Artikel als PDF herunterladen

Bratu, Christine: Die Grenzen staatlicher Legitimität. Eine philosophische Untersuchung zum Verhältnis von Liberalismus und Perfektionismus. Münster: Mentis 2014. 251 Seiten. [978-3-89785-227-3]

Rezensiert von Luise Katharina Müller (FU Berlin)

Nehmen wir einmal an, wir dürften uns aussuchen, in welchem Staat wir leben wollen. Es gibt drei Möglichkeiten zur Auswahl: Das erste Land, das uns aufnehmen würde, heißt Perfekta. In Perfekta gibt es eine moralische Werteordnung, nach der der Staat seine Handlungen ausrichtet. Das könnte zum Beispiel eine Werteordnung sein, an deren oberster Stelle die Förderung philosophischen Talents steht. Perfekta würde seine Gesetze, seine wirtschaftliche Ordnung und seine Ressourcen so ausrichten, dass alle Perfektarierinnen und Perfektarier philosophisches Talent wertschätzen und soweit wie möglich fördern. Das zweite Land, welches sich zu unserer Aufnahme bereit erklärt, heißt Peliberia. Die peliberische Gesellschaft ist ebenfalls nach einem höchsten Gut ausgerichtet, und zwar dem Gut der Authentizität. Bei uns, so könnte Peliberias Motto klingen, wird jeder Bürgerin und jedem Bürger ein authentisches Leben ermöglicht! Was es allerdings bedeutet, ein authentisches Leben zu führen, das überlässt Peliberia jeder Peliberierin und jedem Peliberier selbst. Das dritte Land, in das wir uns einbürgern lassen könnten, heißt Poliberia. In Poliberia gibt es keine moralische Werteordnung, die festlegt, wie man leben soll. Die Poliberianerinnen und Poliberianer akzeptieren zwar, dass der poliberianische Staat Steuern einzieht und mit Zwang Regeln durchsetzt, aber sie akzeptieren nicht, dass die Regierung diese politische Macht für die Förderung einer speziellen Vorstellung des guten Lebens einsetzt – weder für die Förderung philosophischen Talents, noch für die Förderung der Authentizität. Für welchen Staat sollten wir uns gerechtfertigterweise entscheiden?

Das ist die Frage, die am Beginn von Christine Bratus 2014 in Überarbeitung erschienener Dissertation steht. Dabei zeichnet sie zunächst auf eindrucksvolle und analytisch klare Weise den Verlauf der Grenzen nach, die im Perfektionismus, im perfektionistischen Liberalismus und im politischen Liberalismus das Feld markieren, in das der Staat legitimerweise regelnd eingreifen darf. In Perfekta ist dieses Feld am größten: Der Staat darf den Perfektarierinnen in die individuelle Lebensführung hereinreden und sie dazu bringen, bestimmte Werte zu verfolgen. In Peliberia hingegen ist das Feld ein wenig kleiner. Zwar darf Peliberia seine Bürgerinnen zu einem ‚guten Leben’ animieren, aber nur um der eigenen authentischen Lebensführung willen. In Poliberia schließlich darf der Staat mit Zwang nur dort eingreifen, wo keine vernünftigen Meinungsverschiedenheiten herrschen können: dort nämlich, wo es um die politische Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen geht. Um Bratus Schlussfolgerung schon einmal vorwegzunehmen: Ihres Erachtens sollten wir uns für Peliberia entscheiden, denn die peliberische Theorie der staatlichen Legitimität sei schlüssiger als die Theorien, die Poliberia und Perfekta untermauern. Außerdem unterstütze Peliberia ein Prinzip, von dessen Geltung wir unabhängig von dessen politischer Faktizität sowieso überzeugt seien: dass wir ein authentisches Leben führen sollten. Ein authentisches Leben, so Bratu, ist ein Leben, das gemäß den „eigenen Wertvorstellungen und Normen“ geführt wird (188), und somit vor der eigenen Person alles in allem gerechtfertigt oder begründet ist. Authentisch zu leben bedeutet, sich selbst – seinen eigenen Gründen – treu zu sein (67).

