicht nur fest, was die bedeutsamen Güter sind, sondern auch wie eine gerechte Verteilung auszusehen hat. Das gilt vor allem für das Gut der Mitgliedschaft, über dessen Verteilung ausschließlich die Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft zu befinden haben. Warum dieses Konzept sozialer Gerechtigkeit jedoch notwendigerweise auf einen geschlossenen und homogenen kulturellen Rahmen angewiesen sein soll, kann Walzer nicht überzeugend erklären.

Auch Will Kymlicka knüpft grundlegende Bedingungen individueller Autonomie an kulturelle Kontexte, da diese Deutungsmuster anbieten, um Optionen jeglicher Art überhaupt als sinnvolle Optionen verstehen zu können, und unterstellt, dass Migration diesen kulturellen Bezugsrahmen in Gefahr bringt. Sein Argument zeigt aber lediglich, so Cassee, dass Menschen kulturelles Material brauchen; es zeige nicht, dass Menschen auf eine „reichhaltige und sichere Kultur“ angewiesen sind (152).

Den institutionalistischen Positionen hält Cassee vor, dass sie entgegen ihres Anspruchs eben doch auf eine kulturelle Dimension angewiesen sind, um ein Recht auf (territorialen) Ausschluss erklären zu können, und damit von Annahmen abhängen, die sie eigentlich dringend zu vermeiden suchen. Cassee überführt die Positionen dabei nicht nur der Inkohärenz, sondern zeigt auch, dass sich ihre eigenen Prinzipien gegen sie richten lassen: Christopher Wellman behauptet eine Analogie zwischen Staaten und Clubs, um ein Argument über Vereinigungsfreiheit stark zu machen, das ein staatliches Recht auf Ausschluss begründen soll – ein Golfclub hat das Recht Neubewerber abzuweisen und genauso verhält es sich bei Staaten. Individuelle Selbstbestimmung wird im Rahmen der Vereinigungsfreiheit auf die kollektive Selbstbestimmung übertragen. Wer jedoch das staatliche Recht auf Ausschluss mit Verweis auf die Vereinigungsfreiheit zu begründen versucht, der übersieht, so Cassee, dass damit gleichzeitig zahlreiche private Assoziationsformen wesentlich eingeschränkt werden (64f.) – eine Wohngemeinschaft mit einer Nigerianerin zu gründen oder einen Arbeitskreis mit einem Brasilianer ist unter diesen Umständen nicht mehr ohne weiteres möglich.

Zudem zeigt Cassee sehr überzeugend, dass Wellman keinen Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Räumen macht (57ff.): Die Assoziationsfreiheit ist dafür gedacht, mit Personen der eigenen Wahl beliebige Projekte verfolgen zu können. Staaten hingegen, und damit staatliche Institutionen wie beispielsweise Gerichte, dienen der Bereitstellung eines gerechten Rahmens, in dem eben diese persönlichen Projekte platziert werden können. Damit legt Cassee nicht nur dar, dass die Übertragung der privaten auf die staatliche Assoziationsfreiheit fehlgeht – und zwar vor allem, weil Staaten dem Prinzip der Gleichbehandlung unterliegen –, sondern auch, dass Wellmans Prinzip letztendlich gegen ihn gerichtet werden kann, da es im Namen der staatlichen Assoziationsfreiheit in unzulässiger Weise die private Assoziationsfreiheit einschränkt.

Ryan Pevnick ersetzt das nationale durch ein staatliches Recht auf Selbstbestimmung und legt diesem einen eigentumsrechtlichen Anspruch der Bürgerinnen und Bürger an den jeweiligen staatlichen Institutionen zugrunde. Wie schon bei Wellman veranschaulicht Cassee, dass die angebotenen Argumente sowohl für als auch gegen ein Recht auf Ausschluss genutzt werden können. Selbst wenn das Beisteuern zu Institutionen Ansprüche generiert, beschneidet das Recht auf Ausschluss gleichzeitig die Rechte individueller Eigentümer, die nun wesentlich weniger potenzielle Käufer für beispielsweise ihr Grundstück in Erwägung ziehen können. Kollektive Eigentumsrechte stehen hier also in direktem Konflikt mit „individuellen Ansprüchen desselben Typs“ (78). Darüber hinaus kann Cassee Pevnick nachweisen, dass er ebenfalls auf eine kulturelle Dimension angewiesen ist, da es ihm nicht gelingt herauszustellen, was der relevante Unterschied zwischen Einwanderern und neuen Generationen im Land ist. Pevnicks Position kann die „moralische Asymmetrie“ zwischen denjenigen, die auf dem Territorium geboren werden und denjenigen, die in das Staatsgebiet einwandern, nicht ausreichend erklären – tatsächlich scheint seine Analogie vom Staat als einen Familienbetrieb umso mehr der Idee einer „natürlichen Zugehörigkeit“ von Individuen zu einer „intergenerationellen Gemeinschaft“ zu erliegen (89ff.), so dass auch Pevnick, um die Ungleichbehandlung von Fremden und Mitgliedern erklären zu können, auf kulturalistische Annahmen angewiesen ist. Wellman und Pevnick können zudem nicht darlegen, warum Nichtbürgerinnen und Nichtbürger vom Zugang zu Territorien und nicht nur vom Zugang zu Institutionen abzuhalten sind.