Zu diesem Ergebnis kommt Bratu mit Hilfe eines Ausschlussverfahrens. Zunächst identifiziert sie eine normative Grundannahme, die allen drei diskutierten Legitimitätstheorien gemein ist: „Staatliches Handeln muss vor allen Bürgerinnen und Bürgern des jeweiligen Staates gerechtfertigt sein.“ (25) Diese Minimalanforderung (MA) ist als eine notwendige Bedingung politischer Legitimität zu verstehen. Drei Argumente werden in der Debatte als Begründung für die MA vorgebracht: das Freiheitsargument verweist auf die Ermöglichung der Freiheit, das Autonomie- bzw. Authentizitätsargument verweist auf die Ermöglichung authentischen und somit autonomen Handelns, und das Autoritätsargument verweist auf die Ermöglichung der staatlichen Autorität. Schon hier macht Bratu deutlich, dass das Authentizitätsargument am Weitesten trägt, weil es die MA am überzeugendsten begründet.

Kommen wir aber zunächst noch einmal zurück zu der Frage, welcher Staat die MA überhaupt erfüllt, denn keine plausible Theorie, so Bratu, kann die MA als Bedingung staatlicher Legitimität leugnen. Vordergründig scheinen alle drei Staaten die MA zu erfüllen. Allerdings werde bei genauerem Hinsehen deutlich, dass Perfekta die MA auf eine falsche Weise deute: Bei der Rechtfertigung seiner Handlungen bezieht Perfekta sich nicht auf die personalen Gründe der Bürgerinnen, sondern auf objektive Gründe – mit dem Resultat, dass die Perfektarier diese Gründe unter Umständen nicht von ihrem epistemischen Standpunkt aus nachvollziehen können (116). Vor jemandem eine Handlung zu rechtfertigen müsse aber bedeuten, sich auf deren Gründe zu beziehen. Deshalb, so Bratu, erfülle Perfekta die MA nicht (117).

Damit wäre der Perfektionismus im Sinne des Ausschlussverfahrens zurückgewiesen. Es bleiben also noch Poliberia, das Land des politischen Liberalismus, und Peliberia, das Land des perfektionistischen Liberalismus im Rennen. Bratu wendet sich zunächst Poliberia zu. Erfüllt Poliberia die MA? Bratus Antwort lautet: ja, aber nur um den Preis, dass Poliberia den Raum der Gründe auf unplausible Weise entzweit. Der poliberianische Staat meint nämlich, dass es auf der einen Seite keine allgemein gültige Auffassung vom guten Leben gebe. Vielmehr gebe es vernünftige Meinungsverschiedenheiten darüber, wie ein gelingendes Leben auszusehen hat. Daraus folgt, dass der Staat sich aus Fragen des guten Lebens vollkommen heraushalten sollte, denn wie wir bei der Diskussion um Perfekta gesehen haben, müssen die rechtfertigenden Gründe, die der Staat für seine Handlungen hervorbringt, für jede Bürgerin – also von ihrem epistemischen Standpunkt aus gesehen – Geltung haben. Bei vernünftigen Meinungsverschiedenheiten über das ‚richtige Selbstverhältnis‘ muss der Staat in dieser Hinsicht also stumm bleiben, andernfalls würde er die MA verletzen. Auf der anderen Seite behauptet Poliberia allerdings, dass es bei Fragen der politischen Herrschaft keine vernünftigen Meinungsverschiedenheiten geben kann. Poliberia geht davon aus, dass es unumstritten sei, was es heißt, gerechte Institutionen zu haben. Bratu nennt dies die ‚Asymmetriethese‘, denn „offensichtlich geht […] [der politische Liberalismus, L.M.] davon aus, dass gerechtfertigter Dissens nicht mit Blick auf alle Themengebiete in gleichem Maße zu erwarten ist, sondern asymmetrisch auftritt.“ (166).