Letzten Endes sind alle Argumente, die ein Recht auf Ausschluss zu begründen versuchen, als unzureichend entlarvt. Seine eigene Position errichtet Andreas Cassee mit Hilfe einer Analogie zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Bewegungsfreiheit. Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit sind jeweils wichtige Güter, die allerdings nur innerstaatlich, nicht aber zwischenstaatlich garantiert werden. Dieser Bruch kann laut Cassee nicht gerechtfertigt werden, da nicht ersichtlich ist, warum aus einem geltenden Menschenrecht ein Privileg werden sollte, das nach Belieben gewährleistet oder auch verweigert werden darf – je nachdem, ob damit ein Grenzübertritt einhergeht oder nicht (217f.). Die Bewegungsfreiheit innerstaatlich zu gewährleisten, ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie vor politischer Repression schützt oder ein breites Set an Optionen realisierbar macht, sondern vor allem, weil sie individuelle Autonomie überhaupt erst ermöglicht. Selbiges gilt laut Cassee jedoch auch für den globalen Raum und es ist daher nicht nachvollziehbar, warum Staatsgrenzen die Bewegungsfreiheit und folglich die Autonomie selbst beschneiden können sollten. Die Bewegungsfreiheit ist daher – innerstaatlich und zwischenstaatlich – ein Gut, das nicht nur Ermöglichungsbedingung anderer Freiheiten ist, sondern als grundlegend und intrinsisch wertvoll anerkannt werden muss (223ff.).

Cassee vertritt folglich, ebenso wie die Positionen, die ein Recht auf Ausschluss stärken wollen, eine Gütertheorie – neu ist, dass er die globale Bewegungsfreiheit innerhalb dieser Theorie als ein freistehendes Gut etablieren möchte. Um nun aber nachvollziehbar zu machen, dass die Bewegungsfreiheit das Gut ist, das schwerer wiegt als die von anderen Positionen hervorgehobenen kulturellen oder institutionellen Güter, braucht Cassee den Kontraktualismus von John Rawls. In seiner Vertragstheorie trifft Rawls eine Aussage darüber, wie eine gerechte Grundstruktur innerhalb einer Gesellschaft aussehen müsste, und überlegt, auf welche Weise über diese Struktur entschieden werden sollte. Als Gedankenexperiment angelegt, kreiert er einen Urzustand, in dem Individuen hinter dem sogenannten Schleier des Nichtwissens über eben diese Grundstruktur entscheiden, ohne jedoch zu wissen, welche Rolle sie in der jeweiligen Gesellschaft spielen werden. Rawls arbeitet daher mit einem Modell geschlossener Gesellschaften, das sich Fragen sozialer, nicht aber globaler Gerechtigkeit widmet. Cassee erweitert Rawls’ Vertragstheorie insofern, als er sie auf Fragen anwendet, die jenseits des durch Rawls festgelegten Anwendungsgebiets liegen, wie eben Fragen der Einwanderung: Welchen Regeln über die internationale Migration würden wir zustimmen, wenn wir nicht wüssten, ob wir selbst an einem ruhigen, sicheren oder aber an einem gefährlichen Ort geboren werden? Wenn wir nicht wüssten, ob an andere Orte zu reisen zu unserer Vorstellung vom gelingenden Leben gehört oder ob wir eher sesshafte Typen sind? Wenn wir nicht wüssten, ob wir das Glück haben, einen Pass zu besitzen, der uns ermöglicht, beinahe alle Teile der Erde zu bereisen? Der Kontraktualismus schließt die Begründungslücke, die Cassee bisher mit Blick auf die anderen Gütertheorien bemängelt hatte, indem er darauf verweist, dass sich die Menschen im Urzustand für ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit entscheiden würden (258f.) – das erklärt, so Cassee, warum es sich um ein grundlegend wichtiges Gut handelt, das zunächst einmal schwerer wiegt als der Anspruch von Staaten, souverän über ihre Grenzen zu verfügen. In Abgrenzung zu Positionen, die ein Recht auf Ausschluss verteidigen, geht es folglich nicht nur um Verteilungsfragen von territorialen Ansprüchen zweiter Ordnung (Kompetenz, darüber zu verfügen, wer sich auf einem Territorium aufhalten darf), sondern insbesondere um Verteilungsfragen von Ansprüchen erster Ordnung und damit der Bewegungsfreiheit selbst – denn individuelle Freiheiten sind Grundgüter, die ebenfalls hinter dem Schleier des Nichtwissens verteilt werden (244ff.).