Es sind zwei Probleme, die Bratu daraufhin in Poliberia identifiziert. Erstens könne der poliberianische Staat die MA selbst nicht begründen, sondern müsse sie einfach voraussetzen (174). Ihm fehlt, so Bratu, ein starkes Argument, das erklärt warum die Poliberianerinnen die MA anerkennen sollten. Das zweite Problem, das Bratu in Poliberia sieht, ist, dass die Asymmetriethese unplausible Folgen hat. Bratu illustriert dieses Argument an zwei Beispielen: Weder dürfe in Poliberia eine allgemeine Schulpflicht noch eine verpflichtende Krankenversicherung eingeführt werden (181f.). Denn wenn man davon ausgeht, dass Fragen der Schul- und Krankenversicherungspflicht zu den Fragen über das gute Leben gehören, dann lassen sich weder die eine, noch die andere Maßnahme gegenüber allen Poliberianern rechtfertigen – denn es gibt ja gerechtfertigten Dissens über das Gute. Aufgrund dieser beiden Probleme sollten wir also auch die Migration nach Poliberia verwerfen.

Peliberia – das Land des perfektionistischen Liberalismus – hingegen lehnt die Asymmetriethese ab. Dieser Staat ist gewissermaßen der Mittelweg zwischen Perfekta und Poliberia. Peliberia beruht zwar auf einer moralischen Werteordnung, aber diese Ordnung besteht aus zwei Stufen: Der höherstufige Wert der Authentizität, der besagt, dass ein gutes Leben ein authentisches Leben ist, wird von allen Peliberierinnen anerkannt. Wie oben bereits erwähnt, bedeutet authentisch zu leben nach den eigenen Gründen zu handeln (70): Authentisch handelt diejenige, die das tut, was ihr selbst als richtig erscheint (69). Was einem selbst als richtig erscheint, hängt aber üblicherweise von den eigenen Plänen und Projekten, oder: der eigenen ‚Auffassung zum Selbstverhältnis‘, ab. Auf der darunterliegenden Stufe befinden sich sodann die verschiedenen Auffassungen zum Selbstverhältnis der einzelnen Bürger und Bürgerinnen, die als authentische Katholiken oder authentische Kantianerinnen ihr Leben führen.

Der Clou von Bratus Vorschlag ist, dass sie einen weitestgehend inhaltsoffenen und deshalb im Kern pluralistischen Perfektionismus vertritt. Zwar gibt es eine moralische Werteordnung, die der Staat mit seinen Mitteln durchsetzt, aber der Wert, der durchgesetzt wird, wird von den jeweiligen subjektiven Auffassungen des Guten gefüllt. Deshalb ist Bratus perfektionistischer Liberalismus genuin liberal. Auch wenn es keine allgemeingültige Auffassung darüber gibt, was ein gelingendes Leben bedeutet, so ist man sich in Peliberia doch einig, dass man ein gelingendes Leben führen sollte. Damit wäre Peliberia strenggenommen ein Staat, der eine comprehensive doctrine anwendet – nämlich die der Authentizität –, aber das sei nicht problematisch, da ja alle Bürger von Peliberia de facto anerkennen, dass ein authentisches Leben wertvoll ist (73, 188). Aus demselben Grund finden sie auch einen Staat gerechtfertigt, der Authentizität fördert. Der Vorteil einer solchen Konzeption scheint darin zu bestehen, dass das Gute und das Gerechte aus den gleichen authentizitätsbezogenen Gründen anerkannt wird (189). Der Unterschied zu Poliberia ist nach Bratu also, dass die Peliberierinnen sich nicht nur faktisch auf die MA einigen, sondern auch allgemein anerkannte Gründe dafür anführen können, deren Quelle die Überzeugung ist, dass es gut ist, authentisch zu leben.

Allerdings zwingt Peliberia seine Bürgerinnen nicht dazu, authentisch zu leben, sondern schafft lediglich die Bedingungen dafür, dass die Bürgerinnen in Peliberia authentisch leben können. Das umfasst nicht nur, dass Peliberier nicht daran gehindert werden, authentisch zu leben, sondern auch die Befähigung zu einem authentischen Leben. Anders als die Poliberianer können die Peliberier aus diesem Grund auch die oben schon genannte Krankenversicherungs- und Schulpflicht einführen (181), denn diese, so Bratus Argumentation, könnten als Bedingung für ein authentisches Leben aufgefasst werden.

Dieses Argument leuchtet allerdings nicht ganz ein. Können Menschen, die nicht krankenversichert sind oder nicht in der Schule waren, kein authentisches Leben führen? Wenn man, wie Bratu, annimmt, dass das Streben nach einem authentischen Leben darin begründet ist, dass Menschen ihr Leben als sinnhaft erleben wollen, dann müsste tatsächlich gezeigt werden, dass ein als sinnhaft empfundenes Leben ohne verpflichtende Krankenversicherung und Schulbildung nicht möglich ist. Das jedoch scheint überzogen – sicherlich gilt es zumindest nicht für alle Personen und kann somit keine allgemeine Pflicht sein. Genau dieses Problem wird letztlich auch auf alle anderen Maßnahmen, die Peliberia einführen wollen würde, zutreffen. So scheint also kaum etwas aus der Authentizitätsforderung zu folgen: Der Staat würde sich vor allem einfach aus den meisten Bereichen heraushalten.

Des Weiteren gibt es eine bessere Begründung für die Forderung nach einer allgemeinen Schul- und Krankenversicherungspflicht. Unsere Forderung nach einem allgemeinen Schulsystem ist doch eher dadurch motiviert, dass wir befürchten müssten, manche Kinder würden gegenüber anderen Kindern sowohl politisch als auch wirtschaftlich stark benachteiligt, wenn sie nicht zur Schule gehen könnten. Es ist also eher unsere Sorge um drohende Ungleichheit (der Chancen), die uns eine Schulpflicht als gerecht erscheinen lässt. Die Sorge um Gleichheit und Chancengleichheit steht meines Erachtens auch hinter der Krankenversicherungspflicht, obwohl sich zugegebenermaßen wohl darüber streiten lässt, ob die Krankenversicherungspflicht nun Teil einer Auffassung des Guten oder eine Bedingung solidarischen politischen Zusammenlebens ist. Bratus eigener Authentizitätsvorschlag – und damit auch ihr zweiter Einwand gegen den politischen Liberalismus – überzeugt also nicht: Erstens ist nicht klar, inwiefern eine verpflichtende Krankenversicherung oder die Schulpflicht eine notwendige Bedingung für ein authentisches Leben ist. Ebenfalls ist unklar, warum diese Maßnahmen in Poliberia ausgeschlossen wären; ich zumindest finde es intuitiv plausibel, dass eine allgemeine Schulpflicht ein Erfordernis politischer Gleichheit ist.