Andreas Cassee entwirft ein normatives System, in dem die globale Bewegungsfreiheit als freistehendes Gut anzuerkennen ist. Staaten existieren weiterhin, allerdings entsprechen sie dem Modell Schweizer Kantone oder deutscher Bundesländer und sind daher global als offene Gesellschaften organisiert. Das Recht, sich grenzüberschreitend zu bewegen, gilt zwar nicht absolut – Cassee bezeichnet es als allgemein und robust –, eine Einschränkung ist aber nur in wenigen Situationen denkbar. Jenseits idealer Theorie und damit unter nicht idealen Umständen ist zudem anzunehmen, so Cassee, dass Bewegungsfreiheit Probleme globaler Gerechtigkeit adressiert, da global Benachteiligte eigene Strategien zur Bewältigung unterschiedlicher Defizite verfolgen können und zwar ohne in der Umsetzung dieser Vorhaben von Einwanderungspolitiken abhängig zu sein. Daraus ergeben sich aber zwei Probleme. Da es allen offensteht, sich frei zu bewegen, bedeutet diese Freiheit für einige, dass sie ihre persönlichen und sehr spezifischen Lebenspläne verwirklichen und beispielsweise weltweit unter allen beruflichen Optionen wählen können, und für andere, dass sie Situationen großer Armut oder lebensbedrohlicher Konflikte, verursacht durch politische und kriegerische Auseinandersetzungen, hinter sich lassen können. Es bedeutet aber auch, dass Cassee in seinem normativen System nicht zwischen einer gut ausgebildeten, reichen Elite, die sich aus beruflichen und privaten Gründen gerne grenzüberschreitend bewegen möchte, und all denjenigen Menschen, die wegen der zahlreichen Krisenherde oder Umweltkatastrophen migrieren müssen oder wollen, unterscheiden kann. Da nicht das Vorbringen von Migrationsgründen, sondern die Tatsache, dass Bewegungsfreiheit mit individueller Autonomie zusammenfällt, dazu führt, dass man sich grenzüberschreitend bewegen können sollte, wie Cassee mehrfach betont, gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass sich Migranten und Flüchtlinge in einem solchen System wesentlich voneinander unterscheiden.

Fraglich ist auch, was ein so undifferenziertes Recht auf Bewegungsfreiheit für wirtschaftliche Akteure wie beispielsweise Unternehmen bedeutet. Einen Außenposten im Ausland zu eröffnen – ein Vorgang, der gute aber sehr häufig auch problematische Folgen für die Systeme vor Ort haben kann – kann aus Cassees Position heraus nur schwer kritisiert werden. Ab wann die individuelle Autonomie der Mitarbeiter, die dieses Vorhaben für ihren Arbeitgeber ausführen und darin eine grundlegend wichtige Möglichkeit sehen, ihre Karriere und damit zusammenhängende Lebenspläne zu realisieren, beschränkt werden darf, ist für Cassee schwer festzulegen. Auch wenn es aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht eindeutig zu sein scheint, wie ein solcher Fall behandelt werden müsste, kollidiert er mit Cassees weitreichendem Verständnis von Autonomie. Cassee verweist zwar an einigen Stellen darauf, dass die Ansprüche politischer und wirtschaftlicher Flüchtlinge zweifellos besonders schwer wiegen, es ist aber nicht klar, wie diese Hierarchisierung von Ansprüchen innerhalb seiner Theorie begründet werden soll.

Eine Analogie soll das klarer machen: Nach einem Unwetter muss eine Straße polizeilich abgesperrt werden und es scheint völlig naheliegend zu sein, so Cassee, dass man zu allererst Krankenwagen und dann, zu einem späteren Zeitpunkt, Busse mit Touristen passieren lassen würde (215). Ähnlich verhält es sich mit Flüchtlingen, die aufgrund ihrer Notlage und Bedürftigkeit einen dringenderen Anspruch auf „Einlass“ haben als andere Migrierende. Ansprüche dieser Art lassen sich normativ jedoch nur schwer nachvollziehen und der Verweis auf Leid oder Bedürftigkeit als normative Grundlage eines Anspruchs scheint zudem wenig darüber aussagen zu können, welche Verpflichtungen dadurch zustande kommen. Was sich davon ableiten lässt, ist nämlich maximal eine Hilfspflicht, die nicht zu erfüllen zwar falsch wäre, deren Erfüllung aber gerechtigkeitstheoretisch nicht eingeklagt werden kann, da Hilfspflichten vor allem auf Freiwilligkeit und politischem Wohlwollen beruhen – mit Verweis auf „charity“ kommen Staaten dann ihren Hilfspflichten nach oder eben auch nicht. Zudem scheint hinter Cassees Analogie lediglich so etwas wie eine moralische Intuition zu stehen, die aber keine verbindliche Stoßrichtung zu formulieren vermag.

Zweitens – und dieses Problem schließt direkt an das erste an – blendet Cassee Fragen nach legalen Zugangswegen beinahe komplett aus, die aber im Kontext von Migration und Flucht dringend gestellt werden müssen. Wie verhält es sich also mit positiven Pflichten hinsichtlich der Bewegungsfreiheit? Was Cassee zu begründen versucht, ist lediglich ein negativer Anspruch auf Bewegungsfreiheit, was bedeutet, nicht davon abgehalten werden zu dürfen, sich grenzüberschreitend zu bewegen – Migranten haben daher nicht die Pflicht, die Exklusivitätsansprüche anderer anzuerkennen, die beispielsweise darin bestehen, keine Einwanderung zulassen zu wollen. Selbst unter idealen Bedingungen verlangt Migration denjenigen, die weitere Strecken zurücklegen wollen, aber einiges ab: Es müssen bestimmte Ressourcen vorhanden sein, um die Reise überhaupt antreten zu können, was voraussetzt, vorher Güter zu verkaufen oder andere Abkommen am Ausgangsort zu treffen. Unter nicht idealen Bedingungen erschweren sich die Vorgänge noch mal erheblich und in beiden Szenarien ist es für die ärmere Bevölkerungsschicht per se unmöglich, das Herkunftsland oder aber – mit Blick auf die aktuelle Situation – das Flüchtlingslager zu verlassen. Wem dann die entsprechenden positiven Pflichten zukommen und was genau sie zum Gegenstand haben, lässt sich jedoch kaum mit Verweis auf die individuelle Autonomie klären.

Cassee liefert gute Gründe, warum grenzüberschreitende Migration wichtig für Menschen und ihre individuellen Lebenskonzepte und -planungen sein kann und warum Staaten, die sich als demokratisch und gerecht verstehen, bei der Errichtung von Grenzregimen Gründe und Interessen dieser Art berücksichtigen sollten. Cassees Ansatz, Herausforderungen der Migration als Verteilungsfrage zu behandeln, systematisiert verschiedene Begründungslasten, bleibt aber zu allgemein, so dass er letztendlich auch nicht zufriedenstellend klären kann, was denn eigentlich verteilt werden muss. Geht es um territorialen Zugang oder darum, Institutionen nutzen zu können? Allem voraus geht jedenfalls die Forderung, sich grenzüberschreitend bewegen zu können, ohne besondere Gründe dafür angeben zu müssen. Wie steht das jedoch im Zusammenhang mit beispielweise dem Zugang zu Institutionen? Auch wenn sich Cassee in den meisten Teilen seines Buches im Bereich der idealen Theorie bewegt, vereinfacht er zu stark und ist zu wenig konkret, weshalb er auf viele der drängenden Fragen, denen wir uns heute im Kontext von Migration und Flucht gegenübersehen, nicht antworten kann.

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