Politische Gleichheit ist das Stichwort, das mich zurück Bratus erstem Einwand gegen den politischen Liberalismus führt. Wie weiter oben dargestellt, argumentiert Bratu, dass die Poliberianer zwar akzeptieren würden, dass die MA gerechtfertigt ist, aber keine allgemein gültigen Gründe dafür angeben könnten. Anders als in Peliberia steht der authentizitätsbezogene theoretische Unterbau den Poliberianern ja nicht zur Verfügung. Die MA sei einfach faktisch Gegenstand eines overlapping consensus (174). Hier würden aber zumindest die ‚Rawlsianischen‘ Poliberianerinnen einwenden, dass diese Interpretation ihrer Legitimitätstheorie zu kurz greift. Die Poliberianerinnen haben nämlich sehr wohl einen substantiellen und allgemein teilbaren Grund, die MA anzuerkennen: Die MA gilt, weil alle Bürgerinnen und Bürger gleich und vernünftig sind. Es ist der Anspruch und die Forderung nach politischer Gleichheit, die die MA in politischer Hinsicht rechtfertigt und mitnichten ein zufälliger oder zirkulärer Konsens. Die politische Gerechtigkeitskonzeption der Poliberianer ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen comprehensive doctrines, sondern ein substantieller moralischer Konsens, der zeigt, dass trotz verschiedener Auffassungen über das Gute eine allgemein teilbare politische Konzeption möglich ist. Die Poliberianerinnen werden bei Nachfragen sagen, dass sie allgemein teilbare Gründe für die politische Konzeption haben, nämlich, dass alle Bürger gleich und frei sind, außerdem rational und vernünftig. Der overlapping consensus bezieht sich dann gewissermaßen auf zweiter Stufe auf die Gründe für die Annahme der Freiheit und Gleichheit. Es könnte also sein, dass wir uns als Gleiche verstehen, weil wir Darwinisten sind und sagen, dass wir alle das gleiche genetische Erbgut haben und deshalb gleich seien. Christen behaupten vielleicht, dass wir alle von Gott geschaffen wurden und deshalb gleich sind. Schließlich meinen Kantianerinnen vielleicht, dass wir alle mit Vernunft ausgestattet seien, und das erkläre unsere Gleichheit.

Demgegenüber sind alle Auffassungen unvernünftig, die die politische Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger ablehnen. Vernünftige Auffassungen sind nur die, die die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger akzeptieren, denn man kann für sich selbst nur das einfordern, was man auch anderen reziprok zugesteht. Hieraus erklärt sich die poliberianische Zweiteilung des Raumes der Gründe: Die Gründe, die sich auf die Vorstellungen des guten Lebens beziehen, sind tatsächlich Gründe über das Verhältnis zu sich selbst. Hingegen sind die Gründe, die sich auf die politische Herrschaft beziehen, Gründe über das Verhältnis zu anderen. Diese Gründe der zweiten Kategorie sind allgemein rechtfertigbar, auch wenn nicht alle sie de facto für richtig halten. Sehen die Bürgerinnen die Gründe für die politische Konzeption unvernünftigerweise nicht ein, darf der poliberianische Staat sie dazu zwingen, sich der politischen Konzeption zu fügen. Die MA und die Asymmetriethese sind also moralisch über den Gleichheits- und Reziprozitätsbegriff begründet.

Hier würde Bratu einwenden wollen, dass die Implikationen der Asymmetriethese nichtsdestotrotz unplausibel bleiben, denn selbst wenn es so wäre, dass Schul- und Krankenversicherungspflicht in Poliberia rechtfertigbar wären (als ein Gebot der politischen Gleichheit), dürfen andere politische Maßnahmen, die alle Bürgerinnen und Bürger einstimmig wollen, nicht durchgesetzt werden. Nehmen wir an, die Poliberianerinnen entschlössen sich einstimmig dazu, einen verpflichtenden Musikkurs einzuführen. Es scheint doch absurd, dass dieser unter solchen Umständen in Poliberia nicht eingeführt werden dürfe. Denn anders als die Peliberier setzen die Poliberianer einfach voraus, dass es über solche Fragen gerechtfertigten Dissens gibt. Aber nur in tatsächlich umstrittenen Fragen könne sich der Staat neutral verhalten. Das führt uns zu einem tiefergehenden Punkt, nämlich, dass man die Asymmetriethese „nicht a priori, in Unkenntnis der jeweiligen Gesellschaft akzeptieren sollte“ (244). Man könne also nicht voraussetzen, dass es in allen Fragen darüber, wie man leben soll, überhaupt Meinungsverschiedenheiten gebe. Hier aber würde eine Poliberianerin einwenden, dass die Asymmetriethese ja gerade eine Beschreibung einer bestimmten Art von Gesellschaft ist – nämlich einer liberalen Demokratie – und deshalb eben keine These, die in Unkenntnis der Gesellschaft akzeptiert wird. Vielmehr wird sie gerade aufgrund der Kenntnis der zu theoretisierenden Gesellschaften akzeptiert. Das poliberianische Modell ist spezifisch für Gesellschaften mit freiheitlichen und demokratischen Institutionen entworfen, denn unter den Bedingungen der dauerhaften Freiheit werden sich diese Meinungsverschiedenheiten unweigerlich und realistischerweise entwickeln. Mit anderen Worten: bei einer faktischen Übereinstimmung in Sachen des guten Lebens würden die Poliberianerinnen vermuten, dass repressive und ideologische Institutionen am Werk sind.

Des Weiteren kauft man sich mit der Ablehnung der Trennung im Raum der Gründe womöglich ein fatales Problem ein. Lassen wir uns nochmal von Bratu vor Augen führen, was die peliberische Legitimitätstheorie kennzeichnet:

Zudem wird in Peliberia der mögliche Handlungsspielraum des Staates nicht von vorneherein durch anspruchsvolle Vorannahmen dazu beschnitten, wozu sich die Bürgerschaft in gerechtfertigtem Dissens befindet. Stattdessen muss jede staatliche Handlung an die Gründe der Bürgerschaft zurückgebunden werden, und in Fällen, wo dies nicht offensichtlich erfüllt ist, muss man dies durch eine allgemeine Diskussion sicherstellen. (211)

An anderer Stelle erläutert sie, dass der perfektionistische Liberalismus „bestreitet […], dass es zur Frage des richtigen Selbstverhältnisses keinen gerechtfertigten Konsens gibt“ (199). Hier kommt es tatsächlich darauf an, wie stark das Authentizitätsargument zu verstehen ist, aber wenn Bratu mit demselben eine Krankenversicherungspflicht begründen möchte, könnte es dann nicht auch – wohlgemerkt: nur nach gesellschaftlicher Diskussion und bei anschließender Übereinstimmung – beispielsweise die Aushebelung des politischen Gleichheitsgrundsatzes nach sich ziehen? Wenn sich alle einig wären, dass ein authentisches Leben für Mütter eines ist, in dem sie sich ausschließlich dem Aufziehen der Kinder und niemals der Politik widmen, wäre eine Regel, die Müttern politische Ämter versagt, nicht gerechtfertigt? Die Grenzen legitimen staatlichen Handelns sind ja in Peliberia nicht grundsätzlich festgelegt, weshalb eine solche Art von Handlung auch nicht im Voraus ausgeschlossen sein kann. Wenn dieses Problem zutrifft (und ich bin mir nicht ganz sicher, ob es das tut), dann wäre das zwar kein Grund für eine theoretische Zurückweisung des Authentizitätsargumentes, aber wir müssten uns fragen, ob hier nicht ein grundlegender Aspekt des Liberalismus verloren geht, nämlich der Aspekt der politischen Gleichheit. Wie wir oben gesehen haben, hat die poliberianische Legitimitätstheorie dieses Problem nicht, denn eine solche Auffassung wäre, auch wenn sie allgemein geteilt würde, unvernünftig und somit nicht rechtfertigbar. Das scheint mir auch der entscheidende Unterschied zu sein, der Rawls’ Poliberia und Bratus Peliberia systematisch trennt: Während sich Peliberias politische Handlungen rechtfertigend auf das Selbstverhältnis von Personen stützt, bezieht sich Poliberias politisches Handeln auf das reziproke Verhältnis zwischen freien und gleichen Personen.

Abschließend bleibt mir zu sagen, dass Bratus Buch besonders durch Klarheit und Scharfsinnigkeit besticht. Meines Erachtens zeigen die vorgebrachten Kritikpunkte, dass die von ihr vorgelegte Argumentation die Debatte um die legitimen Grenzen staatlicher Handlungen und das Wesen der staatlichen Neutralität auf eine faszinierend analytische Weise aufbereitet, und dabei eindrucksvoll um einen eigenen Vorschlag erweitert.

© 2017 Zeitschrift für philosophische Literatur, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE